Konsequenzen aus der neuen Grundordnung der deutschen Bistümer. Von Jochen Sautermeister.
Ein Paradigmenwechsel.
Wenngleich noch manche Fragen ungeklärt sind, stellt die neue Grundordnung des kirchlichen Dienstes in der Fassung des Beschlusses der Vollversammlung des Verbandes der Diözesen Deutschlands vom 22. November 2022 zweifelsohne einen Paradigmenwechsel dar. Dass sexuelle Identität und Lebensform von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kein Kriterium für den kirchlichen Dienst mehr sind, um „Repräsentantinnen und Repräsentanten der unbedingten Liebe Gottes und damit einer der Menschen dienenden Kirche“ (Artikel 2 Abs. 2) zu sein, ist ein theologisch-ethisch überfälliger wie arbeitsrechtlich unvermeidlicher Schritt. Dieser ist nötig, damit kirchliche Einrichtungen weiterhin ihren Aufgaben nachkommen können – ganz abgesehen von der Entlastung vieler Menschen, die voller Überzeugung in der Kirche arbeiten und bislang vital-existenzielle Seiten ihres Lebens verbergen, intimste Fragen hinsichtlich ihrer Lebensführung erdulden und Diskriminierung erleiden mussten, was die psychosoziale Gesundheit der Betroffenen gefährdet und die Botschaft von der unbedingten Liebe Gottes konterkariert.
Besorgte Reaktionen, dass mit der neuen Grundordnung das katholische Profil verwässert und die Glaubwürdigkeit des Zeugnisses der Kirche gefährdet würden, lassen vermuten, wie tief die tatsächlichen Irritationen für manche sind. Noch weitgehend unthematisiert sind dagegen die Konsequenzen, die sich aus der Grundordnung für das kirchliche Führungspersonal ergeben. Sie sind der Sache nach weit gravierender, als manchen bewusst oder recht wäre. Denn sie betreffen die Dynamiken und Gestaltung von Macht, Aufsicht und Kontrolle sowie die Auswahl des Führungspersonals, wie es grundsätzlich für das Gelingen von Organisationen erforderlich ist.
Die Primäraufgabe einer Organisation bildet ihren Sinn
Wenn man die institutionell verfasste Kirche als eine Organisation betrachtet, dann kann eine organisationstheoretisch-systemische Perspektive helfen, die organisationalen Eigengesetzlichkeiten besser zu verstehen.[1] Der Zweck einer Organisation definiert sich durch ihre Primäraufgabe, die zugleich die Interaktion zwischen der Organisation und ihrer Umwelt bestimmt. In der Realisierung der Primäraufgabe arbeiten alle Mitglieder einer Organisation mit ihren je unterschiedlichen Aufgaben zusammen. Eine funktionierende Organisation stellt ein offenes System dar und ist durch einen zweckmäßigen Austausch von System und Umwelt sowie der Interaktion zwischen den Subsystemen gekennzeichnet.
Die Primäraufgabe einer Organisation bildet ihren Sinn, an dem sich das Miteinander der Mitglieder sowie der Austausch der Organisation mit der Umwelt zu orientieren und zu bemessen haben. Wenn eine Organisation jedoch nicht mehr ihrer Primäraufgabe nachkommt und die spezifische Organisation-Umwelt-Interaktion beeinträchtigt ist, dann hat das eine zunehmende Schließung des Systems zur Folge. Ein geschlossenes System ist nur mit sich selbst beschäftigt. Die Organisation droht ihren Sinn zu verlieren.
Wenn die Führungsspitze nicht adäquat leitet, wäre es verantwortungsvoll, wenn Mitglieder der Organisation auf Fehlentwicklungen hinwiesen.
