Die Konzilserklärung „Nostra aetate“ hat die Haltung der Katholischen Kirche zu anderen Religionen grundlegend verändert. Ulrike Bechmann liest die Erklärung neu im Kontext ihrer Entstehung und denkt sie weiter mit Blick auf den gegenwärtigen Dialog der Religionen.
50 Jahre Nostra aetate ist ein Grund, diese Konzilserklärung zu feiern, sie erneut in Erinnerung zu bringen, zurückzuschauen, aber auch, sie auf den gegenwärtigen Kontext hin zu interpretieren und weiterzudenken. Denn das 50jährige Jubiläum wirft ein neues Licht auf die Erklärung, schließlich hat sich der politische wie der theologische Kontext ungewöhnlich stark gewandelt – und der „Akt des Lesens“ (Iser) sich damit auch. Nostra aetate beginnt mit den heute Lesenden einen neuen Dialog. Nostra aetate hat in ihrer Bedeutsamkeit etwas Zeitloses an sich, war bahnbrechend in ihrer Entstehung und könnte heute eine sehr wichtige Rolle spielen, wenn sie aktualisiert und implementiert wird.
1. Die Entstehung von Nostra aetate
Damals, in ihrer Entstehungszeit, war die Erklärung unendlich wertvoll aufgrund des politischen Kontextes. Die Erfahrung zweier Weltkriege mit einer ungeheuerlichen Dimension an Zerstörung und Gewalt von und durch Menschen lag hinter Europa. Insbesondere die systematische Verfolgung und Zerstörung der europäischen jüdischen Existenz und Kultur ließ die Rückfrage nach den Wurzeln des Antisemitismus auch für die Kirche nicht ohne Konsequenzen. Die oft gewaltbeladene Geschichte der Kirche gegenüber der jüdischen Bevölkerung, und die theologischen Wurzeln des christlichen Antijudaismus entwickelten sich angesichts der Shoah zu einer fast untragbaren Bürde. Bemühungen von einigen Persönlichkeiten aus dem Judentum und von engagierten KatholikInnen mündeten bei Papst Johannes XXIII., der schon im ersten Jahr seines Pontifikates die Karfreitagsbitte gegen die „perfiden“ Juden hatte ändern lassen, zum ausdrücklichen Wunsch nach einer Erklärung zur Haltung zum Judentum.
Rückfrage nach den Wurzeln des Antisemitismus
Doch der erste Entwurf einer Erklärung zum Judentum geriet in einen Sog politischer wie theologischer Diskussionen im Kontext der Zeit. Die mit der Staatsgründung Israels einhergehenden dauerhaften Vertreibungen der palästinensischen Bevölkerung und die weiteren Umwälzungen des Nahen Ostens trafen auch die arabischen Christen und Christinnen und ließen die Bischöfe der Kirchen des Nahen Ostens protestierten: Eine Erklärung nur zum Judentum könne als Billigung der Staatsgründung Israels einschließlich all ihren Folgen aufgefasst werden – der Vatikan hatte Israel damals noch nicht anerkannt. Zudem ignoriere eine solche Erklärung das seit Jahrhunderten gemeisterte Zusammenleben mit Muslimen, was den Kontext der arabischen ChristInnen präge und für sie sehr wichtig sei. Insofern gehöre zu einer Konzilserklärung auch eine Stellungnahme zum Islam. Ein ähnliches Votum kam von den Bischöfen aus asiatischen und afrikanischen Ländern, die als Minderheit in und mit asiatischen wie afrikanischen Religionstraditionen lebten.
Auch Asien wie Afrika erlebten große politische Umbrüche. Die Kolonialherrschaft ging gerade in vielen Ländern zu Ende und selbständige Bischofskonferenzen bildeten sich, die eine andere und neue Perspektive in das Konzil einbrachten. Wenn es erstmals eine Erklärung zur Haltung zu anderen Religionen gebe, dann könne diese nicht nur vom westlich geprägten Kontext geprägt sein, sondern müsse die Kirche in allen Weltgegenden berücksichtigen. Das „Katholische“ als das „Umfassende“ wurde eingefordert. So kam es, dass man schließlich Islam, Buddhismus, Hinduismus und weitere Religionen einbezog. Als „Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“ wurde Nostra Aetate am 28. Oktober 1965 angenommen. Die darin eingenommene Haltung der Kirche wurde als neu und inhaltlich revolutionär rezipiert.
