Wie in einem Brennglas konzentriert das Thema Alzheimer die Ängste der Menschen. Demenz ist der verdrängte Schatten der Neuzeit, 1 ist der Theologe und Gerontopsychologe Stephan M. Abt überzeugt.
Demenz bedeutet den Verlust von Vernunft, Kontrolle und Autonomie, und das bei vollem Bewusstsein. Gerade aber über seine Rationalität definiert sich der souveräne Mensch der Neuzeit. Droht uns vor dem Sterben neben dem sozialen Tod durch Vereinsamung und Verarmung im Alter nun auch noch der rationale Tod durch Alzheimer?
Die Angst vor einer Alzheimer-Demenz hat auch entwicklungspsychologische Hintergründe. Sie erinnern uns an das frühkindliche Ausgeliefertsein an die Umwelt. Bei Umfragen („was befürchten Sie am meisten?“) steht immer an erster Stelle: Hilflosigkeit und Abhängigkeit im Alter. Die Angst vor dem Pflegeheim ist nur eine Manifestation dieser Befürchtung und hat mit dem Pflegeheim als solchem gar nichts zu tun. Das Leben der Dementen wird furchtbar anschaulich: Die Persönlichkeit wirkt schließlich nur noch als Fragment eines Menschen. Mit Descartes haben wir gelernt: „Ich denke, also bin ich.“ Wenn der Geist („mens“) uns verlässt („demens“), dann sind wir kein Mensch mehr, nichts mehr. Demente sind so das Schreckbild des Menschseins, der Verlust jedes Personseins.
Wie viel Mühe stecken wir ein Leben lang da hinein, Strukturen zu erkennen.
In Gottes Augen sind wir auch dann noch ganz. Unser fragmentarisches Sein zerstört nicht die Gottebenbildlichkeit, ob es nun „nur“ unsere Gottvergessenheit und Unvollkommenheit ist oder unser Persönlichkeitsverlust und gesellschaftliche Nutzlosigkeit. Wir sind und bleiben Gottes Ebenbild. Gottes Beständigkeit bleibt. Die Strukturen zerbrechen, aber bei Gott ist Beständigkeit. Wie viel Mühe stecken wir ein Leben lang da hinein, Strukturen zu erkennen. Auch die Religion versucht, das Transzendente in menschlich verstehbare Strukturen zu fassen. Schon weltimmanent sehen wir aber nur einen Ausschnitt, wie viel mehr erst auf das Transzendente bezogen. Gott ist immer größer. Wir reden von Gott immer kleiner als er ist.
Wir binden Gottes Liebe an unsere Verstehensbedingungen. Wir koppeln Gottes Wahrheit an das Maß unserer Erkenntnisfähigkeit. Gott kann zur Wirklichkeit werden in Klang und Wärme, Licht und Zärtlichkeit, in Träumen und Visionen. Demente Menschen sind eine Herausforderung an unsere Sprach- und Strukturverengung der Gotteserfahrung. Demente Menschen können uns lehren, Gott ineinem größeren Raum wahrzunehmen und weiterzugeben.
Lebenskrisen stellen unser Selbstbild in Frage steht. Gottvertrauen ist die Fähigkeit, auch bei zerbrechenden Strukturen noch eine sinnvolle Struktur zu erwarten. Wir erhoffen Beständigkeit und Sinnstruktur in einem umfassenderen Sinn als wir es mit unseren Maßstäben fassen können, wenn wir mit Dementen kommunizieren. Wir haben gelernt, möglichst alles in der Hand zu haben. Wir erschrecken bei Einbrüchen des Unbegreifbaren: bei plötzlicher Krankheit, bei Verlust, bei zerbrechenden Lebensplanungen. Dann zernagen wir unsere Seele.
Frei werden wir erst, wenn wir mühsam gelernt haben, loszulassen.
