In einer der größten Präsentationen zeitgenössischer Kunst, der NordArt, geht Anna Luis Klafs gesellschaftlichen, persönlichen und theologischen Entdeckungen nach.
„Ein Ankerplatz in schwierigen Zeiten“ – das ist die NordArt für Chefkurator Wolfgang Gramm. Seit 25 Jahren gestaltet er gemeinsam mit seinem Team und Gastgeberehepaar Ahlmann eine der größten europäischen Ausstellungen zeitgenössischer Kunst in Europa. Für ihn ist diese große Kunstschau auch deshalb wichtig, weil sie durch den Spiegel hochkarätiger Kunst ein allzu menschliches Bedürfnis aufgreift: In aller Düsterkeit zu träumen.
Raum gibt es dazu auf dem ehemaligen Industriegelände „Eisengießerei Carlshütte“ nördlich von Hamburg allemal: Auf gut 100.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche zeigen 200 ausgewählte Künstler*innen aus aller Welt ihre Arbeiten. Für Ausstellende wie Besuchende bedeutet das genug Platz zum Atmen, Flanieren und Wirken-Lassen. Seit einem Vierteljahrhundert bereits lädt die NordArt Künstler*innen ein, das weitläufige Gelände zu bespielen. Im diesjährigen Jubiläumsjahr sind neben dem Schwerpunkt auf zeitgenössischer ostasiatischer Kunst auch Kunstwerke der Preisträger*innen vergangener Jahre zu sehen.
Künstlerische Autonomie
Dabei scheint der Freiraum des Geländes mit der bunten Themenvielfalt kongruent zu gehen: Ob im Skulpturenpark oder im Labyrinth der alten Gießerei, ob aus Tschechien oder der Mongolei, die Bandbreite der Themen ist unerschöpflich. Sie reicht von politischen Auseinandersetzungen wie Giles T Lacombes Installation „Hier ruht der Krieg R.I.P“ über anthropologische Fragestellungen wie in XIAO Jins Gemäldeserie „NacktWelt“ und kunsthistorische Reminiszenzen wie Alexander Taratynovs Übersetzung von Rembrandts Nachtwache ins Dreidimensionale, der „Nachtwache (nach Rembrandt)“. Die Auflistung ließe sich beliebig weiterführen.
Schier unüberschaubare Themen scheinen aufeinanderzuprallen und sich in Frage zu stellen. Zu viel? Zu weitläufig? Zu heterogen? Nein, im Gegenteil. Ist in den letzten Jahren immer wieder von der Verzweckung von Kunst, von dem Zeitalter postautonomer Kunst zu hören, die mit Aktivismus und Moral liebäugelt, so lässt sich an der NordArt das Gegenteil studieren: Hier entfaltet sich vor dem Auge der Besucherin ein Feuerwerk an künstlerischer Autonomie, die sich an ästhetischen Maßstäben messen lässt. Dabei kann politisches Statement intendiert sein, muss es aber nicht. Es scheint, als sei das höchste Feiern des Ästhetischen in aller Freiheit des künstlerischen Sujets der leise, aber unüberhörbare Grundton der Ausstellung.
Und dabei entsteht keineswegs Beliebigkeit oder Banalität: Wenn z.B. der dänische Künstler Esben Fog in seinem „Piranesi Gefängnis“ die Architekturphantasie eines ruinösen Tonnengewölbes erschafft, in der zahlreiche nackte Menschen miteinander interagieren, bebildert er gleichsam den Sisyphos Mythos neu: Da gibt es den Mann, der einen überdimensionalen Goldring durch ein schmales Tor zu schieben versucht und auf der anderen Torseite genervt von seiner Braut erwartet wird. Da gibt es wenige Stufen höher das Kamel, das bockig vor einem Nadelöhr steht und sich partout nicht hindurchziehen lässt. Da gibt es den Seiltänzer mit der Erdkugel auf dem Finger, die Weinkelter oder den Jungbrunnen. Winzige Miniaturszenen in dieser an M. C. Escher erinnernden Umgebung ergeben eine ebenso düstere wie absurd komische Komposition. Albert Camus hätte seine wahre Freude daran!
