Die Kolumne für die kommenden Tage 59
In diesen Tagen fallen die Ausgangsbeschränkungen und der lock-down wird zum open-up. #stayhome weicht der üblichen Abstandsregel. Auch feinschwarz.net beendet morgen die nachmittägliche Kolumne. Alles wieder normal? Natürlich nicht! Die gegenwärtige Situation bleibt in vielerlei Hinsicht ein besonderer Zustand. Ein persönlicher Ausblick.
1. Weiter zu Hause – die Kinder
Zunächst ist es einfach erstaunlich, wie Bundes- und Landesregierungen in Deutschland so weitreichende Öffnungen bis in Gastronomie und Hotelgewerbe hinein verkünden können, und gleichzeitig so wenig zum Zeitplan und zum Konzept von Schul- und Kitaöffnungen zu sagen haben, als ob das eine nichts mit dem anderen zu tun hätte. „Das dauert“ – so die Kanzlerin. Die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz hat am Dienstag erklärt, dass Lehrer*innen (!) sich auf weitere Fernlehre im neuen Schuljahr einstellen müssten. Immer noch warte ich auf den Moment, wo ein Ministerpräsident uns Eltern erklärt, wie das gehen soll über die nächsten Wochen und Monate.
Keiner erklärt, wie das gehen soll.
Der Wiederbeginn der Grundschule meines größeren Sohnes umfasst ab Montag pro Woche zwei Vormittage. Mit einer Betreuung, die eine Berufstätigkeit ermöglicht, hat das nichts zu tun. In meiner neuen Hochschule, der Leipziger Universität, sind nach den sächsischen Regelungen zur kontinuierlichen Notbetreuung Lehrende ausgenommen, die digitale Lehre anbieten, also eigentlich fast alle. Weil man digitale Lehre parallel zu HomeSchooling und Kleinkindbetreuung leisten kann? Ein ganzes Semester lang?
Je länger diese Krise andauert, desto erschütterter bin ich, wie wenig Problembewusstsein, Kreativität, Geld und politischer Wille für die Belange von Kindern und Familien vorhanden ist. Und Gleichstellung erweist sich einmal mehr besonders als eine Frage der Vereinbarkeit mit Familie. Darüber ist in den letzten Wochen zunehmend mehr geschrieben worden – und dennoch gibt es noch immer keine wegweisenden Lösungsansätze aus der Politik.
Die Nacht zum Tag gemacht.
Mir geht es verhältnismäßig gut, mit einer Projektstelle finanziert von der DFG, die schon Kulanz angekündigt hat, ohne Lehre, mit einer guten Nachbarschaftshilfe, in partnerschaftlicher Arbeitsteilung. Aber schon für mich ist diese Zeit emotional anstrengend und kräftezehrend, zum vertieften Lesen und Schreiben komme ich seit Wochen kaum. Wie es Eltern geht, die seit Wochen die Nacht zum Tag machen, weil es anders nicht geht, oder die ihre Stelle verlieren, weil sie keinen Betreuungsanspruch und keine Alternative haben, kann ich kaum ermessen. Und das ist nur die Seite der Eltern…
2. Kreativ unterwegs – die Kirchen
Am Sonntag waren nun in Deutschland an vielen Orten wieder Gottesdienste in den Kirchen. Nicht überall, manche Gemeinden haben sich bewusst entschieden, einstweilen weiter digital zu feiern, um möglichst vielen ein Mitfeiern zu ermöglichen. In der EKD macht man sich Gedanken über hybride Gottesdienste – in Präsenz und digital in Kombination. Auch nach den Lockerungen entstehen vielerorts kreative neue Formate, Kurzandachten, wie der Bäckerwagen wandernde geistliche Angebote, Gottesdienst in Stationen, Briefe und Botschaften OnLein vor der Kirche, Mitsing-Angebote von Kantor*innen im Netz. Der Gottesdienst zeitgleich am Küchentisch, mit dem ich zauberhafte Erinnerungen aus den Ostertagen verbinde, wird fortgesetzt. Neben den Stream-Gottesdienst tritt der Zoom-Gottesdienst. Welche Botschaften aus Kreide an Pfingsten wohl die Straßen zieren?
