Welche Rolle sollte die Theologie in der säkularen Öffentlichkeit heute spielen? Julian Zeyher-Quattlender macht sich in der protestantischen Tradition auf die Suche nach Ansätzen, die den Anspruch „Öffentlicher Theologie“ theologisch begründen können. Fündig wird er ausgerechnet bei Martin Luthers vielzitierter „Zweireichelehre“.
Unangemessener Übergriff in die Sphäre des Politischen, falsche Schwerpunktsetzung und Vernachlässigung geistlicher Kernaufgaben, vormodernes und unaufgeklärtes Wissenschaftsverständnis von Theologie: Vom Noch-Bundestagspräsidenten über das evangelikale Leitmedium „idea-Spektrum“ bis hin zur liberalen Universitätstheologie: alle eint die Ablehnung des Anspruchs einer „Öffentlichen Theologie“. Freilich aus ganz unterschiedlichen Motiven. Öffentliche Theologie scheint also ein Reizwort zu sein. Und sorgt so seit etwa fünf Jahren verlässlich für hitzige Debatten in Kirche, Politik und Wissenschaft. Was hat es mit dieser seltsamen Kritikerallianz auf sich? Was ist eigentlich Öffentliche Theologie und welche Einwände richten sich tatsächlich gegen das Programm? Könnte gar Luthers so viel gescholtene „Zweireichelehre“ ein Instrument sein, das hier weiterführt?
Was ist Öffentliche Theologie?
Unter dem Paradigma „Öffentliche Theologie“ artikuliert sich in Deutschland verstärkt seit den 1990er Jahren ein Netzwerk von Theolog:innen aus dem kirchlichen und akademischen Kontext, welches sich in besonderem Maße mit der Rolle von Religion in der Öffentlichkeit auseinandersetzt. Geschichtlich beförderten dessen Entstehung vor allem zwei Entwicklungen:
Die zeit- und ideengeschichtliche Prominenz des Öffentlichkeitsbegriffes bzw. des Phänomens „Öffentlichkeit“ in den vergangenen 60 Jahren und der spezifische religionsverfassungsrechtliche Kontext in Deutschland. Beides machte die Entwicklung einer Öffentlichen Theologie in Deutschland erforderlich.
Die Aktualität der Kategorie „Öffentlichkeit“
Ob in den Debatten um (Post-)Säkularisierung, der Frage nach der adäquaten Verhältnisbestimmung von Politik und Religion oder in den jüngsten Debatten um Digitalisierung und Big Data – überall zeigt sich, wie Gesellschaft, Kirche aber auch die Wissenschaft eine neue Sensibilität für die Dimension von Öffentlichkeit entwickeln. Diese gab und gibt Anlass zu einer Vielzahl sozialphilosophischer, politischer und soziologischer Reflexionen, in welche die Theologie nicht nur mit hineingezogen wird, sondern in welche die Theologie sich auch aus ihrem Selbstverständnis heraus aktiv hineinbegeben will. Ausdruck dieses Partizipationswillens ist das Programm einer Öffentlichen Theologie.
In Deutschland ist Religion im öffentlichen Raum willkommen
Maßgeblichen Einfluss auf das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit hat neben kulturellen, geschichtlichen und politischen Faktoren vor allem auch der religionsverfassungsrechtliche Kontext eines Landes. Der deutsche Staat hat Interesse an vitaler öffentlicher Religion. Religionsgemeinschaften und Kirchen sind damit im öffentlichen Raum willkommen. Sie werden vom Staat in die Gestaltung des Gemeinwesens fördernd einbezogen und auch institutionell dazu befähigt, Aufgaben für die Gestaltung des Gemeinwohls zu übernehmen.
Diese Tatsache ermutigt und nötigt Religionen, diesen Raum positiver Religionsfreiheit auch auszufüllen und über Ausgestaltungsmöglichkeiten nachzudenken und zu diskutieren. Der natürliche Ort dieses Austausches ist die Theologie als wissenschaftliche Reflexion des Glaubens. Ausdruck der Intention, diese Vielfalt an Interdependenzen von Religion und Öffentlichkeiten nun affirmativ in die wissenschaftlich-theologische Reflexion einzubeziehen, ist der Programmbegriff einer „Öffentlichen Theologie“. Sie steht dabei für einen wissenschaftlichen Reflexionsraum vielfältiger und revisionsoffener Ausgestaltungsmöglichkeiten positiver Religionsfreiheit in Deutschland. Sie ist damit zunächst nicht religions- bzw. konfessionsgebunden, sondern offen für verschiedene religiöse und konfessionelle Aneignungen. Öffentliche Theologie ist damit ein Ort vitaler Reflexion über Religion und damit ein wichtiger Faktor für die Stabilität der Religionsfreiheit.
