Ist Kirche wirklich vor allem dazu da, Menschen Trost und Kraft zu geben? Wo dies das Hauptziel ist, gehen die Klage, das Aushalten der Widersprüche und das Mit-Teilen der Trostlosigkeit verloren. Von Kerstin Menzel.
I. Am Neujahrsmorgen wurde mir im Gottesdienst nahe gelegt, meinen Glauben „als probates Mittel für das innere Immunsystem“ „zur Hand“ zu nehmen, „als Instrument“ gegen die Ohnmachtserfahrungen und zur Wiedergewinnung meines Selbstvertrauens.
So würden das wohl manche in der Gesellschaft sehen – genau dafür ist Religion da, den Menschen Trost und Kraft zu geben. Und damit wurden auch die Weihnachtsgottesdienste in Präsenz verteidigt von Seiten mancher Politiker:innen und aus dem Raum der Kirche. Gerade jetzt brauche es die Kirchen, damit Menschen gestärkt werden in dieser schweren Zeit.
Religion ist da, um Menschen Trost und Kraft zu geben?
Und Weihnachten eignet sich dafür ja auch sehr gut: Gott ist euch ganz nahe in Zeiten sozialer Distanz und die Engel rufen uns zu: „Fürchte dich nicht“! „Aber in diesen Zeiten“, schreibt Giannina Wedde, ist dies „ein seltsam generalisiertes Mantra geworden, eine repetitive (Zauber-)Formel erzwungener Furchtlosigkeit, die den Infektionszahlen ebenso trotzig entgegengeschleudert wird wie der Angst vor einem Verlust eines geliebten Menschen, vor möglichen Impfstoffengpässen oder Impfschäden, dem wabernden Schuldgefühl angesichts europäischen Versagens in der Flüchtlingspolitik oder der Erwartung der Klimakatastrophe. Als fiele den Kirchen angesichts einer sich destabilisierenden Welt, zutiefst in Frage gestellter Normalität und sich mehrender Ungewissheiten nichts anderes ein, als kalendertreu eine behauptete Rettung über bestehende Not, eine behauptete Liebe über entlarvte Egozentrik und eine behauptete Gewissheit über nagende Perspektivlosigkeit zu rufen.“[1]
eine repetitive (Zauber-)Formel erzwungener Furchtlosigkeit
II. Angesichts dieser Erwartungen an kirchliche Vermittlung von Kraft, Zuversicht und Trost, deren Echo in den kollegialen Diskussionen in den sozialen Medien und in etlichen Weihnachts- und Neujahrspredigten mehr als laut zu hören war, lohnt es, sich an einen provokanten Zwischenruf zu erinnern. Im Mai 1991 hat der Praktische Theologe Henning Luther auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie unter dem seither oft zitierten Titel „Die Lügen der Tröster“ einen Vortrag gehalten.[2]
Er verwirft darin eine Seelsorge, die den Glauben auf Trost und Sinnstiftung reduziert. „Seelsorge, die Trost vermitteln will durch die Behauptung von Sinn und Bestärkung von Lebensgewißheit, ist immer in der Gefahr, der Fassadenwelt aufzusitzen. Das ‚Dahinter‘ einer trostlosen Welt, die um den Verstand bringt und in die Verzweiflung treibt, bleibt ausgespart und verdrängt.“[3]
Gefahr, der Fassadenwelt aufzusitzen
Luther schreibt vor dem Hintergrund einer anderen Situation, in der man sich eingerichtet habe, Seelsorge vor allem denjenigen gelte, bei denen es „nicht ganz so reibungslos klappt“.[4] Die Trostlosigkeit der Welt, oder zumindest der aktuellen Situation, lässt sich in unseren Tagen kaum verdrängen. Und doch trifft seine Beobachtung meines Erachtens weiterhin eine Kirche, die ihre Anstrengungen auf Bestärkung, Trost und Hoffnung richtet – und darüber die Klage, das Schweigen und das genaue Zuhören zuweilen vergisst.[5]
eine Kirche, die die Klage, das Schweigen und das genaue Zuhören zuweilen vergisst
„Trost wird da zur Lüge, wo er Klage und Trauer nicht zuläßt oder nur in begrenztem, dosierten Maße,“[6] schreibt Luther. Nach meinem Eindruck fehlen in diesen Wochen rituell getragene Gelegenheiten zum Aussprechen von Not, die in diesen Tagen so vielfältig ist. Raum für das Zulassen der Gefühle von Ärger und Erschöpfung und Angst und Trauer über das vergangene Jahr und das, was noch kommt – gerade weil dieser Verlust von Sicherheit und Selbstverständlichkeiten doch eine Ahnung dessen in sich trägt, was Klimawandel, verschobene globale Machtdynamiken und Wanderungsbewegungen in den kommenden Jahrzehnten an Herausforderungen mit sich bringen könnten.
