«Worauf wollen wir denn Bezug nehmen als zukünftige Kirche, wenn nicht einmal mehr die Kenntnis einer kleinen Auswahl biblischer Texte im Allgemeinwissen verankert ist?», fragt Silvia Schroer. Und sie erinnert daran, dass der Verlust des «Hauses» der biblischen Sprache heimatlos macht und es eine Aufgabe von Christ:innen und Theolog:innen ist, dieses Haus zu bewohnen und zu bewahren – in aller Offenheit für Gäste und Besucher:innen bei Gelegenheit.
Vor mir liegen zwei verblichene und aus der billigen Heftung gebrochene quadratische Büchlein, dünn mit etwa 30 Seiten. Der Wolfgang Fietkau Verlag veröffentlichte in den 60er Jahren und dann mit weiteren kleinen Auflagen Texte von Dorothee Sölle unter Titeln wie «Die revolutionäre Geduld» oder «Meditationen & Gebrauchstexte».
Dorothee Sölle war Christin und Theologin, sie kannte die biblischen und die theologischen Traditionen, sie nahm in allem, was sie schrieb, immer wieder Bezug darauf, auf die Jesus-Überlieferung, auf die Exodus-Geschichten. Ihre Gedichte lassen diese Bezüge oft mit nur einem Wort oder einem Motiv anklingen. Ihre Texte haben damals Menschen gelesen, die in kirchlichen Kreisen oder am Rande dieser Kreise aufgewachsen waren und lebten. Sie verstanden die Anklänge.
Argumente für die überwindung der ohnmacht 1
Wir haben den längeren atem
wir brauchen die bessere zukunft
zu uns gehören leute mit schlimmeren schmerzen
die opfer des kapitals
bei uns hat schon mal einer brot verteilt
das reichte für alle
Wir haben den längeren atem
wir bauen die menschliche stadt
mit uns sind verbündet die rechtlosen in den anstalten
und die landlosen in den städten
zu uns gehören die toten des zweiten weltkriegs
die endlich zu essen haben wollen gerechtigkeit
bei uns ist schon mal einer aufgestanden
von den toten
(Reiseerfahrungen 4) Der reichtum der armen 2
Kinder ohne schuh
das hemd schon verwachsen
dem fahrrad fehlen schrauben
sie tragen behutsam
wie man die hostie hält bei uns
das zeichen des lebens
das tintenfaß
Das Schicksal des nicht mehr erklärungslosen Verstandenwerdens
Es wird nicht mehr lange dauern und die Texte von Dorothee Sölle werden einen Kommentar oder Fussnoten brauchen, damit ausser einigen wenigen SpezialistInnen noch ein paar weitere Leser:innen verstehen, auf wen sich das Brotverteilen bezieht, was eine Hostie ist und was der Vergleich eines Tintenfasses mit einer Hostie bedeutet. Natürlich ist das Schicksal des nicht mehr erklärungslosen Verstandenwerdens kein Einzelschicksal, es gehört zur Zeitgebundenheit von Literatur, ob Homers Ilias, biblische Texte, deutsche Minnelyrik oder Shakespeare.
Warum trifft es mich im Fall der Gedichte von Dorothee Sölle so sehr? Weil sie ihre Texte nicht nur für ein Insider-Publikum schrieb, sie war eine Dolmetscherin zwischen Menschen unterschiedlicher Tradition und Zuordnung, sie konnte verschiedene Sprachen, neben «biblisch und christlich» auch «mystisch» oder «marxistisch». Ihre Texte – nicht nur die Gedichte – sind voller Realität, Alltag, Gedanken über schreckliche Erfahrungen von Menschen ihrer Zeit, voll von politischen Gedanken, und wie ein Funke leuchtet darin oft ein Hinweis auf eine biblische Erzählung oder eine Figur auf, ein Erlebnis, eine Reflexion erscheint nochmals in anderem Licht. Dorothee Sölle war Schriftstellerin, Literatin. Sie war als Theologin, Philosophin, Literaturexpertin sprachmächtig, ihre Texte, insbesondere die poetischen, aber auch die anderen, sind Kunstwerke, jeder Vers und jeder Satz hat seine Qualität und auch Bestand, ist schön wie ein Kristall.
