«Helfen ist Macht». Von dieser These geht der Luzerner Theologe Lukas Fries-Schmid in seinem Buch «Hör auf zu helfen» aus. Er hinterfragt die urchristliche Tugend des Helfens und plädiert stattdessen für die Ohnmacht, die zum Einfallstor einer Gotteserfahrung werden kann. Sylvia Stam hat das Buch gelesen.
«Hör auf zu helfen» – das ist leicht gesagt, wenn ich meiner betagten Mutter gegenüber sitze, die auch nach einer Operation noch so starke Schmerzen hat, dass sie jegliche Lebensfreude zu verlieren droht. Wie gerne würde ich dem Freund helfen, der seit Monaten unter Schlaflosigkeit leidet und schon alles versucht hat, um Schlaf zu finden. Doch genau in solche Erfahrungen hinein fordert mich der Luzerner Theologe Lukas Fries-Schmid heraus: Hör auf zu helfen!
«Helfen ist Macht»
Fries stellt damit keineswegs Sinn und Notwendigkeit von Hilfe in Abrede. In der Kritik steht vielmehr eine Haltung, die Helfen als verkappten Ausdruck von Macht versteht. «Helfen ist Macht» lautet denn auch seine provokative These. «Helfen macht Lust, weil ich mich dabei stark fühle und etwas bewirken kann», erläutert Fries. Seine zugespitzte Formulierung lässt erkennen, dass es bei einer solchen Haltung letztlich um die Person des Helfers geht.
Bei der Lektüre leuchtet das Problematische an dieser Haltung durchaus sein. Im eigenen Alltag aber dürfte so mancher Leser und manche Leserin den Wunsch kennen, unbedingt etwas tun zu wollen, um das Gegenüber von seinem Leiden zu erlösen. Entsprechend liest sich das Buch durchaus auch dann mit Gewinn, wenn man nicht in einem seelsorgerlichen oder helfenden Beruf tätig ist.
Spirituelle Quellen
Die kurzen Kapitel beginnen jeweils mit einem lyrischen Text. Damit gibt der Autor gleichzeitig Einblick in die Quellen, die seinem Gottes- und Weltbild zugrunde liegen: Hier finden sich Gedichte des zeitgenössischen Autors und Herbert-Haag-Preisträgers Andreas Knapp; der französische Mystiker Franz von Sales wird ebenso zitiert wie der ungarische Jesuit und Kontemplationslehrer Franz Jalics; eine Entdeckung sind die Texte der Winterthurer Pfarrerin Ruth Näf Bernhard und der Luzerner Theologin Jacqueline Keune.
Lebens- und Wirkungsfeld: Sonnenhügel – Haus der Gastfreundschaft
Dass Lukas Fries-Schmid selbst der Versuchung, unbedingt helfen zu wollen, schon oft erlegen ist, verdeutlicht der Seelsorger anhand vieler Beispiele aus seinem Lebens- und Wirkungsfeld: Dem Sonnenhügel – Haus der Gastfreundschaft im luzernischen Schüpfheim.
Hier lebt Lukas Fried-Schmid zusammen mit seiner Frau Sandra Schmid Fries und den beiden Kindern in einer kleinen Kerngemeinschaft, zu der ich selber während drei Jahren gehörte. In einem ehemaligen Kapuzinerkloster bietet der Sonnenhügel Gästen, mehrheitlich in Krisenphasen ihres Lebens, vorübergehend ein Zuhause. Es sind Menschen, die aus einer psychiatrischen Klinik entlassen wurden, jedoch noch nicht stabil genug sind, um ihren Alltag wieder selber zu gestalten. Andere versuchen, durch ihren Aufenthalt im Sonnenhügel einen Klinikeintritt zu verhindern oder nach einem Burn-Out wieder Lebensenergie zu tanken. Sie leben zwischen einer Woche und einem halben Jahr im Sonnenhügel. Hier erwartet sie ein strukturierter Alltag mit gemeinsamen Mahlzeiten, einem Vormittag mit Haus- oder Gartenarbeit und die Gewissheit, dass immer jemand da ist, denn die Kerngemeinschaft lebt vor Ort. Sie pflegt zwei Gebetszeiten pro Tag, die für die Gäste freiwillig sind.
Die «grossen Fragen des Lebens»
«Als Kerngemeinschaft leben wir einen Alltag, der trägt. Dieser Alltag ist nun gefragt. Wir haben Erfahrungen, die wir teilen können. Ich habe einen Glauben, der mich trägt. Ich habe Antworten auf meine Fragen, die vielleicht auch Antworten für den Hilfesuchenden sein können. Helfen heisst: Ich kann etwas tun», beschreibt Fries in seinem Buch die Situation, wenn ein Gast an der Klosterpforte klingelt und um Hilfe bittet. Für Fries ist dieses «Etwas-tun-Wollen» jedoch nicht nur ein Ausdruck von Macht, sondern sogar von Missbrauch. Die Helfende missbrauche den Hilfesuchenden, um die eigene Ohnmacht nicht aushalten zu müssen.
Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?