2. Das theologisch Neue an der Haltung der Katholischen Kirche zu anderen Religionen in Nostra Aetate
Was ist neu und revolutionär? Nostra aetate ist mit fünf Abschnitten die vom Umfang her kürzeste Erklärung des Zweiten Vatikanums. Angesichts der Bedeutsamkeit einer weltweiten Perspektive auf Religionen mag man sich fragen, ob das Konzil nicht damals schon hätte mehr sagen können. Aber die heutige Sicht verdeckt, wie groß der Schritt damals war. Es war die erste derartige Erklärung eines Konzils in 2000 Jahren katholischer Kirchengeschichte, der deshalb und wegen ihrer zukunftsweisenden Wirkungsgeschichte ein herausragender Rang zukommt. Herausragend ist, dass die Erklärung ein Handeln impliziert. Denn auch wenn in der offiziellen deutschen Fassung steht: „Erklärung über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen“, so heißt es im Lateinischen habitudine, Haltung. Ein Verhältnis wird beschrieben, eine Erklärung zur Haltung aber erfordert entsprechendes Handeln.
„Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet…“ (NA 2)
2.1. Entgrenzung des Wahrheitsbegriffs
„Die katholische Kirche lehnt nichts von alledem ab, was in diesen Religionen wahr und heilig ist. Mit aufrichtigem Ernst betrachtet sie jene Handlungs- und Lebensweisen, jene Vorschriften und Lehren, die zwar in manchem von dem abweichen, was sie selber für wahr hält und lehrt, doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet…“ (NA 2) Dieser „Strahl der Wahrheit, der alle Menschen erleuchtet“ öffnet die Wahrheitsfrage. Für andere Religionen, ohne die eigene Wahrheit aufzugeben. Aber – und das gibt es natürlich auch in anderen Konzilserklärungen -, die Wahrheitsfrage wird nicht mehr exklusiv mit der Institutions- und Glaubensfrage verknüpft. Die Heilsgrenzen sind nicht identisch mit den Glaubensgrenzen. Und Wahrheit findet sich auch anderswo, denn aufbauend auf der Schöpfungstheologie, haben alle Menschen ihr Ziel und ihren Ursprung in Gott (NA 1), und die Religionen sind die Versuche einer Antwort auf diese Suche.
Deshalb verwirft die Kirche nichts, was in anderen Religionen wahr und gut ist, was aber nur im Dialog erkannt werden kann. Die Kirche nimmt deshalb eine dialogisch-verstehende Haltung ein und respektiert die Freiheit der anderen, ohne das eigene christologische Zeugnis aufzugeben. Nostra aetate erkennt damit die Pluralität der Religionen als Teil des göttlichen Heilsplans (NA 2). Gottes- und Nächstenliebe zeigt sich als Haltung der Anerkennung und der Liebe für alle Menschen. Bei anderen Religionen „die geistlichen und sittlichen Güter anzuerkennen und zu fördern“ (NA 2), wird als Auftrag der Kirche zur Proexistenz verstanden; anderen zur Förderung ihrer Identität zu verhelfen.
„Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, …“ (NA 1)
Die Grundreferenz von Nostra aetate liegt bei der Schöpfungstheologie, von der her die Erklärung einen universalen Ansatz gewinnt. In NA 1 definiert sie die Aufgabe der Kirche nicht mehr binnenkirchlich, sondern auf alle Menschen hin: „Gemäß ihrer Aufgabe, Einheit und Liebe unter den Menschen und damit auch unter den Völkern zu fördern, …“ Und dieses Ziel verpflichtet sie, das mit allen Gemeinsame und das die Gemeinschaft Fördernde zu suchen.
2.2. Die neue Bibelhermeneutik
Neu ist auch die bisher zu wenig beachtete Bibelhermeneutik, mit der Nostra aetate theologisch neue Räume betritt. An einem Beispiel sei gezeigt, dass Bibelzitate, mit denen bisher die Exklusivität des christlichen Glaubens belegt wird, neu gedeutet werden. Die Grundlage des Glaubens, die Heilige Schrift, wird zur Kronzeugin der Theologie von Nostra aetate. Dies geschieht nun aber nicht dadurch, dass man sich passende Bibelstellen sucht und sie zitiert. Nostra aetate geht vielmehr sozusagen in die Höhle des Löwen. Man weicht also nicht auf andere Bibelstellen aus, denn dann stünde einfach Bibel gegen Bibel, und es bliebe jedem und jeder überlassen, sich die zur eigenen Meinung passende Theologie zu wählen.