Das ist aussergewöhnlich, wir können unsere Fähigkeiten oder die von anderen schreibenden Theolog:innen nicht an ihr messen. Es macht mich traurig, dass der Reichtum ihrer Texte von immer weniger Menschen rezipiert werden kann.
Grundlegender und viel beunruhigender ist, was sich an diesem Beispiel symptomatisch zeigt. Das ist nicht neu, wir wissen es schon lange und müssen zusehen, aber wie bei der Klimaerhitzung fallen uns die harten Fakten irgendwann zunehmend auf den Kopf oder vor die Füsse, der Gletscherschwund und die Erosionen nehmen in gewaltigem Tempo zu. Irgendwann sind diese Vorgänge irreversibel. Die Kenntnis biblischer Traditionen oder auch nur einer kleinen Auswahl biblischer Texte ist nicht mehr im Allgemeinwissen verankert und auch bei Menschen in christlichen Kreisen nicht mehr fundiert. Bei Getauften, sogar Gefirmten oder Konfirmierten ist aktive Bibelkenntnis, aber auch ein Grundwissen um die Bedeutung der kirchlichen Feste immer mehr die Ausnahme. Selbst bei Theologiestudierenden kann das, was früher Bibelkunde hiess, längst nicht mehr vorausgesetzt werden, weil weder im Schulunterricht noch in der Öffentlichkeit oder zuhause biblische Namen, Orte, Erzählungen vorkommen. So ist bei Studienbeginn häufig fast nichts vorhanden oder gar abgespeichert im Langzeitgedächtnis.
Diese epochale Entwicklung ist hierzulande unaufhaltsam – aber die Schweiz ist nicht der Nabel der Welt und die heilige Geistkraft ist glücklicherweise frei in der Ortswahl, um alles neu zu machen. Das ist eine Hoffnung, aber sie entbindet uns nicht von der Verantwortung in unserem Kontext.
Es ist nicht egal, worauf wir uns beziehen
Auf das Alte und Neue Testament bezieht sich die christliche Religion als auf ihre gründenden und normativen Texte. Ein Kanon von Texten ist zwar keineswegs in Stein gemeisselt, aber als Referenzsystem kann man ihn nicht zur Seite legen, auswechseln oder schnell verändern. Dabei geht es mir in diesem Zusammenhang nur um Inhalte, nicht um Kanonizität und Heiligkeit von Schriften. Wir beziehen uns auf Geschichte und Geschichten, auf Figuren (ob historische oder fiktive), auf Länder, Flüsse und Orte, auf Festkalender, auf Gesetzestexte oder Gebete, die Einzelne oder Gemeinden gebetet haben. Das Christentum hat einen sehr grossen Teil seines Kanons an heiligen Schriften aus der Ursprungsreligion, dem Judentum übernommen. Worauf wollen wir denn Bezug nehmen als zukünftige Kirche, wie immer sie dann in Zukunft aussehen wird?
Reichen universale Friedensideen, ethische Grundsätze oder der Anspruch, an «etwas» zu glauben, um eine Religion lebendig zu erhalten?
Der kleinste gemeinsame Nenner oder das Vokabular oder die Weisheit, auf die sich religiös Interessierte aller Herkunft und Couleur einigen könnten – sind sie denkbar und sinnvoll ohne die tiefere Verwurzelung in einer eigenen Tradition? Wären sie nicht auch völlig langweilig und in ihrer Abstraktion gefährlich phrasenhaft? Wollen wir ganz darauf verzichten, dass in christlichen Kreisen noch gewusst wird, was genauer es mit Festen wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten auf sich hat, wer Abraham, Sara und Hagar, wer Mose, David, Rut, Jesus, Maria von Magdala oder Paulus war? Kann es uns egal sein, wo und wann sich diese Geschichten abspielten? Werden wir uns der allgemeinen Unwissenheit anschliessen oder arbeiten wir für den Erhalt von einer Portion speziellerem Wissen und Bezugnahme auf Erzählungen und Namen?