Das Glück des Lebens erschließt sich uns erst, wenn wir es als Geschenk empfangen können. Unsere Lebenshaltung meinte auch, sich Gott uns verfügbar machen zu können. Praktisch aber fügt sich das Leben nicht unseren Vorstellungen von Glück. Wir leiden zunehmend unter dem Verlust der Glücksfähigkeit. Zufriedenheit aber besteht mehr in der Kunst des Loslassens, das Glück ist nicht so sehr im Erreichen des Gewollten zu finden als viel mehr im Wahrnehmen des Geschenkten. Was wir so entschieden auszuklammern versuchen, begegnet uns auf erschreckende Weise im Erleben von dementen Menschen: nichts festhalten können.
Das Miterleben der Demenz ist eine Herausforderung an unseren Glauben: Das Leben nicht zu definieren aus dem, was wir haben, sondern aus dem, was uns geschenkt wird. Demente Menschen sind uns der Stachel in unserer Wertsetzung auf das Gelingen und Können hin. Glauben bedeutet in dem ursprünglichen Sinn: Vertrauen. Vertrauen lernen, obwohl man alles Vertraute loslassen muss, das ist die ungeheure Aufgabe, die dementen Menschen (und nicht nur ihnen) auferlegt ist.
Motorische, alltagspraktische, kognitive und spirituelle Aktivierung (MAKS-aktiv)
Seit 2008 arbeiten fünf Demenzkompetenzzentren der Diakonie Neuendettelsau mit MAKS-aktiv (www.maks-aktiv.de). Die Abkürzung steht für motorisches, alltagspraktisches, kognitives und spirituelles Aktivierungstraining für Menschen in Pflegeheimen, die von Gedächtnisstörungen betroffen sind. An sechs Tagen in der Woche werden körperliche und geistige Fähigkeiten der an Demenz Erkrankten gezielt gefördert. In der u.a. von der Universität Erlangen-Nürnberg durchgeführten Begleitforschung konnte nachgewiesen werden, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer durch das MAKS-Aktivierungstraining ihre geistigen und alltagspraktischen Fähigkeiten länger erhalten, selbstständiger bleiben, weniger Pflege benötigen und damit ihre Lebensqualität auf einem höheren Niveau halten können als ohne MAKS-aktiv.
Die Besonderheit des Konzepts ist, dass es auch die spirituelle Dimension thematisiert und realisiert. Im Gegensatz zu anderen nicht-medikamentösen Therapien fördert die MAKS-Aktivierungstherapie mehrerer Fähigkeitsbereiche und ist speziell auf die Bedürfnisse von Menschen mit Gedächtnisproblemen ausgerichtet. Die spirituelle Aktivierung ergibt sich auch aus dem Wesensauftrag der Diakonie und dem christlichen Menschenbild. Demnach ist der Mensch „essentiell“ religiös, er steht in einer wesentlichen Beziehung zu Gott. Wenn es also um Aktivierung von Grundvollzügen, Förderung von Ressourcen geht, dann kann es nicht nur um akzidentielle Fähigkeiten gehen, sondern es muss die wesentliche substantielle Fähigkeit, nämlich die der Religiosität, dazukommen bzw. vorangehen.
Diese spirituelle Fähigkeit unterscheidet sich also von den anderen (motorisch, alltagspraktisch, kognitiv). Sie liegt tiefer und reicht weiter, und ist schwerer, bzw. nicht so leicht zu erreichen. Der Mensch ist nicht nur eine Episode der Geschichte des Eiweißmoleküls, sondern der Tragende und Getragene einer höheren Geschichte. Bei der spirituellen Einstimmung geht es nicht (nur) um ein Lied, das eben mit einem frommen Text unterlegt ist, sondern um einen existentiellen Grundvollzug: den der Beziehung zum Wesenskern. Der Mensch findet erst in der Beziehung zu Gott sich selber, weil er erst im Transzendenzbezug Erfüllung findet.
Die spirituelle Aktivierung will dieser unbedingten Grunddisposition des Menschseins gerecht werden. Zu diesem Selbstvollzug des Menschen gehört, dass ihm, dem wesenhaft dialogischen Wesen, von Gott her ein Angesprochensein geschenkt ist; dieses Angesprochensein begegnet dem Menschen im Wort Gottes, nämlich in Jesus Christus (wiederum) als Person. Themen der spirituellen Einstimmung sind: Getragensein, Gesegnetsein, Angenommensein, Schuld, Scheitern, Versöhnung, Erlösung, Endlichkeit und Tod, Liebe und Freude, Vollendung, Dankbarkeit usw.