Nostra aetate baut ihre Theologie ausgerechnet auf dem Zitat auf, das prominent für eine exklusive Heilszusage für Christen und Christinnen steht, nämlich Joh 14,6: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. Niemand kommt zum Vater außer durch mich.“ Was das Festhalten an Christus aber im Angesicht der anderen Religionen heißt interpretiert Nostra aetate jetzt so:
„Unablässig aber verkündet sie und muss sie verkündigen Christus, der ist ‚der Weg, die Wahrheit und das Leben‘ (Joh 14,6), in dem die Menschen die Fülle des religiösen Lebens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat.“ (NA 2)
Wer immer in Zukunft Johannes 14,6 zitiert, um die Einzigkeit des christlichen Glaubens als Weg zum Heil zu begründen, soll durch das Konzil eine neue – oder besser auch alt-christliche Sichtweise – an die Hand bekommen. Die theologische Argumentation kann man nachverfolgen. Das Konzil nimmt die radikale johanneische Aussage ernst, dass Christus der alleinige Weg zur Fülle des Heils ist. Aber: Die Exegese zeigte, dass die Redaktion des Johannesevangeliums auf eine innergemeindliche Spaltung reagierte. Die scharfen Trennungen bei Johannes richten sich nicht gegen Nichtchristen, sondern nach innen, an andere Christus-Bekennende. Ganz in der antiken Tradition, dass Vater und Sohn gleich seien, insistiert das Johannesevangelium darauf, dass Jesus als Logos (Wort Gottes) bei und von Gott ist. Wenn also das Johannesevangelium selbst mit dem ersten Satz im Prolog keinen Unterschied zulässt zwischen Jesus und Gott und die Herkunft Jesu aus Gott festhält (Joh 1,1), dann kann Jesus folglich nicht anders heilswirksam sein als Gott selbst.
Das Konzil überträgt jetzt die schöpfungstheologischen Aussagen über das Verhältnis von Gott und Mensch auf Jesus und die Menschen. In ihm finden alle Menschen die Fülle religiösen (nicht: christlichen!) Lebens. Da Gott alles mit sich versöhnt hat, gilt das auch für Christus. Das Christusereignis interpretiert das Konzil nun nicht mehr im Streit um die binnenchristliche Spaltung, sondern im Licht der Schöpfungstheologie. Jesus trennt also nicht Menschen von Gott, sondern versöhnt sie mit Gott. Diese Versöhnung geht aber nicht von den Menschen aus (also auch nicht von der Kirche), sondern von Gott selbst. Die Christologie gewinnt so eine universale Basis.
Das Christusereignis interpretiert das Konzil nun nicht mehr im Streit um die binnenchristliche Spaltung, sondern im Licht der Schöpfungstheologie.
Aus der Erfahrung eigener, jahrhundertelang ausgrenzender Bibellektüre, vermittelt Nostra aetate eine Art des Bibellesens, aus der heraus Ressourcen für Gewaltfreiheit, Solidarität, die Überwindung sozialer Unterschiede, für Gerechtigkeit und Gastfreundschaft gewonnen werden können (NA 5). Pluralitätsfähigkeit und Proexistenz gehören also zusammen. Das bekräftigt das Schlusskapitel (NA 5): „Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche Haltung verweigern. Das Verhalten des Menschen zu Gott dem Vater und sein Verhalten zu den Menschenbrüdern stehen in so engem Zusammenhang, dass die Schrift sagt: ‚Wer nicht liebt, kennt Gott nicht‘ (1 Joh 4,8)“.
