Den Spuren des „Religiösen“ in Werk und Biografie des Künstlers Gerhard Richter geht Thomas Eggensperger OP aus Anlass einer großen Werkschau in der Neuen Nationalgalerie Berlin nach.
Zum Künstler Gerhard Richter ist schon viel geschrieben worden, nicht nur hinsichtlich seiner Kunst, sondern auch hinsichtlich seiner religiösen Grundeinstellung. Geboren 1932, wirkt er über Jahrzehnte hinweg als Künstler, dessen Bildwerk in mehreren Etappen eine kreative Entwicklung genommen hat und heute mit Sicherheit einer der profiliertesten Künstler auf dem Markt ist.
Die Suche nach dem „Religiösen“ im Künstler
Die Überlegungen dieses Beitrags zielen nicht auf die Technik und Ästhetik der Artefakte, sondern mehr auf den spirituellen Hintergrund, der den Künstler Richter mittelbar inspiriert haben dürfte. Religiös veranlagte Betrachter:innen haben augenscheinlich den Drang, das Religiöse im Œeuvre eines Künstlers entdecken zu wollen. Dies gilt nicht nur für die Bildende Kunst, sondern auch für Literatur. Das ist letztlich gar nicht so überraschend, denn jedes Kunstwerk und jegliche Literatur bergen jeweils Religiöses bzw. Spirituelles in sich – selbst bei Kunstschaffenden, die sich selbst weder für religiös oder für spirituell halten.
Gerhard Richter
Damit kommt es zur zentralen Überlegung dieses Essays, am Beispiel Gerhard zu skizzieren, wie nach dem religiösen Moment im Schaffen geschürft wird und was vom Ergebnis einer solchen Recherche zu halten ist.
Lange schon steht der Künstler Gerhard Richter im Focus der Frage nach seiner persönlichen Religiosität. Dies hat vor allem damit zu tun, dass er immer wieder für Kirche und kirchliche Räume gearbeitet hat. Das bekannteste Beispiel ist das Glasfenster im Kölner Dom, das er im Jahr 2007 fertiggestellt hat. Dabei war er in der Konzeption des Werks nicht frei, denn das Domkapitel und die Dombaumeisterin B. Schock-Werner wünschten sich zunächst die Darstellung von sechs Märtyrern des 20. Jahrhunderts. Aber der Künstler musste passen: „Ich war natürlich sehr beeindruckt von diesem ehrenvollen Auftrag, musste aber sehr bald feststellen, dass ich dieser Aufgabe überhaupt nicht gewachsen bin.“[i] Zum Glück, kann man wohl sagen, denn das Ergebnis seiner Reflexion sind die berühmten gut 11.000 mundgeblasenen quadratischen Glassegmente, die zum Teil mithilfe eines Computerprogramms nach dem Zufallsprinzip festgelegt wurden und heute das Südquerhausfenster des Kölner Domes bilden. „Nach einigen vergeblichen Versuchen, mich dem Thema zu nähern, und im Begriff die Sache definitiv aufzugeben, geriet mir eine große Abbildung meines 4096-Farben-Bildes [aus dem Jahr aus dem Jahr 1974, T.E.] auf den Tisch. Ich legte die Schablone des Maßwerkes darüber und sah, dass es nur so gehen könnte.“[ii]
Allein – dem Fenster eignet kein spezifisch christliches Motiv. Ist es deshalb nicht-religiös?
Eine Entwicklungsgeschichte
Für Gerhard Richter war das Religiöse (bzw. das Spirituelle) biographisch und künstlerisch immer ein Thema. Dabei handelt es sich in der persönlichen Auseinandersetzung eher um eine Entwicklungsgeschichte der Religiosität als um ein von Anfang an vorgegebenes Fatum. Aus der evangelischen Kirche ist er früh ausgetreten und in sehr jungen Jahren sah er sich als nichtgläubig an, aber er hat sich immer als ein Spross des Christentums verstanden, als ein „Suchender“[iii], der gar nicht leben könne „ohne den Glauben an eine höhere Macht oder etwas Unbegreifliches“[iv].
Richter sah und sieht einen engen Konnex zwischen Kunst und Religiosität. Schon 1962 schreibt er in seinen Notizen: „Sich ein Bild machen, eine Anschauung haben, ist das, was uns zu Menschen macht – Kunst ist Sinngebung und Ausgestaltung des Sinns. Das ist wie die religiöse Suche nach Gott.“[v]
Die Kunst nicht als Ersatzreligion, sondern als Religion.
