Mit dem neuen Buch von Saskia Wendel und Judith Könemann kommt die Theologie aus dem Quark eigener Fach- und Publikationsgrenzen. Ob das gut geht? Michael Schüßler hat in das überraschende Fundstück schon mal reingelesen.
Da blättere ich neugierig durch den Newsletter von [transcript], einem sozial- und kulturwissenschaftlichen Fachverlag. Mal sehen, was die außertheologische Gegenwartsbeobachtung Neues zu bieten hat: Digitale Kulturen, Stadtforschung … spannend. Und dann eine Überraschung. Namen, die ich dort nicht erwartet hatte. Der Band „Religion, Öffentlichkeit, Moderne“ wird von Judith Könemann und Saskia Wendel herausgegeben, zwei Kolleginnen aus der Katholischen Theologie. Das ist doppelt erfreulich, thematisch ebenso wie in Sachen Herausgeberschaft.
Als ich in den 1980er Jahren meinen Weg als Jugendlicher zwischen Schule, Sport und kirchlicher Jugendarbeit suchte, war Religion erstens peinlich, zweitens reine Privatsache und drittens langfristig vom Aussterben bedroht. Heute feiert Neymar seinen verwandelten Olympia-Elfmeter mit einem “100%-Jesus“-Stirnband und in Parteien wie digitalen Netzwerken wird hitzig über muslimische Kleidungsvorschriften diskutiert. Religion, Öffentlichkeit und Moderne, das ist heute ein offenes Feld. Es wird nicht mehr nur gegen Religion, sondern vor allem um sie gekämpft. Verhältnisbestimmungen sind ungeklärt und neu auszuhandeln.
Es wird nicht mehr nur gegen Religion, sondern vor allem um sie gekämpft.
Der theoriebezogene Teil dieser Neuverhandlungen des Religiösen wird überwiegend von Sozialphilosophen oder Religionssoziologen bestritten. Die prägenden Figuren sind meist tatsächlich Männer: John Rawls und sein liberaler „overlapping consens“ aller vernünftig Argumentierenden, Jürgen Habermas und die postsäkulare Übersetzung religiöser Überzeugungen in die Sprache säkularer Vernunft oder Charles Taylor mit der Forderung, in der Vielfalt des säkularen Zeitalters gar keine Unterschiede mehr zu machen zwischen religiösen und säkularen Gründen. Und natürlich versuchen auch Theolog*innen sich auf die veränderte Situation einen Reim zu machen, bleiben dabei aber oft unter sich.
Der Sammelband von Judith Könemann und Saskia Wendel ist deshalb eine mehrfache Grenzüberschreitung. Zwei katholische Theologinnen (Gendergrenzen markierend und verwischend) geben ein Buch heraus mit religionssoziologischen, religionsphilosophischen und theologischen Beiträgen (Fachgrenzen markierend und verwischend) – und zwar im kirchenunabhängigen „Transcript“-Verlag (Publikationsgrenzen markierend und verwischend). Könemann und Wendel zeigen, dass es sich für die Theologie lohnt aus dem Quark zu kommen, auch aus dem Quark der heimatlichen Verlags- und Publikationsgewohnheiten, wenn man zu einem Thema Relevantes zu sagen hat.
Neue Begründungshorizonte Politischer Theologie
Viele Beiträge sind einfach informativ. Und wenn etwa Judith Könemann eine den Kirchenraum überschreitende „public theology“ begründet, dann trägt das tatsächlich performative Züge. Denn ihre Forderung vollzieht sich bereits in den grenzüberscheitenden Beiträgen des Buches selbst. Oder wenn Saskia Wendel die Neue Politische Theologie von Moltmann und Metz als letztlich zu selbstsichere und binnentheologisch bleibende „conversation stopper“ kritisch anfragt. Völlig treffend mahnt sie neue Begründungshorizonte an. Gerade weil die Solidaritäts-Optionen Politischer Theologie so brennend wichtig bleiben, müsste man sie im Diskurs anders und vielleicht besser vertreten. Ob das allerdings gelingen kann, indem man Theologie auf individuelle Handlungsmotivationen beschränkt, muss nicht sofort überzeugen.