Es geht in der spirituellen Einstimmung um: Erhalt des Gleichgewichts des Lebens; Erhalt und Stärkung der Identität; Erträglichmachen von Desorientierung; Erträglichmachen von Krankheit und Leid, das Durchstehen eines Weges; Empathie und Würdigung in der Begleitung; Kunde vom innersten Wesen anderen Lebens; Aktuierung der Grundlage einer participation mystique; Erleben nicht nur eines Außen, sondern auch eines Innen; Erfahrung eines unbedingten Getragenseins.
Wir haben ein wichtiges Element der Lebenskunst verloren: Loslassen zu können.
Im Gottesdienst mit dementen Menschen vertrauen wir die zerbrechenden Strukturen unserer Persönlichkeits- und Wirklichkeitsdefinitionen einer umfassenderen Sinnstruktur Gottes an. Wir können Lebenskrisen nur sinnvoll bewältigen, wenn wir auf neuen Sinn hoffen, obwohl wir nichts erkennen können. Nur so können wir von Gottes bleibender Gegenwart hoffend reden. Im Loslassen gewinnen. Gotteserfahrung als Beschenktwerden. Wir haben ein wichtiges Element der Lebenskunst verloren: Loslassen zu können.
„Nicht-demente“ Menschen können erst dann eine spirituelle Einstimmung oder einen religiösen Vollzug initiieren und gestalten, wenn sie sich zuerst jene Wahrheit zueigen gemacht haben, die „demente Menschen“ ihnen mitteilen. Nach Felicitas Muntanjohl 2 weist Demenz uns alle theologisch darauf hin: Leben ist Fragment, Gottes Beständigkeit bleibt, im Loslassen können wir gewinnen, unser Leben ist ein Fragment, aber wir sind Gottes Ebenbild, jedes Leben ist ein Fragment. Wir sind nicht, die wir sein könnten und sollten. Das gilt nicht nur in einem ethisch-moralischen Sinne, sondern wir sind sozusagen konstitutionell Fragment.
Jesus aber war provokant auf dem Weg zu den Gestrandeten. Die, deren Leben nicht geglückt war, die erstaunte er mit seiner Aufmerksamkeit und versicherte sie der Liebe Gottes. Unsere Gesellschaft verschließt vor Angst und Schrecken die Augen davor. Zu bedrohlich wirkt, was aus Menschen werden kann. Die strukturelle und zeitliche Orientierung gehen verloren, und die Sprachfähigkeit reduziert sich; auf der anderen Seite bleiben die sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten erhalten und die seelische Bedürftigkeit nimmt zu.
Ein entscheidendes Merkmal dabei ist: Der Geist schafft es nicht mehr, logische Verknüpfungen zu bilden. Jedenfalls nicht mehr im üblichen Sinn. Allerdings gibt es auch bei Dementen noch die Fähigkeit, Bleibendes in der sich auflösenden Wirklichkeit zu erkennen. Etwas wieder zu erkennen ist eine beruhigende und stärkende Entdeckung. Es ist wichtig, dass im Gottesdienst die dementen BesucherInnen das „Aha“-Erlebnis des Wiedererkennens erleben können: die alten Lieder (wenn „Lobe den Herren“ oder „So nimm denn meine Hände“ erklingt, singen demente Menschen und Tränen rollen über die Wangen) und Gebete; eine Struktur, in die man sich vertrauensvoll hineingeben kann; die stets gleiche Struktur hilft, inmitten der verfallenden Strukturen eine Ahnung und Hoffnung des zeitlos Ewigen zu vermitteln.
Die bekannten liturgischen Elemente machen entgegen dem Zeitverfall des Alltags die vergangenen Zeiten als Gegenwart erfahrbar. Gottesdienst ist Vergegenwärtigung der Geschichte. In den liturgischen Gesängen wird das Staunen und Schaudern erlebbar. Was vielleicht Worte und Fotos nicht mehr erreichen können, kann nun diese Stimmung, die es nur in einem Gottesdienst gibt. tgegen dem Zeitverfall des Alltags die vergangenen Zeiten als Gegenwart erfahrbar. Gottesdienst ist Vergegenwärtigung der Geschichte.