Die Aufgabe von Führungskräften ist es, dafür zu sorgen, dass die Primäraufgabe einer Organisation erfüllt werden kann und auch erfüllt wird. Sie haben darauf zu achten und die Bedingungen dafür zu schaffen, dass die Subsysteme zielführend miteinander interagieren und der Austausch der Organisation mit der Umwelt funktioniert. Diese Gewährleistungs- und Steuerungsfunktion ist für Organisationen zentral und ist auf jeder Ebene, in jedem Verantwortungsbereich bzw. in jedem Subsystem zu verwirklichen. Sollte ein Subsystem seine Aufgabe für die Realisierung des Primärzwecks nicht mehr erfüllen, dann kommt es der Leitung der übergeordneten Ebene zu, das zu erkennen und entsprechende Maßnahme zu ergreifen. Für den Erfolg von Organisationen sind solche Kontroll- und Aufsichtsposten notwendig. Dies gilt für alle Ebenen bis hin zur Führungsspitze. Wenn jedoch die Gewährleistungs- und Steuerungsfunktion der obersten Führung ausfällt, wirkt sich das auf die ganze Organisation aus und gefährdet deren Aufgabe.
Je hierarchischer eine Organisation strukturiert ist, desto wichtiger ist es, dass insbesondere die oberste Leitung ihrer Gewährleistungs- und Steuerungsfunktion adäquat nachkommt. Andernfalls besteht die Gefahr von Führungsschwäche bis hin zu Machtmissbrauch in ganz unterschiedlichen Spielarten;[2] dabei kann sogar die Realisierung des Primärzwecks der Organisation überhaupt beeinträchtigt werden. Aufgrund solcher schwerwiegenden Auswirkungen sind neben den erforderlichen persönlichen Führungs- und Leitungsqualitäten, die die Fähigkeit zur Selbstreflexion von Führungskräften beinhalten, – insbesondere hinsichtlich Kritikfähigkeit, Empathie und Machtmotiv – daher auch in struktureller Hinsicht Kontroll- und Aufsichtsgremien als Sicherungsmaßnahmen sowie transparente Beratungsprozesse und etablierte Verfahrenswege unabdingbar. Wenn jedoch Kontroll- bzw. Aufsichtsinstanzen nicht eingerichtet sind, wenn sie ihre Funktion nicht angemessen ausüben oder über keine wirksamen Sanktionsmechanismen verfügen oder wenn Kontroll und Aufsichtsinstenzen sogar missachtet bzw. als illegitim erachtet werden, dann steigt die Gefahr, dass eine Organisation sich in ein geschlossenes System transformiert.
Wenn die Führungsspitze nicht adäquat leitet, wäre es verantwortungsvoll, wenn Mitglieder der Organisation auf Fehlentwicklungen hinwiesen. Denn sie setzen sich für den Primärzweck der Organisation ein. Eine solche Kritik an der Organisationsspitze grundsätzlich als illoyal zu diskreditieren, würde jedoch das Kommittment der Mitglieder und deren Verantwortung für den Organisationszweck verkennen und Leitungsversagen decken.
Ein neues Verständnis von Loyalität jenseits von personaler Gefolgschaft und diffusem Gehorsam
Diese allgemeinen organisationstheoretisch-systemischen Dynamiken und Mechanismen gelten auch in der institutionell verfassten Kirche. Man könnte sie zwar ignorieren, weil sie nicht einer bestimmten Idee entsprechen; aber außer Kraft setzen lassen sich diese Eigengesetzlichen und ihre Wirkungen nicht.[3] Ein Dispens – egal auf welcher Ebene – ist nicht möglich. Wenn die Kirche und ihre Einrichtungen also ihrem Auftrag gerecht werden wollen, dann sind diese Dynamiken und Gesetzmäßigkeiten wahrzunehmen und die entsprechenden Schlussfolgerungen daraus zu ziehen.