Die Verwurzelung in Traditionen kann lebensrettend sein
Wie identitätsstiftend und lebensrettend eine solche Verwurzelung sein kann, wissen wir beispielsweise aus den Spirituals, die schwarze Sklaven und Sklavinnen gesungen haben und die heute noch gesungen werden «When Israel was in Egypt’s Land» – die Erfahrung der Unterdrückung wird in eine biblische Tradition eingebettet, in der es ebenfalls um die Erfahrung von Versklavung und das Unrecht der Unterdrückung durch eine Übermacht geht. Die Erinnerung daran in einem Lied gab und gibt Kraft.
Sprache gehört zu dem grösseren Komplex, der «Heimat» ausmacht. Die biblischen Wörter und Erzählungen waren über Generationen ein Angebot an «Beheimatung» in einer gemeinsamen Sprache, eine Wohnung, die man geteilt hat, wo man sich ohne Dolmetschen verständigen konnte. Als Israel in Ägypten war – eine Geschichte wird aktiviert durch das Singen eines Liedes, eine Gegenwart wird erhellt, Kraft wird aus der Erinnerung an Ursprünge und aus der Gemeinschaft generiert. Wie ungeheuer hilfreich es sein kann, wenn wir zurückgreifen können auf das, was schon erzählt und formuliert wurde, wenn wir hineingehen können in dieses Haus der biblischen Sprache oder der daraus entstandenen Lieder, haben viele von uns oft erfahren. Wie schwer ist es, beim endgültigen Abschied von einem Menschen gute, tröstende Worte zu finden, wieviel leichter, wenn wir Verse aus einem Psalm oder einem Paulusbrief oder einem Kirchenlied «ausleihen» können, wenn wir in der Sprachlosigkeit noch eine Sprache und einen Unterstand finden, eine Art Dach über dem Kopf. Dafür braucht es allerdings ein Minimum an Gemeinde – einige Menschen, die sich auf diese Weise noch verständigen können und andere mit hineinnehmen in ihr Haus der Sprache. Es ist viel wert, wenn in Krankheit und Sterben, bei Schicksalsschlägen und in grosser Verzweiflung noch etwas in der «Apotheke» ist, z.B. ein noch auswendig gewusstes Vaterunser, ein Psalmvers, ein Kirchenlied. Wenn es zu Ende ist mit dem Reden, wenn es uns die Sprache verschlägt, sind wir froh um diese Helfer. Auch wenn es uns vor Glück die Sprache verschlägt, ist es grossartig, in einer gemeinsamen Sprache zu jubeln, nicht nach Wörtern suchen zu müssen.
Christ:innen und Theolog:innen tragen eine Verantwortung
Das Aussterben der biblischen «Sprache» bedeutet Heimatlosigkeit, Orientierungslosigkeit und sogar Obdachlosigkeit. Es nützt nichts zu beklagen, dass die Erosion weit fortgeschritten ist, ein verlorenes Allgemeinwissen und kulturgestützte Rückbezüge auf biblische Traditionen lassen sich nicht wiederherstellen und offenbar auch nicht retten. Aber von Christen und Christinnen etwas mehr zu erwarten als von der Gesellschaft, ist nicht vermessen. Und von Theologen und Theologinnen zu erwarten, dass sie das Haus kennen und bewahren, Hausmeister:innen und Schatzverwalter:innen sind, jederzeit zur Einführung, für Gäste, für Suchende bereit, auch wenn da zurzeit kein Kommen und Gehen ist, das gehört zum Berufsethos und darf nicht aufgegeben werden.
Denn worauf würden wir uns beziehen, wenn niemand mehr die Texte, die Symbole, die grossen Wörter, die Namen, die Vielstimmigkeit, die Provokationen der biblischen Tradition kennt?
Silvia Schroer, *1958, katholische Theologin, seit 1997 Professorin für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Bern, bis Juli 2023 Vizerektorin Qualität der Universität Bern; zahlreiche Publikationen zu Weisheits- und Schöpfungstheologie, Biblischer Anthropologie, Religionsgeschichte und Ikonographie Palästinas/Israels; Gründerin und Mitherausgeberin der elektronischen Zeitschrift für feministische Exegese lectio difficilior.
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