Dabei scheut der Künstler den Bezug des Religiösen zur Kirche nicht, sieht aber in der Kunst eine Erweiterung: „Die Kunst ist nicht Ersatzreligion, sondern Religion (im wahrsten Sinne des Wortes, ,Rückbindung‘, ,Bindung‘ an das nicht Erkennbare, transzendierende Vernunft, transzendent Seiendes). Das heißt nicht, dass die Kunst zu einer Art Kirche wurde und deren Funktionen übernahm (Erziehung, Bildung, Deutung und Sinngebung). Aber Kirche ist nicht mehr adäquater Ort, Transzendenz erfahrbar zu machen und Religion zu verwirklichen – und so hat die Kunst sich verwandelt zur Bewahrerin von Religion, das heißt zur Religion selbst.“[vi]
Religion – Glaube – Kirche
Einige Jahre später skizziert Richter sein Verständnis von Glauben. So ist für ihn Kunst gleichsam die Verwirklichung der Religiosität und der Fähigkeit, zu glauben. „Die Fähigkeit zu glauben ist unsere herausragendste Eigenschaft, und nur die Kunst übersetzt dies adäquat in die Wirklichkeit. Wenn wir allerdings unser Glaubensbedürfnis mit einer Ideologie stillen, richten wir Unheil an.“[vii]
Richter nähert sich immer mehr der katholischen Kirche an. Das ist m.E. weniger zu verstehen als eine Konversion hin zu einer Institution, als vielmehr die Bewegung zu einer Art Kulturkatholizismus, der sich nicht verfängt in den Petitessen innerkirchlicher Debatten, sondern fasziniert ist von dem Katholischen als Phänomen. In einem Zeitungsbericht wird er als „Sympathisant der katholischen Kirche“ bezeichnet und dies wird interessanterweise verbunden mit dem in der Sache nicht sehr bedeutungsvollen Hinweis, dass er mit einer katholischen Konvertitin verheiratet sei und die gemeinsamen Kinder katholisch getauft wurden.[viii]
Skepsis als Praxis einer „via negativa“
In einem anderen Interview, indem es um sein Glasfenster-Projekt in der Abtei Tholey ging, bestätige er dem Interviewer, dass Kirche noch der bedeutendste Spender von Heil und Trost sei.[ix] Seinem Interviewpartner Thorn Pikker sagte er: „Ich sympathisiere mit der Katholischen Kirche. Ich kann nicht an Gott glauben, aber ich halte die Katholische Kirche für wunderbar.”[x] Und weiter: “Als meine beiden Kinder hier im Dom [zu Köln, T.E.] getauft wurden, hat sich meine Haltung gegenüber der Kirche radikal verändert und ich begann mit der Zeit zu realisieren, was Kirche anbieten kann, wieviel Sinn sie vermitteln kann, wieviel Unterstützung, Trost und Geborgenheit.“[xi] Dennoch bleibt er im positiven Sinne ein Skeptiker. Romaine hält seinen Skeptizismus nicht für zynisch, sondern vielmehr für die Praxis einer „via negativa“ bzw. „via dubia“.[xii] Dies gilt nicht nur für die dezidiert in Kirchen sich befindlichen Kunstwerken Richters, sondern auch für seine weitere abstrakte Kunst und Malerei, so wie z.B. der Birkenau-Zyklus in Berlin oder „Zwei graue Doppelspiegel für ein Pendel“ in der ehemaligen Dominikanerkirche in Münster. Richter verharmlost nicht, aber sucht die Transformation in Hoffnung und Frieden.
Glaube nein – Kirche ja!
Trotz fehlenden Glaubens kann sich Richter für die katholische Kirche und ihren Potenzialen begeistern. Glaube nein, (katholische) Kirche ja – das scheint vordergründig betrachtet, seine Devise zu sein. Es ist nicht anzunehmen, dass er Kirchenaffinität nur betont, um seine mehrfache Aktivität im kirchlichen Auftrag zu rechtfertigen oder den Auftraggebern nach dem Munde zu reden. Richter redet nicht nach dem Munde, sondern formuliert seine Überzeugungen, die scheinbar nicht so weit führten, dass er formell in die katholische Kirche eingetreten ist.
