Diana Lunkwitz über sogenannte Ökodörfer und esoterisch-ökologische Wirklichkeitskonstruktionen, die individuelle Vervollkommnung und die Rettung (zumindest) des Planeten versprechen.
Spiritualität in einem weltweiten Netzwerk von Ökodörfern
Ökodörfer sind gemeinschaftsstiftend. Vor allem aber sind sie vielfältig in ihren Entstehungsgeschichten, mit ihren Gründer*innen und ihren Wirklichkeitskonstruktionen hinsichtlich Spiritualität, Religion, Kultur und Ökologie. Um Teil der weltweit größten Vernetzung von Ökodörfern zu werden, soll den Richtlinien des Global Ecovillage Network entsprochen werden. Die Einzigartigkeit jedes Ökodorfes sei durch die Bewohner*innen, ihre Interessen und Visionen, ihre Kultur und ihren Kontext charakterisiert. Dennoch unterscheidet das Netzwerk zwischen traditionellen Ökodörfern, die aus bereits bestehenden Dörfern und Gemeinschaften hervorgehen, und intentionalen Ökodörfern, bei denen ein gemeinsames Ziel die Neugründung einer Dorfgemeinschaft bestimmt.
Folglich wäre ein Ökodorf eine intentionale, traditionelle oder städtische Gemeinschaft, die durch lokale Partizipationsprozesse in allen vier Dimensionen der Nachhaltigkeit (Soziales, Kultur, Ökologie und Ökonomie) gestaltet wird – mit der Absicht soziale und natürliche Umgebungen zu erneuern. Die Mindesteinwohner*innenzahl für ein eigenständiges Ökodorf beträgt 20. Innerhalb eines Ökodorfes kann es Öko-Gemeinschaften mit weniger als 20 Bewohner*innen geben.
Neben der Prozesshaftigkeit von solchen Ökodorf-Projekten betont die Zuordnung des Netzwerkes auch Unterschiede zwischen Ökodörfern im sogenannten Globalen Süden und solchen im Norden: Ökodörfer sollen keine Inseln für Personen der oberen und mittleren Gesellschaftsschicht sein.
Dabei legt das gegenwärtig als Wohltätigkeitsorganisation des Wirtschafts- und Sozialrats der Vereinigten Nationen agierende Netzwerk kaum ein Augenmerk auf die Frage, was an den unterschiedlichen Orten unter Spiritualität und Religion verstanden und gelebt wird. Bei den etwa 10.000 Gemeinschaften auf allen Kontinenten gehe es vorrangig um die Umsetzung des SDG 11 („Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig gestalten.“) bis 2030.[1]
Dazugehörige Netzwerke der einzelnen Weltregionen setzen weitere Akzente. So nennt das Netzwerk mit Ozeanien-Asien-Bezug auch indigene, glaubensbasierte, spirituelle Gemeinschaften.[2] Das Netzwerk für Europa verneint seine Bezeichnung von Ökodorf für miteinander lebende Familien, religiöse Gruppen, Sekten oder Kulte um charismatische Leitungspersönlichkeiten und mit zwingend zu vollziehenden Praktiken.[3]
Ökodörfer als spirituelle Orte?
Als ältestes klassifiziertes Ökodorf kann möglicherweise das von Sesselja Sigmundsdóttir gegründete Sólheimar, 80 km östlich von Reykjavík, gelten. Gemäß Rudolf Steiners Anthroposophie begann die isländische Pädagogin ab 1930 eine selbsttragende Gemeinschaft für Kinder mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen aufzubauen.[4]
Als ein wichtiger Motivator der späteren Beispiele wird der soziale Aspekt des gemeinschaftlichen Lebens angesehen, der sich in den Cohousing-Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre in Dänemark, den Niederlanden und auch Florida darstellt.