Neben den Stream-Gottesdienst tritt der Zoom-Gottesdienst
Hier bewegt mich eher die Neugier. Nach anstrengenden Diskussionen um Gottesdienstausstieg und -einstieg, um Abendmahl und Gesang scheint jetzt die Zeit der pragmatischen Gestaltung vor Ort anzubrechen.
Viele andere Bereiche kirchlichen Handelns bleiben noch viel stärker jenseits der Normalität. Auf längere Zeit werden gemeinsame Fahrten nur schwer möglich sein, ebenso vermutlich der gemeinsame Kaffee im Senior*innenkreis. Viele diakonische Angebote stehen weiter vor großen Problemen, Lebensmittelausgaben sind vielerorts noch geschlossen. Hoffentlich werden die Schwierigkeiten und die kreativen Lösungen in all den anderen Handlungsfeldern noch ein bisschen sichtbarer in den kommenden Monaten!
3. In unseren Körpern – das Virus in der alltäglichen Handlungspraxis
Nach einigen Wochen im Distanzmodus bin ich gelegentlich zusammengezuckt, wenn ich Videos aus anderen Tagen gesehen habe, in denen Menschen ganz nah beisammen standen. Ein neuer Reflex hat sich eingebürgert und er ist verbunden mit einer generellen Unsicherheit: Wie nah komme ich dem Menschen, dem ich begegne, im Supermarkt, auf der Straße, in der Kirche? Was ist mein Bedürfnis an Distanz? Was möchte die andere Person? Man schleicht sich aneinander an und umeinander herum.
Man schleicht sich aneinander an und umeinander herum.
Verbunden mit dieser Unsicherheit ist der unbewusst kontrollierende Blick, der sich zu anderen ins Verhältnis setzt: Wie verhalten die sich? Sieht man noch im Straßenbild, dass es Abstandsregeln und Kontaktbeschränkungen gibt? Was bedeutet das, wenn dieser Eindruck so gar nicht mehr vorhanden ist, alles wie früher aussieht plötzlich? Was halte ich davon, welche Gefühle kommen da bei mir auf? Ich erlebe es als eine generelle Verunsicherung des Alltagsverhaltens, eingespielter Routinen. Es ist erstaunlich, wie schnell sich neue Verhaltensweisen eingebürgert haben, manchmal habe ich aber den Eindruck, sie verschwinden ebenso schnell und lassen mich emotional überfordert zurück.
Ich möchte andere Menschen nicht so wahrnehmen – als potentielle Gefahr. Ich möchte nicht, dass dieses Virus in den schlichtesten Lebenssituationen präsent ist, meinen Alltag „durchseucht“! Es widert mich an, dass es dadurch so viel Macht bekommt. Aber jede Normalität, wie man sie auf gewissen Demonstrationen und den wieder beginnenden Parties im Park besichtigen kann, bleibt eben gefährlich.
Differenzierung der Lebenswelten – auch in den letzten Wochen schon
So gehe ich aus diesen Wochen des Lockdowns – mit Ärger, mit Neugier, mit Unsicherheit und Abscheu. Und Sie? Mit welchen Gefühlen gehen Sie den Öffnungen entgegen? Welche Themen beschäftigen Sie? Was wird „normal“, was noch lange nicht? Nach der scheinbar kollektiven Erfahrung des Wegs in den Lockdown hinein ist die Differenzierung der Lebenswelten aktuell unübersehbar. Doch auch die letzten Wochen haben wir eben nur scheinbar im selben Boot gesessen. Erst im Austausch der Geschichten wird ein vollständigeres Bild dieser Krise sichtbar.
Zur Bewältigung von Krisen gehört das Erzählen.
Mir scheint der 15. März Ewigkeiten her – der Sonntag, an dem ich nach sich überschlagenden neuen Einschränkungen gerade noch einen halbwegs „normalen“ Gottesdienst gestaltet habe. Zur Bewältigung von Krisen gehört das Erzählen – das Erinnern an gute Strategien und hilfreiche Erlebnisse. Vielleicht ist es ganz gut, dass Großveranstaltungen noch eine Weile ausfallen – dann bleibt hoffentlich mehr Raum für den Austausch über das, was war, und das, was ist.
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Dr. Kerstin Menzel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Praktische Theologie der Universität Leipzig im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe „Sakralraumtransformation. Funktion und Nutzung religiöser Orte in Deutschland“ und Mitglied der Feinschwarz-Redaktion.
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