Hier stutze ich als Leserin einen Moment: Was hat die Hilfsbedürftigkeit eines anderen Menschen mit meiner eigenen Ohnmacht zu tun? Laut Fries-Schmid konfrontiert der Hilfesuchende die Helfende mit den «grossen Fragen des Lebens», die sich vor allem in Krisenphasen zeigten. Er meint Fragen wie: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? «Die Hilfesuchende wird im Extremfall zu einer Bedrohung für mein eigenes Glück, indem sie mich an meine eigenen dunklen Seiten und ungelösten Fragen erinnert», so der Autor.
Anstatt Macht auszuüben und dadurch eine Distanz zum Hilfesuchenden zu schaffen, plädiert er für ein Miteinander. Dies impliziert, dass sich die Helfende selbst in die Beziehung zum Hilfesuchenden einbringt. «Das geht nur, indem wir aufhören, füreinander da zu sein, und beginnen, miteinander zu leben.»
Das Leben teilen
Genau dies unterscheidet den Sonnenhügel, als dessen Konzept das Buch gelesen werden kann, von psychiatrischen Kliniken und anderen Therapiestationen: Die Kerngemeinschaft lebt mit den Gästen zusammen. Sie teilen vormittags Hausarbeiten wie Einkaufen, Putzen, Kochen und Gartenarbeiten untereinander auf, essen gemeinsam und spülen das, was sie zusammen schmutzig gemacht haben, nach dem Essen in der grossen Küche von Hand wieder sauber. Auch die Zwillingstöchter von Lukas Fries-Schmid und seiner Frau Sandra Schmid-Fries essen mit den Gästen am langen Tisch im Refektorium, ehe sie nachmittags wieder zur Schule gehen. «In einem Haus wie dem Sonnenhügel gibt es keinen klassischen Feierabend», schreibt Fries, der durchaus mit der Einzigartigkeit dieses Modells kokettiert. Als ehemaliges Mitglied der Kerngemeinschaft weiss ich allerdings auch um die Schwierigkeit, sich abzugrenzen und regenerieren zu können. Dies ist jedoch im Buch nicht explizit Thema.
Vielmehr wird anhand dieses Alltags mit den Gästen sichtbar, wie Fries dieses Miteinander versteht: «So bleibt die Person in der Krise auch nach einem schwierigen Begleitgespräch da – und ich mit ihr und bei ihr. (…) Wir sitzen, nachdem wir ihre Tränen ausgehalten haben, mit unserer Gästin am Tisch beim Essen. (…) Zwar würden wir ihr gerne helfen, aber im Moment kann nichts Weiteres getan werden.»
Demütige Haltung
Es ist diese simple Feststellung, die den Paradigmenwechsel im Verständnis von Helfen aufmacht, auf den es Fries ankommt. Wer anerkennt, dass «nichts Weiteres getan werden kann», lässt die damit verbundene Ohnmacht zu und hält sie aus. Dies erfordere, im Unterschied zum machtvollen Tun, geradezu eine demütige Haltung. «Eine Situation aushalten bedeutet, die Möglichkeit zuzulassen, dass es einen Ausweg gibt, wo ich meine, dass es keinen geben kann.» Auf diese Weise könne Ohnmacht zum Einfallstor für eine Gottesbegegnung werden.
Es ist eine ausgesprochene Stärke des Buches, dass solche anspruchsvollen theologischen Gedankengänge immer wieder auf den Boden heruntergeholt werden durch handfeste Beispiele aus dem Alltag, der im Fall des Autors auch ein Familienalltag ist. Dies wird insbesondere im letzten Teil des Buches deutlich, in dem er der Frage nachgeht, wie das Aushalten von Ohnmacht eingeübt werden kann.
Das Aushalten von Ohnmacht einüben.
Ein wichtiger Schritt ist auch, die letzte aller Fragen zuzulassen im Versuch, realistisch zu bleiben, statt in einseitigen Optimismus oder Pessimismus zu verfallen. Fries beschreibt dazu ein Abendritual, bei dem sich die Familienmitglieder vor dem Schlafengehen drei Dinge erzählen, für die sie an diesem Tag dankbar sind. Zweifel zulassen und Klagen aussprechen nennt er als weitere Übungswege. Gebete formulieren, die ergebnisoffen sind und Gott damit Spielraum lassen. Und nicht zuletzt: Schweigen. Das kontemplative Gebet nimmt im Leben des Autors und damit auch im Buch einen wichtigen Platz ein. Es sind nebst den Beispielen aus dem Sonnenhügel-Alltag diese persönlichen Erfahrungen des Autors, die das Buch von spirituell-theologischer Literatur ebenso unterscheiden wie von einem psychologischen Ratgeber. Dies gipfelt in einem eindrücklichen Schlusskapitel: Hier beschreibt Fries-Schmid, welche Erfahrungen er macht, wenn er die letzte aller Fragen im Schweigen zulässt und aushält: Existiert Gott?
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Sylvia Stam, Germanistin und Journalistin, war von 2009 bis 2012 Mitglied der Kerngemeinschaft im Sonnenhügel. Sie ist heute als Redaktorin verschiedener kirchlicher Medien tätig.
Beitragsbild und Fotos: Lukas Fries-Schmid
Lukas Fries-Schmid: Hör auf zu helfen. Ohnmacht als Tor zum göttlichen Geheimnis, Echter: Würzburg 2022
Buchvernissage: Fr, 8. April 2022, 20:00 Uhr, Klosterkirche Schüpfheim