Konstantin Sacher zu Navid Kermanis „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott“, erschienen 2022 im Carl Hanser Verlag.
Als sich der Tiger und der Bär in Janoschs berühmter Geschichte auf den Weg machen, um Panama zu finden, wissen sie noch nicht, dass sie am Ende wieder dort ankommen werden, wo sie aufgebrochen sind. Zuerst findet der kleine Bär eine Kiste im Fluss. Sie riecht nach Bananen. Es ist ein verführerischer Duft, der ihnen in die Nase steigt. Auf der Kiste steht das Wort „Panama“. Es wird für die beiden zum Sehnsuchtsort; hier muss die Erfüllung der Träume warten.
Tiger und Bär machen sich auf, treffen Maus, Fuchs, Kuh und andere neue und alte Gefährtinnen und Gefährten. Allen erzählen sie von Panama. Alle hören gespannt zu. Hase und Igel, denen sie besonders intensiv berichtet haben, träumen sogar von Panama. Nur aufmachen, so wie Tiger und Bär, will sich niemand außer ihnen. Am Ende kommen die beiden dort an, wo sie aufgebrochen sind, an ihrem eigenen Zuhause, der schönen Stelle am Fluss. Nur sie erkennen sie nicht wieder. Und so können sie begeistert staunen und erkennen, dass es wunderschön dort ist, es ist der Ort ihrer Sehnsucht, der Ort, an dem sie gestartet waren. Wie lange die Sehnsucht gestillt bleibt, wird nicht berichtet. Aber der Logik der Geschichte folgend wird einmal wieder eine Kiste den Fluss hinabgeschwommen kommen und mit ihr neue Sehnsucht aufbrechen.
Religion ist eigentlich etwas Schönes, etwas Lebensdienliches und Bereicherndes.
Mir kam diese wunderschöne kleine Erzählung sofort in den Sinn, als ich über Navid Kermanis neues Buch nachdachte. Sie passt gut zu „Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.“ Doch wer ist Tiger und Bär? Wer oder was ist Panama in unserer Allegorie? Dazu komme ich am Ende.
Kermani möchte in seinem Buch zeigen, „dass Religion eigentlich etwas Schönes ist, etwas Lebensdienliches und Bereicherndes – dass Gott uns liebt.“ (S. 42) Er lässt diese Sätze zwar seinen verstorbenen Vater sagen, aber es wird deutlich, dass es genau das ist, was im Hintergrund des Buches steht. Kermanis Vater, eben jener, der die zitierten Sätze gesprochen hatte, hat ihm aufgetragen, diese Idee von Religion, von Gott (es geht immer wieder um beides im Buch) weiter zu geben an die eigenen Kinder. Das versucht Kermani nun in Form dieses Buches. Zumindest suggeriert es das Buch so. Er redet die eigene Tochter an, geht auf vermeintliche Fragen von ihr ein und tritt so in eine Art fiktiven Dialog mit ihr. Es ist schon von anderen angemerkt worden, dass diese Seite des Buches oft künstlich wirkt und es kaum glaubwürdig ist, dass Kermanis zwölfjährige Tochter hier wirklich als Gesprächspartnerin freiwillig zur Verfügung stand und ihrem Vater Abende lang dabei zugehört hat, wie er sie mit seinem Verständnis des Islam bzw. eigentlich eher der Religion an sich belehrte.
Aber letztlich ist es auch nicht wichtig, ob diese Gesprächssituation nun glaubwürdig ist oder nicht, wichtiger ist, dass die Erzählstimme glaubwürdig ist. Und das ist sie. Es ist die Stimme eines Vaters, wie es ihn sicher noch häufig gibt: ein bisschen witzelnd, ein bisschen belehrend, durchaus offen für Einwände, aber niemals die Deutungsmacht aus der Hand gebend. Und es ist die Stimme eines von der Religion beseelten, gelehrten Mannes in der zweiten Hälfte seines Lebens, der das, was ihn in seinem Leben trägt, weitergeben will, an seine Tochter und darüber hinaus. Der Charakter, der hier durchscheint, ist mir nicht unbedingt sympathisch, ganz anders das Unterfangen, dem ich sehr viel abgewinnen kann.
Die religionsvergleichende Kraft als Stärke des Buches.
Aber genau in dieser Anlage des Buches liegen auch die beiden großen Probleme schon mit eingeschrieben, die die vielen schönen Gedanken und auch lehrreichen Erzählungen und vor allem – das ist die wahre Stärke des Buches – die religionsvergleichende Kraft zwar nicht entwerten können, nein, aber doch ein wenig ihrer Stärke nehmen. Kermani redet über seinen Islam (und sagt das auch immer mal wieder) und will doch etwas über die Religion an sich aussagen. Nur, so einfach klappt das aber eben nicht.
Sein Islam ist liberal, weltoffen, gebildet und menschenfreundlich, er hat ihn getragen in den schweren Zeiten des Lebens und ihn beflügelt in den schönen Zeiten. Dankbarkeit und Schmerz konnte er ausmachen mit dieser Religion und ihrem Gott, die Geburt und den Tod, die Anfänglichkeit und die Endlichkeit des Lebens kann er einordnen durch seinen Glauben. Das können wir alles lesen und mit Geschichten und Lehrreichem angereichert verfolgen, im Buch. Kermani erzählt dabei durchaus überzeugend. Aber nicht laut und marktschreierisch, sondern eher leise und feingeistig. So, dass sich mir als Leser teilweise das Gefühl aufdrängt, hier geschehe gerade Mission durch Einlullung. Denn es ist mitunter schwierig, ihm zu widersprechen, aber nicht so sehr, weil die Argumente oder Geschichten so zielgenau passen, als vielmehr, weil der Erzählton einen mürbe macht, einlullt eben.