Die neue Grundordnung formuliert daher ein klares Leitbild für das Führungspersonal: „Führung in der Kirche fördert die Entfaltung der fachlichen Qualifikationen und Charismen der Mitarbeitenden im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit. Der Dienstgeber entwickelt Konzepte guter Mitarbeiterführung unter besonderer Berücksichtigung des christlichen Menschenbildes und setzt diese konsequent um. Führungskräfte in kirchlichen Einrichtungen sind einem kooperativen, wertschätzenden Führungsstil verpflichtet. Eine angemessene und transparente Kommunikation über Hierarchie- und Berufsgrenzen hinweg ist Grundbedingung einer vertrauensvollen und wertschätzenden Zusammenarbeit.“ (Artikel 4c). Die Verantwortung für die Organisation übernimmt das Führungspersonal für den jeweiligen Tätigkeitsbereich, ohne sich darauf zu beschränken. Dementsprechend sind auch die einschlägigen Eignungskriterien für kirchliche Führungskräfte zu bestimmen und einzufordern.
Bemerkenswert ist, dass die Grundordnung etwas später hervorhebt: „Dienstgeber und Mitarbeitende übernehmen gemeinsam Verantwortung für die glaubwürdige Erfüllung des Sendungsauftrags in der Einrichtung.“ (Art. 7 Abs. 1). Demnach kommt sogar allen Mitgliedern die Verantwortung für die Organisation zu. Für ein Verständnis von Loyalität ist das nicht folgenlos. Denn Loyalität ist demnach als Organisationsverantwortung zu bestimmen. Sie ist daran zu bemessen, inwieweit das Agieren der Mitglieder einer Organisation dem Primärzweck von Kirche und damit ihrem Auftrag dient. Die Einführung von Compliance-Regeln und die rasche Umsetzung des in Bälde zu erwartenden Hinweisgeberschutzgesetzes sind hier zu verorten. Ein solches Loyalitätsverständnis unterscheidet sich von dem einer personalen Gefolgschaft oder von diffusem Gehorsam.
Um dem Selbstverständnis von der Kirche als „Werkzeug und Zeichen des Heils“ gerecht zu werden, wäre es konsequent, auch strukturell neue Prozeduren und Gremien zu etablieren.
Unter der Perspektive der Organisationsverantwortung wird Loyalität zu einem Anspruch, der allen in der Kirche gilt – ohne Ausnahme. Um dem Auftrag der Kirche in der Zeit von heute unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen und dem Selbstverständnis von der Kirche als „Werkzeug und Zeichen des Heils“ gerecht zu werden, wäre es daher konsequent, auch strukturell entsprechende Prozeduren und Gremien zu etablieren, um die Gewährleistungs- und Steuerungsfunktion auf allen Ebenen sicherzustellen. Denn gute Führung zeigt sich letztlich nicht in persönlichen Absichtserklärungen, sondern hat sich in der Praxis zu bewähren. Eine Führungskultur und ein Führungsethos, wie es die neue Grundordnung formuliert, bedarf daher auch der strukturellen Einlösung. Und schließlich: Machtmissbrauch und illegitime Loyalitätserwartungen würden somit selbst dem Anspruch der neuen Grundordnung des kirchlichen Dienstes widersprechen, die die deutschen Bischöfe ihren Diözesen geben.
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Jochen Sautermeister ist Inhaber des Lehrstuhls für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und derzeit Dekan der Fakultät.
Portraitbild: Schafgans DGPh
[1] S. hierzu grundsätzlich: E. J. Miller/A. K. Rice, Systems of Organization, London 1967 sowie E. J. Miller (Hg.), Task and Organization, Chichester u.a. 1976.
[2] S. etwa Thomas Hanstein/Hiltrud Schönheit/Peter Schönheit (Hg.), Heillose Macht. Von der Kultur der Angst im kirchlichen Dienst, Freiburg i.Br. 2022 sowie Martin Fleisch, Die Betroffenen. Seelische Leidensräume in der katholischen Kirche, Würzburg 2022.
[3] Die Anerkennung der „Autonomie der irdischen Wirklichkeiten“ wird auch vom II. Vatikanum in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes 36 ausdrücklich anerkannt.