Der Bedeutung und der gesellschaftlichen Funktion des Vergessens geht der Soziologe Oliver Dimbath mit dem Ansatz des Oblivionismus nach.
Es besteht ein Unterschied zwischen der Bemerkung, dass ein bestimmter Sachverhalt getrost vergessen werden könne und der, einer oder einem anderen etwas nicht vergessen zu können. In beiden Fällen geht es nicht um den psychologischen Umstand, dass ein kognitiv im Grunde verfügbarer Wissensbestand nicht abgerufen werden kann. Zwar steht auch irgendwie Wissen im Mittelpunkt – aber dieses Wissen ist in erster Linie ein geteiltes. Der kleine Unterschied der hier angesprochenen Bedeutungen zeigt, dass es beim Thema Vergessen nicht um eine beeinträchtige Erinnerungsfähigkeit oder das Krankheitsbild der Demenz – also um etwas Individualpsychologisches – gehen muss. Er weist darauf hin, dass Vergessen auch ein Bestandteil sozialer Beziehungen oder Kommunikation sein und soziales Vergessen vom einfachen Wissensverlust abgegrenzt werden kann.
Vergessen kann eine soziale Funktion haben?
Im folgenden Artikel geht es erstens darum, diese Unterscheidung etwas genauer zu betrachten. Zweitens lässt sich mit dem Begriff des Oblivionismus eine Vergessensform ausweisen, die möglicherweise sogar einer sozialen Erwartung gleich kommt. Im Anschluss daran ist drittens die Frage zu stellen, welche soziale Funktion solch eine Vergessenform für soziale Beziehungen haben kann.
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Vergesslichkeit, Vergessenwollen und Vergessenmachen
Auf den ersten Blick ist es schlecht, etwas zu vergessen – vor allem dann, wenn das Wissensdefizit bewusst wird. Wo habe ich den Schlüssel hingelegt? Wie war doch die PIN-Nummer? Das Defizitäre alltäglichen Vergessens lässt sich jedoch leicht aufheben, wenn die Frage gestellt wird, was wäre, wenn es kein Vergessen gäbe. Alles müsste erinnert werden: Angenehmes, aber auch Unangenehmes, Wichtiges, jedoch auch Unbedeutendes. Das Gehirn wäre wohl bald völlig überfordert, wenn in jedem Augenblick stets das gesamte bisher angesammelte Wissen zur Prüfung des jeweils nächsten Schritts aktiviert werden müsste. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, bei Gedächtnisleistungen von Relevanzsetzung oder Selektivität zu sprechen. Die aktuelle Einschätzung einer Situation erfolgt im Rückgriff auf ähnliche Erlebnisse oder Erfahrungen, was bedeutet, dass irgendein Prinzip klar machen muss, was als ähnlich gilt und was nicht. Das Gedächtnis strukturiert das Erleben. Es rückt Abläufe, die zur Routine geworden sind, als Automatismen in den Hintergrund, wobei sowohl ihre Durchführung als auch der vielleicht lange Prozess des Einübens in Vergessenheit geraten sind, und es fokussiert in erster Linie auf die Merkmale einer Situation, die noch nicht als bekannt und ‚sicher‘ erscheinen. Erst wenn diese Abläufe holpern, schaltet sich die Problemlösekompetenz ein. Ansonsten lenkt das Gedächtnis die Aufmerksamkeit und blendet aus, was als nicht relevant erscheint.
Vergessen ermöglicht fokussierte Orientierung.
Mit dem Soziologen Niklas Luhmann (1998) kann man – auch hinsichtlich des Gehirns und dessen Gedächtnisarbeit – festhalten, dass es eigentlich das Vergessen ist, was eine bewusste Orientierung in der Welt überhaupt erst möglich macht. Vergesslichkeit erscheint dann nicht mehr als Malus, sondern als notwendiger Vorgang, der das Bekannte vom Unbekannten unterscheidet und dabei hilft, gezielt an sich einstellenden Problemen zu arbeiten. Davon zu unterscheiden sind nun aber Momente, in denen das Gedächtnis bewusst adressiert wird, zum Beispiel wenn eine vergangene Erfahrung als unangenehm empfunden wird – oder, wenn in diesem Zusammenhang jemand anderes nicht an ein vergangenes Ereignis erinnert werden soll. Bei diesen bewussten und immer auf das Soziale gerichteten Vergessensformen wäre dann von Vergessenwollen und Vergessenmachen zu sprechen (Dimbath 2014).