Kirche wäre dann nicht nur der Raum, in dem ich Zuspruch finde, sondern in dem ich zuerst einmal mit all dem sein darf, was schwer ist. In dem ich damit vielleicht sogar konfrontiert werde, um die Größe der Umwälzungen zu begreifen und sie in einem weiteren Horizont weltweiter Ökumene, auch jenseits der entwickelten Länder wahrzunehmen.
mit all dem, was schwer ist, sein dürfen
III. Ausdruck dieses Fehlens sind vielleicht die immer wieder aufflammenden Aufrufe, der Toten öffentlich, auch gottesdienstlich zu gedenken. Eine der wesentlichen Wirkungen von Gedenkritualen ist es aber, dass dadurch auch Betroffene, Opfergruppen erst definiert werden. Durch die Zahl der Kerzen, durch die Nennung der Namen, durch Beteiligung von Repräsentant:innen. Deshalb ist das inmitten einer laufenden Krise, die immer neue Opfer fordert, schwer.
Diese Forderung umzusetzen ist aber auch kompliziert, weil die Betroffenheit anders als bei punktuellen Katastrophen so vielgestaltig ist. Nicht nur die Krankheit selbst, die Überlastung des Gesundheitssystems oder das Sterben an Corona verursachen Opfer. Auch die Kontaktbegrenzungen und fehlende körperliche Berührungen, auch wirtschaftliche Folgen und die Schließung von Bildungseinrichtungen haben Leiden zur Folge, und ja, auch Leiden, das nicht wieder gut zu machen ist. Alte Menschen verlieren unter der Vereinsamung ihren Lebenswillen. Kinder werden Opfer häuslicher Gewalt oder verwahrlosen. Menschen verlieren ihr Unternehmen oder ihre Stelle, für die sie hart gearbeitet haben oder die ihnen Stabilität gegeben hat. Diese Spannungen auszuhalten, ist nicht einfach. Vielleicht könnten sie aber gerade im Raum der Kirche so zum Ausdruck gebracht werden, dass sie anders erfahren werden, dass sie einen anderen Rahmen erhalten.[7]
Spannungen so zum Ausdruck bringen, dass sie einen anderen Rahmen erhalten
Henning Luther zufolge führt die Verdrängung der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die Behauptung von Sinn und Trost zur „Individualisierung des Leidens“.[8] Es geht dann nur darum, dass die Einzelnen die Krise, in der sie sich befinden, bewältigen und sich wieder in die vorhandenen Strukturen einfinden. Gemeinschaftliches, solidarisches Leiden wird dagegen erst durch die „Teilung und Mit-Teilung von Trostlosigkeit“ möglich, entsteht aus der „Kommunikation der Trostlosen“.[9]
Es bräuchte also in den kommenden Wochen und Monaten Räume, in denen die ambivalenten und widersprüchlichen Betroffenheitserfahrungen nebeneinander stehen dürfen. Ohne Leiden zu bemessen und gegeneinander aufzuwiegen. In denen man herausfindet aus der gesellschaftlichen Anklage an andere Gruppen oder die politischen Entscheidungsträger:innen in die gemeinsame Klage vor Gott, ins Aushalten der Situation und der eigenen Ohnmacht.
heraus aus der gesellschaftlichen Anklage in die gemeinsame Klage vor Gott
IV. Voraussetzung für diese Räume wäre, dass kirchliches Handeln nicht ein Handeln für andere, sondern mit anderen sein will.[10] Wo sind die Erfahrungen der Menschen in dieser Pandemie in unseren Gottesdiensten hörbar? Mir begegnen sie oft eher schlagwortartig und mit immer denselben Personengruppen: die Kranken und die beanspruchten Ärztinnen, diejenigen, die um ihre freiberufliche Existenz oder ihr Gewerbe fürchten, die Eltern, die Kulturschaffenden.
Aber wo werden die Widersprüche und die Spannungen dieser Zeit in unseren Räumen konkret und anschaulich und vielleicht auch persönlich berichtet? Das Ringen der Leiterin eines Seniorenheims zwischen Schutzverantwortung und menschlichen Besuchsregelungen und ihre Furcht vor diffamierender Berichterstattung? Die Auswirkungen auf die Schwächsten, die jemand aus dem Jugendamt, der erfolglos für einen Klienten eine Entzugsklinik sucht, genau beschreiben könnte?
die Spannungen dieser Zeit konkret und anschaulich und vielleicht auch persönlich berichtet
In einer Situation, die viele strukturell überlastet, wird das nicht einfach umzusetzen sein. Vielleicht würde es aber doch als erster Ausdruck kirchlicher Solidarität empfunden werden – mit den eigenen, konkreten Erfahrungen gehört zu werden. Und vielleicht würde Kirche dann noch kritischer aufmerksam machen auf tiefere systemische Widersprüche, die sich in dieser Krise zeigen, wie das verengte Verständnis von „Zusammenleben“ in den Kontaktregularien, die unterschiedlichen Prioritätensetzungen im Vergleich von Pandemie und weltweiter Gerechtigkeit oder das reduzierte Bildungsverständnis in den Diskussionen über Schulen und Kindertagesstätten.