Martin Luther – ein Vordenker Öffentlicher Theologie
Fragt man nun danach, wie man sich das Programm einer Öffentlichen Theologie aus evangelischer Perspektive zu eigen machen könnte, lohnt es sich bei der Konzeption anzusetzen, die für die Zuordnung von politischer und geistlicher Sphäre innerhalb des Protestantimus besonders wirkmächtig war: Martin Luthers sogenannte „Zweireichelehre“[1]. Anlass von Luthers sehr viel später erst als „Lehre“ bezeichneten Überlegungen war die Bitte eines befreundeten Fürsten (heute würde man sagen: Politikers), zur Reichweite weltlicher Herrschaft Stellung zu nehmen. Und zwar als Theologe.
In seiner ausführlichen Antwort macht Luther kurz gesagt dabei deutlich: Politische und geistliche Sphäre haben eine jeweils eigene Aufgabe, die nicht durch die jeweils andere übernommen werden kann. Der politischen Sphäre kommt die Aufgabe zu, für ein friedliches Zusammenleben zu sorgen. Wenn sie diesem (und nur diesem!) Ziel dienen, dürfen dafür notfalls auch Zwangsmittel eingesetzt werden. Vergleichbar ist dieser Zusammenhang heute mit dem Charakter des Rechts, das ja in seiner Durchsetzung im Notfall ebenfalls auf Gewalt angewiesen ist.
Wo Zwangsmittel angemessen sind – und wo nicht…
Aufgabe der geistlichen Sphäre hingegen ist nicht Erhaltung, sondern Erlösung, also das „Seelenheil“ der Menschen oder weniger klerikal ausgedrückt: der Bereich existenziell-soteriologischer Wahrheiten und individueller religiöse Gewissheiten. In diesem Bereich dürfen keine wie auch immer gearteten Zwangsmittel eingesetzt werden. Denn die geistliche Sphäre muss ein Freiwilligkeits- und Freiheitsraum sein, weil — so Luther — nicht Menschen, sondern allein Gott den Glauben im Menschen weckt und kein Mensch von anderen Menschen oder Strukturen dazu gezwungen werden kann, eine bestimmte religiöse Überzeugung zu „glauben“. Die geistliche Sphäre ist daher ein einzigartiger Schutzraum für Glaubens, Meinungs- und Gewissensfreiheit, wie wir es heute ausdrücken würden.
Luthers Pointe dieser Aufgabenteilung lautet dabei: Beide Bereiche brauchen einander. Nur im Zusammenspiel und gegenseitiger Kontrolle können beide ihre jeweilige Aufgabe gut erledigen. Werden die jeweiligen Grenzen überschritten, läuft alles aus dem Ruder. Wird die geistliche Sphäre ihrer Freiheit beraubt, werden politische Strukturen (quasi-)religiös aufgeladen und begründet (Stichwort: Führerkult). Wird umgekehrt die politische Sphäre von der geistlichen Sphäre übernommen, drohen gottesstaatähnliche Zustände, in den Gewalt im Namen der Religion ausgeübt wird (Stichwort: „Heiliger Krieg“).
Der doppelte Hang zum Totalitarismus – eine sehr aktuelle Einsicht Luthers
Dass beide, die politische und geistliche Sphäre, diesen Hang zum Totalitarismus haben, lässt sich in Geschichte und Gegenwart an vielen Stellen leider immer wieder beobachten. Luthers Forderung, dass sich beide beständig in ihrer Totalisierungstendenz zurückdrängen sollten, ist also bis heute hochaktuell.
Öffentliche Theologie ist eine für die Gegenwart besonders anschlussfähige Interpretation dieser Grundeinsicht Martin Luthers. Sie kann deren theologische Anliegen in besonderem Maße unter den Bedingungen einer modernen Demokratie im 21. Jahrhunderts zur Geltung bringen.
Der Titel lautet: Du sollst nicht töten (lassen)? Eine Rekonstruktion der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers aus der Perspektive Öffentlicher Theologie in aktueller Absicht, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig. Preis: 48 Euro.
[1] Der Begriff „Zweireichelehre“ ist eine unpräzise Begriffsbildung, die meist viele falsche Assoziationen weckt. Trotzdem hat er sich irgendwie als Terminus technicusdurchgesetzt und wird deshalb auch hier weiter verwendet. Mehr zur Problemgeschichte findet sich in Zeyher-Quattlenders Buch.
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Dr. Julian Zeyher-Quattlender hat sich mehrere Jahre an der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg mit aktueller friedensethischer Grundlagenforschung befasst. Er ist Pfarrer der Evangelischen Landeskirche Württemberg und momentan als Repetent am Evangelischen Stift in Tübingen tätig. In seiner soeben erschienen Dissertationsschrift befasst er sich ausführlich mit den hier vorgestellten Fragestellungen:
„Du sollst nicht töten (lassen)? Eine Rekonstruktion der Friedensethik Dietrich Bonhoeffers aus der Perspektive Öffentlicher Theologie in aktueller Absicht“, Evangelische Verlagsanstalt Leipzig, 2021.
Bild: Michael Loeper – pixelio.de