Nicht-institutionaliserter Glaube
Allerdings stellt sich die Frage, was hinsichtlich Richters Nicht-Glaube unter „Glaube“ zu verstehen ist. Die Tendenz geht prinzipiell dahin, Glauben als vertrauensvolle Grundhaltung einer bestimmten Religion zu verstehen, d.h. einer institutionalisierten Form von Religiosität. In diesem Sinne ist Richter wohl eher ein Nicht-Glaubender. Fasst man das Verständnis von Glauben aber weiter und sieht die entsprechende Grundhaltung nicht-institutionell, dann wird man Richter als gläubigen Menschen bezeichnen können. Dazu muss er nicht Mitglied der katholischen Kirche sein, sondern es ist völlig ausreichend, mit dem Katholischen – sei es ästhetisch, sei es theologisch – zu sympathisieren und sich davon existenziell, spirituell inspirieren zu lassen.[xiii] Das erinnert an den Hermeneutiker Gianni Vattimo, der in seinem philosophischen „schwachen Denken“ glaubt, zu glauben („Credere di Credere“[xiv]) und damit seine Weise gefunden hat, in die katholische Kirche zurückzukehren, von der sich Jahre zuvor zurückgezogen hat.[xv]
Jede Form von Skepsis, Reserve und Distanz reduziert einen solchen Glauben nicht, sondern bereichert ihn. So mag es sich lohnen, nach dem Religiösen in der Biographie und dem Werk Gerhard Richters zu schürfen, aber man wird zu respektieren haben, dass seine Spiritualität eine offene ist, die sich nicht an eine Institution Kirche binden lässt.
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Thomas Eggensperger OP, M.A., Prof. Dr., geb. 1963 in Wien, Professor für Sozialethik am „Campus für Theologie und Spiritualität Berlin“, Geschäftsführender Direktor des „Institut M.-Dominique Chenu“ in Berlin sowie Schriftleiter der „Deutsche Thomas-Ausgabe“, eggensperger@institut-chenu.info.
Weiterführende Informationen zur Ausstellung „Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“ in der Neuen Nationalgalerie Berlin:
https://www.smb.museum/museen-einrichtungen/neue-nationalgalerie/ausstellungen/detail/gerhard-richter-100-werke-fuer-berlin/
Titelbild: Ausstellungsansicht „Gerhard Richter. 100 Werke für Berlin“, Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, 1. April 2023 bis 2026, © Gerhard Richter 2023 (31032023) (Foto: David von Becker)
Foto 1: Gerhard Richter, Dresden 2017, Foto: David Pinzer, courtesy Gerhard Richter Archiv Dresden, © Gerhard Richter 2023 (31032023)
[i] https://gerhard-richter.com/de/biography/richter-in-the-21st-century-real-and-tangible-accomplis-9
[ii] Ebd.
[iii] https://www.sueddeutsche.de/kultur/kunst-gerhard-richter-die-kirchenfenster-kamen-mir-wie-gerufen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-190831-99-683232
[iv] https://www.welt.de/103015331.
[v] „Picturing things, taking a view, is what it makes us human; art is making sense and giving shape to that sense and picturing are artificial. It is like the religious search for God.”, in: Gerhard Richter, Notes 1962, in: ders., Text. Writings, Interviews and Letters 1961-2007 (ed. Hans Ulrich Obrist / Dietmar Elger), London 2009, 14-15, hier 14.
[vi] „Art is not a substitute religion: it is a religion (in the true sense of the word: ‘binding back’, ‘binding’ into the unknowable, transcending reason, transcendent being). This does not mean that art has turned into something like the Church and taken over its functions (education, instruction, interpretation, provision of meaning). But the Church is no longer adequate as a means of affording experience of the transcendental, and of making religion real – and so art has been transformed from a means into the sole provider of religion: which means religion itself.”, Notes 1964-1965, in: Text. Writings, 29-35, hier 34.
[vii] „The ability to believe is our outstanding quality, and only art adequately translates it into reality. But when we assuage our need for faith with an ideology, we court disaster.” Notes, 1988, in: Text. Writings, 200-201, hier 200.
[viii] St. Wendeler Nachrichten,
[ix] https://rp-online.de/kultur/kunst/interview-mit-gerhard-richter-kirchenfenster-zum-trost-der-betrachter_aid-45374545.
[x] I sympathize with the Catholic Church. I can’t believe in God, but I think the Catholic Church is marvellous.”, Interview mit Jan Thorn-Prikker, 2004, in: Text. Writings, 464-479, hier 471.
[xi] “When we had our children christened here in the cathedral, my attitude towards the church had already radically changed, and I had slowly begun to realize what the church can offer, how much meaning it can convey, how much help, comfort and security.”, ebd.
[xii] James Romaine, Gerhard Richter: The Capacity for Belief, in: Image Journal 64 (2015) (https://imagejournal.org/article/gerhard-richter-capacity-belief/)
[xiii] Vgl. James Romaine, Beyond Belief: Chance, Authorship, and the Limits of Comprehension in Gerhard Richter’s Strip, in: Religions 10, 275 (2019), https://www.mdpi.com/2077-1444/10/4/275.
[xiv] Gianni Vattimo, Credere di credere, Mailand 1996 (dt. Glauben – Philosophieren, Stuttgart 1997.
[xv] Vgl. Thomas Eggensperger, Sich Reiben an der Religion. Zu Gianni Vattimos Blick auf Christentum und Kirche, in: Zibaldone 51 (2011), 127-132.