„Streitgespräche“ liefern Einblicke in das aktuelle Verhältnis von Religion, Vernunft und Gesellschaft
Besonders spannend wird es immer dann, wenn die Beiträge inhaltlich aufeinander Bezug nehmen und Kontraste sichtbar werden. Nach Thomas M. Schmidt kann religiöser Glaube die Vielfalt heutiger Gesellschaften nicht mehr zusammenhalten – und er soll es auch nicht. Dem religiösen Erbe geht es nicht mehr darum, in überlegener Weise das Wesen von Welt und Mensch zu bestimmen, „sondern an seine Unbestimmtheit und Unanschaulichkeit zu erinnern“ (170). Im christlichen Glauben wäre zu entdecken, dass und wie der Bezug auf Gott nicht (moralische oder weltbildhafte) Überlegenheit herstellt, sondern wie er das Leben auf die Wahrheit des und der jeweils Anderen hin öffnet. Schmidt plädiert deshalb mit Luhmann für eine „Umstellung der gesellschaftlichen Funktion des religiösen Glaubens von Integrations- auf Differenzbewusstsein“ (170). Dem gegenüber besteht Martin Breul in seiner Replik mit Habermas auf „die zwingende Annahme, einen integrierenden Rahmen verschiedener Sprachspiele und Weltdeutungssysteme zu postulieren, der kommunikativ-formale Vernunft genannt werden kann“ (185). Das ist nur eine der Konfliktlinien. Mehrere „Streitgespräche“ liefern immer neue Einblicke in das, was zum Thema Religion, Vernunft und Gesellschaft gerade diskutiert wird. Und mit der erfrischend kritischen Replik von Patrick Zoll auf die philosophische Gotteslehre von Volker Gerhard, endet das Buch sogar noch mit Anklängen an die „Analytische Religionsphilosophie“ und den „Neuen Realismus“.
Glauben und zweifeln wir heute tatsächlich (noch?) in einer säkularen und liberalen Moderne?
Insgesamt ist die Debatte zu Religion und Öffentlichkeit allerdings so breit und vielfältig, dass sogar nach 350 Seiten ein paar aufschlussreiche blinde Flecken bleiben. Die viel diskutierte Position von Charles Taylor wird ebenso bei Seite gelassen wie Diskurse der französischen Differenzphilosophie zum Ort des „Politischen“. Die genannten Leerstellen verschieben aber auch das Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit aus dem Koordinatensystem der neuzeitlichen Moderne hinaus. Jetzt sieht man: Genau dem bleibt die Grammatik des Bandes verpflichtet, nämlich einem „Verhältnis von Religion und Öffentlichkeit … unter den Bedingungen moderner, d.h. säkularer, liberaler und immer pluraler werdenden Gesellschaften“ (8). Ob das, was hier an religiös-rationaler Diversität und an uneinheitlichen Vernunftbegriffen faktisch verhandelt wird, aber diesen programmatischen Rahmen nicht eigentlich schon sprengt? Leben und denken, glauben und zweifeln wir heute tatsächlich (noch?) in einer säkularen und liberalen Moderne?
Was bleibt? Neue Erwartungen auf alle Fälle. Ich freue mich schon auf die nächsten Überraschungen beim Stöbern im theologie- und kirchenfernen Publikationswesen. Man weiß nie, was einem dort (an unverhoffter Theologie) in Zukunft begegnen wird.
Judith Könemann / Saskia Wendel (Hg.), Religion, Öffentlichkeit, Moderne. Transdisziplinäre Perspektiven, Bielefeld 2016.
Michael Schüßler ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Tübingen.
Bild: w.r.wagner / pixelio.de