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Oblivionismus als Form institutionalisierten Vergessens
Die Formulierung ‚auf das Soziale gerichtet‘ meint in diesem Zusammenhang, entweder die Hoffnung zu entwickeln, selbst etwas zu vergessen, das offenkundig schambehaftet ist, oder ein entsprechendes Vergessen bei anderen zu begünstigen. Ein solches Vergessen hat immer eine intentionale Komponente, aber auch die Selektionsfunktion des Gedächtnisses kann auf das Soziale übertragen werden (Dimbath & Heinlein 2015), wenn die Frage aufkommt, was in sozialen Beziehungen ‚von selbst‘ vergessen wird – also ohne, dass jemand auf Entsprechendes bei sich oder anderen hinwirken wollte.
Soziale Vergesslichkeit als Form des Beschweigens.
Unter diesen von vornherein sozialen Formen des Vergessens erscheint die soziale Vergesslichkeit insofern interessant, als sie unter einem bestimmten Gesichtspunkt ähnlich zu funktionieren scheint wie die kognitive Vergesslichkeit: Sie findet in der Regel unbemerkt statt beziehungsweise kann erwartet werden. Solches Erwarten wird in vielen Kontexten gesellschaftlicher Begegnungen auf Selbstverständliches gerichtet sein. Es kann aber auch als Selektionsfunktion eingeführt werden, wenn sich Menschen über die Notwendigkeit verständigen, bestimmte Dinge nicht weiter zu berücksichtigen. So heilsam wie problematisch kann dies im Fall kollektivübergreifender Probleme wie etwa im Fall des Beschweigens der NS-Diktatur in der deutschen Nachkriegsgesellschaft sein. Es kann aber auch einfach der Aktualisierung bestimmter systematischer Zusammenhänge dienen.
Sozial vereinbartes Vergessen als Ideologie.
Der Romanist Harald Weinrich (2005) hat in einem erhellenden Buch über die Kunst und Kritik des Vergessens im Zusammenhang mit Wissenschaft auf zwei Seiten der Münze hingewiesen. Er bezeichnet die Vergessensmechanismen moderner Wissenschaft als Oblivionismus. Zu diesen gehört die exponentiell wachsende Menge wissenschaftlichen Wissens. Sie kann nur dadurch bewältigt werden, dass man Regeln festlegt, unter welchen Bedingungen beispielsweise eine Publikation noch beachtet werden muss – beispielsweise wenn sie nicht älter als fünf Jahre ist. Außerdem beklagt er die zunehmend ausschließliche Fokussierung auf englischsprachige Veröffentlichungen. Alles andere – so stellt er in seiner kritischen Diagnose fest – solle getrost vergessen werden. Sozial vereinbartes Vergessen erscheint vor diesem Hintergrund geradezu als Ideologie.
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Reinigung oder soziale Demenz?
Der Begriff Oblivionismus als ‚Ismus‘ legt nahe, dass es sich um einen sozialen oder gar politischen Vorgang handelt, der durchaus hinterfragt werden darf. Das Grundprinzip eines soziologischen ‚Ismus‘ könnte darin bestehen, dass er einen bestimmten Bereich markiert, in dem Erwartungen ent- und bestehen. Es geht dann um eine soziale Institution. Ein Oblivion-Ismus ist dann eine Vergessenserwartung, die sich einerseits darauf richtet, dass bestimmte Dinge einfach – ganz selbstverständlich – faktisch nicht mehr erinnert werden und die andererseits darin besteht, dass Dinge nicht mehr erinnert werden sollen. Im einen Fall kann in jedem sozialen System danach gefragt werden, bei welchen Vergangenheitsbezügen es ‚komisch‘ wirkt, wenn sie vorgenommen werden. Im anderen Fall richtet sich der Blick auf bestimmte thematische Vergangenheitsbezüge, deren Auf- und Abruf empörend wirkt – es geht dann um tabuisierte Sachverhalte.