Nur wenn man es schafft, sich loszueisen und in Distanz zum Leseerlebnis zu treten, wird doch schnell wieder deutlich, dass die Tatsache, dass Kermani es schafft, die Anfänglichkeit und Endlichkeit des Lebens oder in seinen Worten, „dass wir Schmerzen haben, sterben und zu Staub werden“ (S. 48), durch den Islam so zu integrieren, dass – wie er schreibt – „dennoch alles seine Ordnung hat“, dass eben seine Religiosität, die wirklich sehr wünschenswert erscheint, nicht die eigene ist und eher auch nicht die von vielen anderen Menschen auf der Welt.
Eine Religion mit Gott als guter Macht hat nichts zu sagen.
So schade es ist, das alte Problem bleibt, dass eine Religion, die Gott hauptsächlich als „eine Art gute Macht“ (S. 231), wie er es ganz zum Schluss des Buches noch einmal knapp schreibt, versteht, denjenigen, die diese gute Macht nicht kennen lernen in ihrem Leben, denjenigen, für die nicht alles in Ordnung ist, nichts sagen kann. Das entwertet nicht die vielen lesenswerten Passagen des Buches, es nimmt ihm nicht seine Kraft als Buch eines Menschen, der sich in der islamischen wie in der christlichen Tradition auskennt und wahre komparative Theologie betreiben kann. Nein, das nicht, aber es ist dann doch ein Problem, dass diese Differenz zwischen Kermanis Religion und der Religion zu selten reflektiert wird. Und das gar nicht einmal, weil hier Subjektivität als Objektivität verkauft wird, sondern besonders, weil Kermanis Religion die eines glücklichen Mannes ist. Doch was ist mit dem Unglück, dem Leid und dem Tod?
Die Religion, die Kermani uns vorstellt, geht zwar nicht über diese dunklen Seiten des Daseins hinweg. Sie kommen schon vor. Sie werden aber durch Integration letztlich doch übergangen, denn Gott ist zwar auch derjenige, der nicht nur das Leben gibt, sondern es auch nimmt. Aber er bleibt eben doch die Ordnung schaffende, gute Macht, die Kermanis eigene Religiosität ausmacht, die Religiosität, die sein Vater offenbar schon hatte, dessen Lächeln auf dem Sterbebett ein wiederkehrendes Motiv des Buches ist. Doch wer kann schon für sich hoffen, auf seinem Sterbebett noch lächeln zu können. Schön wär’s!
Tiger und Bär brechen auf, weil ihnen der Duft der Bananen wie das Paradies erscheint. Sie lassen alles hinter sich und versuchen von dort, wo sie stehen, einen Schritt weiter zu ihrem Ziel zu gelangen. Auf dem Weg missionieren sie, erzählen erfüllt von ihrem Sehnsuchtsort, und es ist nicht so, dass niemand ihnen gerne zuhört, dass die Erzählung nicht auch etwas Ansteckendes hätte, aber es bleibt eben ihr Sehnsuchtsort, dieses Panama. Man stelle sich einmal vor, jemand mag gar keine Bananen, oder wäre gar auf Bananen allergisch, puh, er oder sie hätte die Kiste schnell weitergeschoben im Fluss und hätte Panama als Ort des Gestankes oder des Unheils abgespeichert.
Was passiert eigentlich, wenn wir einen Schritt auf das Unendliche zugehen?
In meiner Allegorie ist einmal Navid Kermani Tiger und Bär, einmal sind es die Leser und Leserinnen. Kermani hat seinen Sehnsuchtsort gefunden, im Islam. Wie Tiger und Bär erzählt er allen davon, will sie dazu überreden, aufzubrechen. Und auch wenn wir seine Geschichten, sein Wissen über Panama bewundern und es ihm gerne gleichtun würden, wir brechen dennoch nicht auf, denn es bleibt eben seine Religion. So geht es Kermani wie den beiden Freunden. Am Ende seines Buches kommt er dort an, wo er aufgebrochen ist.
Die Reise war für ihn selbst ein Erlebnis und auch die Menschen, die er getroffen hat, sind bereichert worden. Aber jeder bleibt doch dort, wo er sich schon zu Beginn befand. Sind wir, die Leser und Leserinnen, Tiger und Bär, dann ist Kermanis Buch die Bananenkiste. Wir schnuppern daran, es gefällt uns irgendwie, wir folgen der Spur, doch am Ende kommen wir dort an, wo wir losgegangen sind. Der Weg war manchmal ganz schön, manchmal anstrengend und wir sind froh, dass er nun zu Ende ist. Und vielleicht sind wir dabei wirklich, dem Titel des Buches folgend, von dort, wo wir waren, einen Schritt näher gekommen. Nur in der Religion geht es, wie Kermani es selbst schreibt, eben um das Unendliche, das Unbedingte. Was passiert eigentlich, wenn wir einen Schritt auf das Unendliche, das Unbedingte zugehen? Wir sind wohl immer noch gleich weit weg.
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Text: Konstantin Sacher ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie der Universität zu Köln und Schriftsteller.
Bild: Buchcover