Dass Nostra aetate diesen Zusammenhang anhand der johanneischen Theologie ausführt, ist genial. Es entkräftet dadurch eine wörtlich-missverständliche Interpretation, die Johannes nicht mehr im Kontext seiner Gemeinde, sondern absolut liest; und die gleichzeitig die unzähligen dominanten biblischen Traditionen außer Acht lässt, die die universale, entgrenzende und sich für andere öffnende Theologie vertreten. Diese Haltung impliziert eine Pragmatik des Dialogs. Sie spricht Menschen mit ihren anderen religiösen Überzeugungen Wahrheit zu. Sie nimmt eine Entgrenzung der Heilsgrenzen vor und bindet die Förderung der je Anderen und die Bewahrheitung der Gottesliebe an die Nächstenliebe, und das alles ist nicht aus politischen, sondern aus inneren theologischen Quellen begründet. Damit stellt sich die Frage, was aus dieser theologischen Erklärung an konkreter Praxis eines neuen Miteinanders gefolgt ist.
2.3. Gemeinsamkeit: Der konziliare Zugang zu anderen Religionen
Das Zweite Vatikanische Konzil nähert sich in Nostra aetate den je anderen Religionen, indem die Erklärung die Gemeinsamkeiten mit den Religionen beschreibt und heraushebt. Das Erschrecken über die gewaltsamen Konflikte der Gegenwart und die tiefe Sehnsucht nach Verständigung und Frieden erklären diesen Ansatz und seine Breitenwirkung, der auf eine gemeinsame und friedliche Gestaltung der Welt zielt. Abraham steht dabei exemplarisch für die Grundannahme, dass eine Beziehung oder Kommunikation zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen gelinge, je mehr man an Gemeinsamkeiten entdeckt, diese ins Bewusstsein hebt und dadurch von Anderen mehr versteht. Und aus dieser entdeckten Gemeinsamkeit, so die Hoffnung, resultiere die gegenseitige Akzeptanz, die zum Frieden führt.
Das Gemeinsamkeits-Paradigma wird plausibel aufgrund der ethischen und theologischen Option zugunsten des Dialogs.
Die Differenzen, die es allerdings in den Abraham-Narrativen der Religionen gibt und die auch sonst die differenten Identitäten von Religionen ausmachen, werden zwar angedeutet, aber aufgrund des gemeinsamen Ursprungs für überwindbar gehalten. Das Gemeinsamkeits-Paradigma wird plausibel aufgrund der ethischen und theologischen Option zugunsten des Dialogs.
Dieser Gemeinsamkeits-Ansatz ist von bestimmten Kreisen in der Kirche nie akzeptiert worden, er wird heute auch aus dem Bereich der Dialog-Arbeit kritisiert. Dennoch gilt es ihn kontextuell zu würdigen. Intentional ist dieses Konzept von Nostra Aetate bis zu den heutigen Institutionalisierungen der „großen“ Ökumene von dem Willen auf Anerkennung und der Absicht, Gemeinsamkeiten zu finden, getragen. In einem Kontext der Nachkriegszeit, wo das Trennende als Krieg und Vernichtung noch vor Augen stand, und in einer kirchlichen Situation, wo bisher das Trennende und die Superiorität im Heilsereignis behauptet wurde, diesen Ansatz zu wagen, war ein riesiger Schritt auf andere Menschen zu und eine Erneuerung der Theologie, wie sie auch sonst im Zweiten Vatikanum weitergeführt worden ist.
3. Die Differenz als verbindendes Paradigma im neuen Kontext
50 Jahre und viele unterschiedliche Dialogerfahrungen auf allen Ebenen später erleben wir einen Kontext, in dem die Differenz den Vorrang bekommt. Dass die Gemeinsamkeit nicht hinreichend ist, sondern die Differenz schließlich das je identitätsstiftende Element jenseits des Gemeinsamen ist, tritt in den Vordergrund. Identität ist das Schlagwort der Gegenwart und die Verteidigung dieser Identität – die natürlich nie etwas Starres ist, aber als gefährdet erlebt wird und folglich festgehalten werden soll.
Identität und die damit notwendige Differenz stehen zunehmend im Vordergrund. Dies kann eigentlich kaum überraschen, denn die Globalisierung vieler Lebensbereiche, die wirtschaftliche, kulturelle und mediale Vernetzung und die sogenannte neue Unübersichtlichkeit werfen die einzelnen auf sich selbst zurück, wenn es um Identität geht, die letztlich auf einer Distinktion zu anderen beruht. Dies gilt individuell, dies gilt auch für Gruppenidentitäten. Wo aber keine positive identitätsstarke Identitätsbildung im Kontext von Pluralität möglich ist, nehmen Fundamentalisierungen überhand. Hier geschieht Identitätsbehauptung ohne die Möglichkeit, Alternativentwürfe zum eigenen Entwurf zu ertragen.