Eine weitere frühe Gemeinschaft wurde 1962 in Findhorn (Schottland) von Peter und Eileen Caddy sowie Dorothy Maclean begründet. Alle drei seien bereits auf einem jahrelangen „disziplinierten spirituellen Weg“ gewesen, als Maclean während ihrer Meditation mit pflanzlicher Intelligenz Kontakt aufgenommen habe. Die Pflanzen, welche sie erst als Engel und dann als Devas bezeichnet habe, hätten ihr darüber Anweisungen gegeben, wie sie selbst am besten wachsen und gedeihen würden. Bald seien 40-Pfund-Kohlköpfe geerntet worden.[5]
Die 1995 von Sabine Lichtenfels, welche Theologie studiert hatte, und dem Psychologen und Soziologen Dieter Duhm und Charly Rainer Ehrenpreis gegründete Gemeinschaft Tamera (Portugal) hat eine längere Vorgeschichte – begonnen in der ehemaligen BRD, dann in Bad Belzig und auf den Kanarischen Inseln mit verschiedenen Institutionen fortgesetzt. In ihrer Darstellung charakterisiere die Gemeinschaft eine „Vision“ von einer „Terra Nova“. Diese Vision würde durch „Heilungsbiotope“ erfüllt. Heilungsbiotope seien hierbei „futurologische Zentren, in denen die Grundlagen für eine zukünftige planetarische Kultur des Friedens erforscht und exemplarisch aufgebaut werden“.[6]
Zu den Bereichen der sogenannten „Forschung“ gehört beispielsweise die „Rattenforschung“: Dabei wird an den Rattentempel Karni Mata in Rajasthan zu Ehren der hinduistischen Gottheit Durga erinnert. Bei der Erforschung der Ratten beobachte man deren Verhalten und versuche mit ihnen zu kommunizieren und zu kooperieren. Ratten werden beispielsweise in Briefen gebeten, sich nicht in Küchen niederzulassen. Ihre Unterstützung werde zudem für Gebete und Aktionen erbeten.[7]
Andere, wiederum einmalige, Gemeinschaften sind Auroville – eine 1968 initiierte Gemeinschaft, die mittlerweile die Größe einer Stadt im südlichen Indien (Chennai) angenommen hat – und Damanhur, nördlich von Turin. Damanhur („Dorf des Horus“), in Anlehnung an das gleichnamige Dorf in Ägypten, wurde von dem Italiener Oberto Airaudi gegründet und diente der Verwirklichung seiner Ansichten, die dem sogenannten ‚New Age’ zugeordnet werden können. Die heutige Damanhur Akademie versteht sich auch als eine „Universität“, die auf Selbstvervollkommnung mit Kursen zu den Themenbereichen „Spirituelle Heiler“, „Alchemie“, „Mystik“, „Gemeinschaft“ und „Traum“ hinzielt. Es heißt: „Diese Programme integrieren sich harmonisch in fast jeden spirituellen Weg.“[8]
Auch das Weltbild des Ökodorfes Auroville, der „Stadt der Morgendämmerung“, zielt auf eine positivistisch-evolutionistisch verstandene Selbstrealisierung und soziale Transformationen zur Vereinigung der Menschheit. Globalität und globale Bildung würden in diesen Vorstellungen von Aurobindo Ghose, die seine Partnerin Mirra Alfassa hier zu verwirklichen suchte, an eine Wirklichkeitskonstruktion von Bewusstseinsänderung gebunden, die Erläuterungen im Kontext bedarf. Bei der Yoga-Lehrerin Alfassa sind ebenfalls biografisch zu konkretisierende Ansichten aus okkultistischen Praktiken und Begegnungen mit in die Entstehungsgeschichte des Ökodorfs weiter einzubeziehen.
Alle genannten prominenten Beispiele entsprechen dem intentionalen Typus eines Ökodorfes und nicht dem Anliegen, bereits bestehende Dörfer und Stadtteile in nachhaltige oder autarke Räume umzuwandeln. Außerdem sind dabei die Gründerpersönlichkeiten und ihre Lehren von besonderer Bedeutung für die Entstehung der Gemeinschaften. Interessanterweise haben alle Gemeinschaften mit mehr oder weniger starken Fluktuationen unter den Bewohner*innen bis heute Bestand.
‚New Age’, Ökologie und Menschenbild in der „spirituellen Öko-Gemeinschaft“
Wenige aktuelle Studien nehmen bisher Fragen nach Spiritualität und Religion in Ökodörfern in den Blick.[9]
Die sogenannten spirituellen Öko-Gemeinschaften knüpfen oft produktiv an esoterische New-Age-Wirklichkeitskonstruktionen an. Zwar scheinen verschiedene individuelle Wirklichkeiten und Religionszugehörigkeiten einen Platz zu haben, dennoch manifestieren sich diese Gemeinschaftsformen über eine bestimmte Verbindlichkeit in unterschiedlichen Praktiken, auch an lokalen Kultstätten. So gehört zu Auroville zentral der „Tempel der Mutter“ (Matrimandir) und zu Damanhur die unterirdische Tempelanlage mit den „Tempeln der Menschheit“(Templi dell’Umanità), die eine Größe von 850.000 Kubikmetern aufweist. Mit der Errichtung solcher Anlagen wurden und werden teils weiterhin enorme geologische Eingriffe vorgenommen.
Ein traditionelles, augenscheinlich homogenes, und institutionalisiertes Religionsverständnis wirkt oftmals eher negativ besetzt. Es müsse hierbei aufgrund einer größeren planetarischen Vision überwunden werden. Das beworbene Menschenbild in den diversen öko-spirituellen Gemeinschaften bleibt weiter anzufragen. Die zunächst der Öffentlichkeit verschlossene Tempelanlage von Damanhur wird heute touristisch als Einnahmequelle genutzt. Eindrücklich sind hier muskulöse weiße Männer- und Frauen-Gestalten an Wänden und Böden als leitende Motive zu sehen.