Neben der wilden Zitationsfreude eines Esben Fogs nähert sich der international gefeierte Tscheche David Černý in seiner Serie „Kits“ durch Dekonstruktion seinen Objekten: Die Körperteile weltbekannter Idole – Adam, Jesus und Rockstar – hängen überlebensgroß als Bausätze in großen Tüten an der Wand. Mit diesen Plastikbausätzen kann jede und jeder kreativ den ganz persönlichen Held zusammenbauen und dabei beliebig auch mal das Feigenblatt oder das Mikrophon weglassen. Infantilisierung und Dekonstruktion bilden die Grundlage für die stets aktuelle Gesellschaftskritik an ikonischer Effekthascherei.
Wie lässt sich ein Heiligenschein darstellen? Dieser Frage geht der chinesische Künstler YANG Song nach und entwickelt in seiner Arbeit „Halo“ eine höchst diffizile Antwort, die mit physikalischen Mitteln spielt: Der Künstler hat dazu feinste Edelstahldrähte auf ein dreiflügeliges Stahlgerüst gespannt, die mit Hilfe von rotierenden Scheinwerfern angestrahlt werden. Dabei entstehen Lichteffekte, die einem Strahlenkranz ähneln und sich behänd durch den Raum bewegen. Einstein´scher Physik folgend entwirft YANG Song ein fünfdimensionales Werk, in dem Raum, Zeit und Bewegung eine oszillierende Einheit eingehen. Die Gloriole, die in vielen Kulturen Menschen mit besonderer Begabung versinnbildlicht und hier direkt im Eingangsbereich der NordArt steht, erleuchtet so wie von selbst neugierige Betrachter:innen.
Die Litauische Künstlerin Meda Norbutaitė begibt sich ebenfalls auf die Suche: Auf die Suche nach idealtypischen Bildern der Kunstgeschichte und den in ihnen vorausgesetzten Machtverhältnissen. Warum gelten bestimmte Bilder und damit Fakten zum kollektiven Unbewussten, andere nicht? Wer bestimmt, welche Bilder als kanonisch, welche als Fake News gelten? Meda Norbutaitė entwirft in den vier gezeigten Arbeiten Gegenmodelle zu „klassischen“ Ikonografien und stellt so die dahinterstehenden Machtverhältnisse in Frage. Ein gaukelnder Johannes der Täufer zwischen roten Schafen und blauen Schweinen, ein Füllen mit einem falschherum sitzenden Jesus, eine Aphrodite mit rosa Plüschdrachen. Die Ölstudien setzen da an, wo gute Erzählungen ansetzen: Sie hinterfragen, spitzen zu, rütteln an allzu Festgesetztem und öffnen Vorgegebenes.
Die Möglichkeit,
ins Offene zu locken
Die diesjährige NordArt wartet mit viel Niveau auf: Die Preisträger*innen der letzten Jahre, die Sonderprojekte von Willy Reiche und Paul Critchley, die Partnerschaft mit China und der Mongolei. Und sie bietet mit ihrem großen Tableau an Themen und der Lust an Materialitäten einen sinnlichen Kontrapunkt zu einer politisch bisweilen aufgeheizten Kunstszene, in der aktuelle Statements ästhetische Fragen in den Hintergrund drängen. So ist es eine Freude, im kleinen Büdelsdorf einfach dem zu frönen, was Kunst und vielleicht nur Kunst vermag: Einen Horizont aufzumachen und der inneren Freiheit Raum zu geben. In Zeiten der Polarisierung von Gesellschaften kann Kunst sicher den je eigenen Teil zur Positionierung leisten, sie kann aber noch viel mehr. Sie hat die Möglichkeit, ins Offene zu locken, ins Menschliche allzu Menschliche, sie kann unser Innerstes bewegen und in Frage stellen, woran ich bisher glaubte. Sie kann dies ohne Moralkeule oder Aktionismus, manchmal still und intim, aus sich selbst heraus und manchmal sogar mit der Potentialität zum Träumen und Hoffen. Die Theologin in mir möchte hinzufügen: So wie gute Theologie auch.
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