Ziel dieser Berichte kann nicht sein, politisch-gesellschaftliche Durchhalteparolen – religiös gefärbt – zu wiederholen, das Krisengefühl zu verstärken und damit die Motivation zum Einhalten von Kontaktbeschränkungen zu erhöhen. Sondern Gefühle wahrzunehmen und anzuerkennen. Widersprüche auszuhalten. Der Trostlosigkeit Sprache anzubieten mit den Psalmen und den Chorälen. Konkreter füreinander zu beten.
der Trostlosigkeit Sprache anbieten und konkreter füreinander beten
V. Manche selbstgewisse theologische Aussage würde dann wohl verstummen. „Hoffnung und Trost zeigen sich für Luther nicht als Verweis auf etwas Vorhandenes, das die Spannung löst,“ schreibt Ulrike Wagner-Rau, „sondern als die Kraft, den eschatologischen Horizont offenzuhalten, durch die man sich dem Leiden und der Sinnlosigkeit stellen und auf ihre Verwandlung hoffen kann. Insofern verbindet sich der Trost der Religion für ihn nicht mit einem Ankommen, sondern mit dem Unterwegssein.“[11]
Ich habe meinen Glauben nicht „zur Hand“ gegen die Ohnmacht. Ich habe in ihm nur „eine Verheißung, die in Bewegung setzt“ und die ins „Ausgesetztsein“, in die „Heimatlosigkeit“ führt.[12]
In Klage und Verzweiflung liegt mehr ehrliche Hoffnung als in Beteuerung von Sinn und Lebensgewißheit.
Das „Entscheidende des Glaubens“, so Henning Luther „liegt nicht in dem beruhigenden Trost stabilisierender Lebensgewißheit. Das Tröstliche des Glaubens besteht vielmehr in der anhaltenden Beunruhigung und Befremdung über unsere Welt. Nicht die Behauptung, daß alles letztlich und irgendwie schon in Ordnung sei, ist ein Trost […]. Tröstlich ist dagegen die Befreiung, nicht länger lügen zu müssen, nichts länger beschönigen und verteidigen zu müssen. In Klage und Verzweiflung liegt mehr ehrliche Hoffnung als in Beteuerung von Sinn und Lebensgewißheit. Die Trauer hält die Treue zum Anderen, zum Besseren, zum Ende des Leidens, den die Affirmationen des Daseins längst verraten hat. Nur wer klagt, hofft.“[13]
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Dr. Kerstin Menzel ist Assistentin am Lehrstuhl für Praktische Theologie und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „Sakralraumtransformation“ an der Universität Leipzig sowie Mitglied der feinschwarz-Redaktion.
Bild: pixel2013 / pixabay.com
Ich danke Prof. Dr. Alexander Deeg für das gemeinsame Nachdenken über diese Fragen in den vergangenen Wochen und Superintendent Sebastian Feydt sowie Propst Gregor Giele für die Offenheit, dieses Nachdenken in konzeptionelle Überlegungen für ein ökumenisches Projekt in Leipzig aufzunehmen (ab kommender Woche unter www.klagezeit-leipzig.de zu finden).
[1] Giannina Wedde, Dissonanzen, Gottes Weltkörper und ein Weihnachtsgruß, auf ihrem Blog klanggebet.de.
[2] Veröffentlicht einige Jahre später: Henning Luther, Die Lügen der Tröster. Das Beunruhigende des Glaubens als Herausforderung für die Seelsorge, in: PrTh 33 (1998), 163–176.
[3] Henning Luther, a.a.O., 164.
[4] Henning Luther, a.a.O., 163.
[5] Vgl. Alexander Deeg, Es wird nicht mehr sein wie vorher. Überlegungen zum Gottesdienstfeiern in Zeiten der Corona-Pandemie und danach, in: Pastoraltheologie, 109 (2020) 9, 417-435, bes. 422. 432f. Vgl. demnächst auch Alexander Deeg, Gottesdienst in Corona-Zeiten: Drei Variationen zum Thema ‚Präsenz‘, in: Evangelische Theologie 81 (2021) 1, i.E.
[6] Henning Luther, a.a.O., 167.
[7] Vgl. den Bericht von Bischof Christian Stäblein über den Gottesdienst zum Corona-Gedenken am Volkstrauertag im Berliner Dom auf www.die-kirche.de (25.11.2020)
[8] Henning Luther, a.a.O., 165.
[9] Henning Luther, a.a.O., 175.
[10] Vgl. Henning Luther, Alltagssorge und Seelsorge. Zur Kritik am Defizitmodell des Helfens, in: Ders., Religion und Alltag. Bausteine zu einer Praktischen Theologie des Subjekts, Stuttgart 1992, 224-238, hier 237f.
[11] Ulrike Wagner-Rau, Seelsorge als religiöse Praxis. Überlegungen im Gespräch mit Henning Luther, in: Kristian Fechtner / Christian Mulia (Hg.), Henning Luther. Impulse für eine Praktische Theologie der Spätmoderne, Stuttgart 2014, 127-140, hier 137.
[12] Henning Luther, Die Lügen der Tröster, a.a.O., 173.
[13] Henning Luther, a.a.O., 170.