Identität und die damit notwendige Differenz stehen zunehmend im Vordergrund.
Nostra aetate entstand in einem Kontext, in dem von den Gemeinsamkeiten bisher kaum die Rede gewesen ist und in dem die Kriegsfolgen sowie die daraus resultierenden bleibenden Anfragen im Vordergrund standen. Die kontextuell adäquate Antwort darauf war, sich der Gemeinsamkeiten bewusst zu werden und von daher eine neue Haltung zu den je Anderen zu konzipieren. Hier die Differenzen in den Vordergrund zu stellen, hätte die Aufgabe wie die Botschaft verfehlt, dass die Kirche eine neue Haltung einnimmt.
Jetzt, 50 Jahre später, stehen wir vor der Aufgabe, diese neue Haltung nicht zu verlieren, sondern im veränderten Kontext weiterzuentwickeln. Es gilt, eine Haltung zur Differenz zu entwickeln, die nicht die Differenz als Trennendes negativ bewertet, sondern im Gegenteil als das allen Gemeinsame: Wir sind unterschiedlich. Jeder und jede besitzt eine Identität, ist Subjekt, hat eine eigene Persönlichkeit. Die Lücke, die durch die Differenz entsteht, muss nicht geschlossen, sondern ausgehalten werden. Diese Einsicht gilt auch für die unterschiedlichen Religionen. Keine Religion ist einschichtig, in keiner Religion haben Menschen nur eine einzige gemeinsame Überzeugung. Religionen und auch Kirchen sind in sich in der gelebten Religion plural und damit in sich zueinander different. Die Pluralität innerhalb der katholischen Kirche ist schier unendlich.
Die Lücke, die durch die Differenz entsteht, muss nicht geschlossen, sondern ausgehalten werden.
Das Gemeinsamkeitsparadigma ist dann problematisch, wenn es nicht Ausdruck, sondern Bedingung der Anerkennung der Anderen in ihrem Recht auf eigene Identität, Leben und Wohlergehen ist. Für diese Haltung, die Anderen in ihrem Dasein anzuerkennen, ist es prinzipiell gleichgültig, ob es Gemeinsamkeiten gibt oder nicht. Ohne solche „Bedingungslosigkeit“ ist der Dialog das Wort nicht wert, das er beansprucht. So wichtig es ist, das tatsächlich Gemeinsame zu entdecken und besseres Verstehen zu fördern, so kann es nicht als Voraussetzung oder gar Bedingung für ein friedliches und halbwegs gerechtes Zusammenleben von Menschen verschiedener Kulturen und Religionen postuliert werden. Dies benötigt eine tragfähigere Basis, die tiefer reicht als augenscheinliche Ähnlichkeiten. Es ist vielmehr umgekehrt: Erst diese Bedingungslosigkeit ist die kommunikative Voraussetzung dafür, sich gegenseitig auch der Kritik auszusetzen und auf Gewalt verzichten zu können.
Eine solche positive Haltung zur Differenz braucht Wurzeln in der je eigenen zentralen Spiritualität. Deshalb gehört es zur ständigen Aufgabe des interreligiösen und interkulturellen Dialogs, sich gegenseitig dazu herauszufordern, auch nach innen, in die je eigene Religion und Kultur hinein zu arbeiten, um diese Haltung möglichst tief zu verankern. Alle drei monotheistischen Religionen – ich beschränke mich jetzt auf diese – haben diese positive Ressourcen ihrer Identität, etwa die Schöpfungstheologie, die die Würde aller Menschen in Gott selber festhält. Diese Theologie ist anschlussfähig an die entsprechenden Haltungen im säkular-politischen Bereich, z.B. im Horizont der Menschenrechte.
Differenzfähig zu werden, pluralitätsfähig zu werden, und zwar gerade in Zeiten, in denen die Konflikte überhand nehmen, das ist die Aufgabe heute und darin liegt die kontextuelle Anpassung der Intention von Nostra aetate
(Ulrike Bechmann).