Die Einordnung einer Sache als wichtig oder unwichtig.
Oblivionismus als gesellschaftliche Institution wird damit zu einem Sachverhalt, der in jedem sozial strukturierten Zusammenhang untersucht werden kann, um herauszufinden, welches die Bedingungen sind, unter denen im jeweiligen Kontext mit neuen Situationen umgegangen wird beziehungsweise welche Ähnlichkeitsassoziationen zulässig sind und welche nicht. Dabei geht es praktisch um (Be)Reinigung im Sinne eines Abscheidens des Unwichtigen. Da im Sozialen aber mit Machtmechanismen zu rechnen ist, ist die Einordnung einer Sache als wichtig oder unwichtig sicherlich strittig – je nachdem, wen man fragt. Nur in krassesten Fällen sozialer Traumata könnte möglicherweise von Formen sozialer Demenz als einem radikalen Oblivionismus gesprochen werden, wenn ein Vergangenheitsbezug so schmerzhaft oder gefährlich ist, dass er gar nicht aktiv aufgenommen werden kann.
Schluss
Gesellschaftliches Vergessen erscheint somit als eine bestimmte Form der Wissensbereinigung, die sowohl explizit als auch implizit erfolgen kann. Sie ähnelt damit in einigen Aspekten dem psychologischen oder neurowissenschaftlichen Vergessen. Vor allem die Notwendigkeit, beim Rückgriff auf Vergangenes selektieren zu müssen, gilt sowohl für personale als auch für soziale Systeme. Für den Bereich des Sozialen oder Gesellschaftlichen bietet sich, wenn im Zuge einer gedächtnisspezifischen Selektion Aspekte vergangenen Erlebens ausgeblendet und nicht (mehr) berücksichtigt werden sollen, der Begriff des Oblivionismus an. Dabei geht es vor allem um Selektionen, die in sozialen Beziehungen zwischen Menschen implizit vorgenommen oder explizit ausgehandelt werden können.
Soziales Vergessen bewusst aushandeln.
Das heißt, dass soziales Vergessen in vielen Zusammenhängen bewusst ins Werk gesetzt wird. Die zu vergessenden Inhalte können dabei durchaus noch in Archiven zur Verfügung stehen – sie sind allerdings dem alltäglichen Gebrauch und seinen Kommunikationszusammenhängen entzogen und dienen nicht der Orientierung. Im Wissenschaftsbetrieb kann ein Paradigmenwechsel dazu führen, dass ganze Forschungszweige als veraltet abgelegt und nicht weiter behandelt werden. Aber auch im Alltagsleben ist denkbar, dass Menschen darin übereinkommen, Spuren einer unangenehmen Vergangenheit zu beseitigen oder zu ignorieren. Man schweigt dann über Traumata wie vergangene, unglückliche Beziehungen oder Verbrechen und hofft darauf, dass die Gespenster der Vergangenheit mit ihren Heimsuchungen aufhören mögen. Was für die soziale Gemeinschaft gelingen mag, verbleibt als Last auf dem Gemüt der oder des Einzelnen. Jemandem etwas nicht vergessen zu können wäre dementsprechend dann wieder eine kleine Irritation eines Oblivionismus, der eigentlich erwarten lässt, dass das betreffende Ereignis vergessen worden sein sollte. Oder wie singt doch der Soul Sänger Solomon Burke?
Got to get you off of my mind
I know it’s just a matter of time
You’ve found somebody new
And our romance is through
Gonna throw your picture away
You didn’t want my love, any old way
You’ve found somebody new
And our romance is through
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Autor: Oliver Dimbath, Prof. Dr., Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Koblenz-Landau; Mitherausgeber der Reihe „Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies“.
Bild: Lucian Alexe /unsplash.com
Literatur:
Dimbath (2014): Oblivionismus. Vergessen und Vergesslichkeit in der modernen Wissenschaft. Konstanz: UVK.
Dimbath, Oliver und Michael Heinlein (2015): Gedächtnissoziologie. Paderborn: Fink (UTB).
Luhmann, Niklas (1998): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Weinrich, Harald (2005): Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens. München: C.H. Beck.