Die Betonung der eigenen Persönlichkeit findet über heftige gefühlsmäßige Reaktionen statt: Abwehr, Wut und Aggression, aber auch Zuwendung, Zärtlichkeit und Dankbarkeit. Im Zusammenleben zeigt sich eine große Hilfsbedürftigkeit und Sehnsucht nach Anerkennung. Für den Gottesdienst bedeutet das, dass wir einer großen Bandbreite und Reaktionen begegnen: von großer Freude des Wiedererkennens bis zur Scheu und Abwehr. Das kann irritierend sein, aber auch beglückend: keine andere BesucherInnengruppe eines Gottesdienstes freut sich so unmittelbar und herzlich über einen Gottesdienst.
Was ist Glaube, wenn Sprache kaum noch zur Verfügung steht?
Für die Durchführung des Gottesdienstes bedeutet die sprachliche Reduzierung eine Herausforderung. Was ist Glaube, wenn Sprache kaum noch zur Verfügung steht? Wir sind gefordert, unsere Glaubensüberzeugungen zum Leben, zum Menschen, zu Gott klar und einfach zu sagen. Für die dementen Menschen aber sind klare Aussagen wichtig. Die Sprache muss an Selbstverständliches anknüpfen, darf und soll ruhig wiederholend sein. An dieser Stelle zeigt sich eine besondere Herausforderung für uns. Wer ist Gott für uns angesichts von Angst und Verunsicherung? Und wie drücken wir dies aus, wenn die Sprache nicht mehr reicht?
Es geht nicht alles verloren in der Demenz. Die sinnlichen Wahrnehmungsfähigkeiten bleiben erhalten und gewinnen an Bedeutung: Das Schmecken, das Hören, das Tasten, das Sehen … Jede Predigt sollte zur Grundlage ein sinnliches Objekt haben, an dem die Aussagen des Glaubens anschaulich, berührbar, fühlbar werden; schmecken, sehen, fühlen, spüren. Glaube muss mehr sein als Denken. Er muss Erfahrung sein, die Mut zum Leben macht. Für Demente gilt das in besonderem Maß.
Es zählt nur noch die Ausstrahlung, die die Menschen haben.
Was nicht abnimmt, sondern sogar noch zunimmt, ist die seelische Bedürftigkeit. Das Bedürfnis nach Zuwendung, Anerkennung und vielleicht auch nach Zärtlichkeit wird umso größer. Es zählt nur noch die Ausstrahlung, die die Menschen haben: Wirken sie liebevoll und zugewandt oder streng und fordernd? Meinen sie es gut mit einem? Das bedeutet für den Gottesdienst: Er soll von der Frohen Botschaft bestimmt sein, von der unglaublich großen Wertschätzung des Menschen durch Gott! Im Gottesdienst soll das Grundgefühl sein: Hier darf ich so sein, wie ich bin! Hier werde ich nicht auf meine Schwachheit hingewiesen. Hier bin ich ein ganzer, ein wertgeschätzter Mensch. Glaubenssätze sind Positivaussagen: Gott liebt dich so wie du bist! Vor Gott bist du schön! Gott mag dich auch, wenn du dich traurig und unfähig fühlst! Gott vergisst dich niemals!
Text: Stephan M. Abt; Bild: Karin Bangwa, pixelio.de
- Foucault, Michel, Wahnsinn und Gesellschaft, franz. 1961, dt. Frankfurt 1973, hier: Die Gruppe der Demenz, S. 256; diesen Hinweis verdanke ich Marcello Cofone. ↩
- Muntanjohl, Felizitas, Mit dementen Menschen Gottesdienst feiern, Forum I auf dem 2. Intern.
Kongress für Altenseelsorge in Karlsruhe, 09. – 11. Okt. 2006; Muntanjohl, Felizitas, Ich will euch tragen bis zum Alter hin, Gütersloh 2005. ↩