Kein Ökodorf ist wie ein zweites – und doch …
Für eine Kontextualisierung von Ökodörfern ist die dichotomische globale Unterscheidung von Nord und Süd des Global Ecovillage Network nicht ausreichend. Dennoch zielen im ‚globalen Süden’ angelegte Ökodörfer überwiegend auf die Wiederbelebung traditioneller Lebensweisen und eine Sicherung existentieller Grundlagen. Dies betrifft die Ernährungssicherheit, den Zugang zu sauberem Wasser und die wirtschaftliche Stabilität in Region und Land.[10]
Ökodörfer als Experimentier- und Erprobungsräume für Strategien der Nachhaltigkeit stellen sich in der Zeit von globalen klimatischen Herausforderungen als notwendig dar. Die Initiative Sekem, südlich von Kairo, erforscht beispielsweise Technologien für nachhaltige Landwirtschaft und setzt diese praktisch um. Ein ganzheitliches Verständnis von Bildung wird ebenso in das nachhaltige Entwicklungsmodell einbezogen, das 2003 den Alternativen Nobelpreis gewann.
Daher tragen Ökodörfer in vielen Varianten das Potential in sich, als beispielhafte Utopien an der gesamtgesellschaftlichen Umsetzung von Nachhaltigkeitskonzepten mitzuwirken. Je nach Kontext und den gelebten Gemeinschaftsformen sind sie allerdings auch Kumulationspunkte gesellschaftlicher Probleme. Intensive Gemeinschaften, in denen sich die Mitglieder mit ihren Finanzen und Intimitäten der utopischen Weltsicht ausliefern, können zu verschiedenen Formen von Machtmissbrauch führen und einladen.
Nach einer harmonisierenden Vereinheitlichung von Welt- und Wirklichkeitskonstruktionen sucht das Ökodorf Sieben Linden in Sachsen-Anhalt nach eigener Aussage nicht: „Unterschiede und Konflikte untereinander auszuhalten ist harte Arbeit, vor allem an sich selbst“[11], heißt es auf der Homepage. Vielfalt und Andersartigkeit werden dort als positiv für die Gemeinschaft und im weiteren Sinne für die Welt beschrieben.
Für Personen aus Ländern des Wohlstands bieten Ökodörfer auf den ersten Blick einen Ort der anderen Sinngebung im Leben. Der Alltag im Ökodorf mit dem Ziel der Selbstversorgung kann durch zeitaufwendige Arbeit und auch selbstauferlegte Entbehrungen gekennzeichnet sein. In einer Gemeinschaft, die auf längeres Zusammenleben angelegt ist, gibt es ohne Frage Differenzen, aber auch die Möglichkeit der Horizonterweiterung in der Entscheidung für das dauerhafte Miteinander in einer Wahlgemeinschaft.
Eine rücksichtsvolle Gemeinschaft und ein Koexistieren als Teil der menschlichen und nicht-menschlichen Mitwelt benötigen offensichtlich kein esoterisch-ökologisches Weltbild.
Diana Lunkwitz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Missions-, Ökumene- und Religionswissenschaft an der Universität Hamburg.
[1] Siehe Global Ecovillage Network: https://ecovillage.org/projects/what-is-an-ecovillage/; https://ecovillage.org/projects/what-is-an-ecovillage/ (10.04.2023).
[2] Siehe GENOA Oceania & Asia: https://genoaecovillage.org/ecovillages/ (10.04.2023).
[3]Siehe GEN Europe: https://gen-europe.org/ecovillages/what-is-an-ecovillage/ (10.04.2023).
[4] Siehe Sólheimar Sjálfbært Samfélag: https://www.solheimar.is/ (10.04.2023).
[5] Siehe Findhorn Foundation: https://www.findhorn.org/about-us/findhorn-foundation-our-story/ (10.04.2023).
[6] Siehe Tamera: https://www.tamera.org/de/vision/ (10.04.2023).
[7] Siehe Tamera: https://www.tamera.org/de/rattenforschung/(10.04.2023).
[8] Siehe Damanhur Academy: https://damanhur.academy/schools/; https://damanhur.academy/about-us/ (10.04.2023).
[9] Siehe Hagen Fischer, Klaus Hock, Thomas Klie [Hgg.]: Öko-Spiritualität, 2020.
[10] Siehe Pinto, Tiago, und Helena Vilaça. 2023. ‘New Age and Environment: New Forms of Spirituality and Lifestyle in the Context of Secularization?’, in: Religions 14 (4), 8.
[11] Ökodorf Sieben Linden: https://siebenlinden.org/de/oekodorf/kulturweltsicht/persoenliches-wachstum/ (10.04.2023).
Beitragsbild: Matrimandir („Tempel der Mutter“) in Auroville, Chennai; https://www.pexels.com/de-de/foto/indien-tempel-sehenswurdigkeiten-touristenattraktion-8230904/ (abgerufen am 13.04.2023)