In den Führungsetagen der evangelischen Kirchen fehlen Menschen mit ostdeutscher Biografie. Was die Kirchen aus der gesellschaftlichen Diskussion um eine Ost-Quote lernen können, skizziert Kerstin Menzel.
Die Synode der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz wählt kommende Woche einen neuen Bischof oder eine Bischöfin. Drei interessante Kandidat*innen stehen zur Wahl. Hört man in die Kirche hinein, so begegnet einem aber auch Verärgerung und Enttäuschung, dass es nicht gelungen ist, eine Person mit ostdeutscher Sozialisation für die Wahl zu gewinnen. Sicher, die Kommission hat Ostdeutsche gefragt und diese haben abgelehnt. Und dennoch kann man fragen: Woran liegt es eigentlich, dass es ostdeutsche leitende Geistliche in der gesamten EKD nur auf der Ebene der Regionalbischöfe und ‑bischöfinnen gibt? Warum ist im Rat der EKD kein einziges Mitglied in Ostdeutschland sozialisiert? Warum hat keine*r der evangelisch-landeskirchlichen Sprecher*innen des Worts zum Sonntag eine Ost-Biografie?
Keine Ostdeutschen unter den leitenden Geistlichen und im Rat der EKD
Man sollte diese Fragen stellen – nicht unbedingt vorwurfsvoll, aber neugierig und interessiert an Desideraten eines Zusammenwachsens, das längst nicht abgeschlossen ist. Man sollte sie fragen, weil viele Menschen innerhalb der Kirche diese Diskrepanz aufmerksam wahrnehmen und an ihr leiden.[1] Im Blick auf Leitungsämter geht es nicht um die dritte[2] Generation Ost / West, sondern um Menschen, die im geteilten Deutschland aufgewachsen sind, studiert haben, ihre ersten Berufserfahrungen gemacht haben. Man kann fragen, warum sich das offenbar auf die Übernahme von Leitungsämtern auswirkt.
Fehlende Repräsentanz von Ostdeutschen in allen Bereichen der Gesellschaft
Aufschlussreich könnte sein, die Diskussion um die fehlende Repräsentanz von Ostdeutschen in der Gesellschaft wahrzunehmen – in Schlüsselpositionen der Wirtschaft, der Medien, der Wissenschaft und der Politik. Bereits 2017 haben Menschen wie Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung, oder Frank Richter, Geschäftsführer der Stiftung Frauenkirche, den Vorschlag ins Spiel gebracht, die ungleiche Repräsentation durch eine Quote aufzubrechen. Der Vorschlag hat gerade in den vergangenen Monaten noch einmal eine hitzige Diskussion entfacht. Martin Machowecz fasst die Zahlen, die den Anlass bieten, so zusammen: „2017 stammten von 109 Abteilungsleitern in allen Bundesministerien nur vier aus Ostdeutschland. 2016 wurden von den 100 größten ostdeutschen Unternehmen nur 28 von ostdeutschen Chefs geleitet, und lediglich drei der 190 deutschen Dax-Vorstände stammten aus dem Osten. Anfang 2019 wurde der Umstand publik, dass es keinen ostdeutschen Uni-Rektor mehr gibt. […] In Zeiten, in denen einige Menschen sich ohnehin diskursiv ausgeschlossen fühlen, verbreitet sich unter einem Teil der Ostdeutschen die Überzeugung: Wir haben nichts zu melden.“
Was können die Kirchen aus der Debatte lernen? Vielleicht die folgenden Dinge:
1. Entscheidend ist die Zeit nach 1990.
Die Diskussion um die Verwerfungen zwischen Ost und West fokussiert zunehmend die Zeit nach der Wiedervereinigung, die Umbrüche, die Orientierungslosigkeit und die Herausforderungen, das eigene Leben völlig neu auszurichten nach Arbeitsplatzverlust, Systemwechsel und umfassendem Wandel der Alltagskultur.[3]
Umbrüche, Orientierungslosigkeit und vielfältige Herausforderungen
Ebenso wie die Übernahme der staatlichen Institutionenstruktur[4] erforderte auch die kirchliche Wiedervereinigung die Unterstützung Westdeutscher mit der entsprechenden institutionellen Erfahrung. Diese wurde einerseits als notwendiger und hilfreicher Beitrag zum Gelingen der Transition wahrgenommen.[5] Andererseits wurde auch im Raum der Kirche eine problematische Entwertung des „instrumentellen und impliziten Wissens der Menschen, die in der DDR aufgewachsen“[6] waren, erlebt.
Entwertung impliziten Wissens
Dabei hatte es zu Beginn des Einigungsprozesses noch Hoffnungen gegeben, die Grundordnung der EKD zu überarbeiten und ostdeutsche Erfahrungen stärker in die Struktur der Kirche einzubringen. Dies wurde jedoch angesichts des Zeitdrucks fallen gelassen.[7] Viele ostdeutsche Kirchenvertreter*innen hatten dann das Gefühl, westliche Strukturen „übergestülpt“ zu bekommen und ostdeutsche „Errungenschaften“ zu verlieren. Unterschiedliche kirchliche Kulturen trafen aufeinander – beschrieben in Schlagworten wie „Kirche der Etablierten“ statt „Kirche für andere“, Profilierung statt Gemeinschaft, Nähe zur Obrigkeit statt Option für Benachteiligte.[8]
„Zu den Ost-Westbegegnungen fuhr die Frau aus dem Osten mit dem Unbehagen, nicht mithalten zu können; keine Zeit zu haben, in den neuen Räumen, im ungewohnten Lebensstandard, im ungeübten Redegefecht anzukommen. Die Räume waren besetzt, der Lebensstandard galt als normal, Wortgewandtheit war Selbstbehauptung, Platzsicherung.“[9]
Nicht mithalten können
Ostdeutsche Kirchenvertreter*innen hatten sich mit einer neuen Rechtsordnung, einem neuen Kirchenbild, neuen Berufsbildern auseinanderzusetzen – all das im Kontext umbruchsartiger gesellschaftlicher, ökonomischer und politischer Veränderungen. Hinzu kamen die strukturellen Rückbauprozesse ab Mitte der 1990er Jahre, die Konflikte brachten, Kraft und Zeit beanspruchten.
Die 1990er Jahre haben auch im Raum der Kirche viele Kränkungen, Unsicherheiten und Rückzugstendenzen hinterlassen. Es ist gut, wenn mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls diese Zeit neu in den Blick kommt.
2. Es geht kulturelles Wissen.
Lars Allolio-Näcke beobachtet gesellschaftlich eine Verweigerung von Gleichwertigkeit ostdeutscher Erfahrungen: „Die Werte Ostdeutscher erscheinen […] als traditionell, verzögert, entwicklungsbedürftig, anpassungsbedürftig. Die eigene Geschichte der Ostdeutschen kommt nicht in den Blick. Das Leben der Ostdeutschen wird vor allem als Leben in einer Diktatur im Zeichen einer Unrechtsgeschichte wahrgenommen, positive Erfahrungen treten kaum zutage.“[10] Zeitlich werden die Erfahrungen Ostdeutscher auf die Vergangenheit festgelegt, Unterschiede würden sich im Lauf der Geschichte von selbst erledigen.[11]
traditionell, verzögert, entwicklungs- und anpassungsbedürftig
Ganz ähnlich nehme ich manche Diskurse im Bereich der Kirche wahr. Da gibt es eine Abwertung der ostdeutschen Kirche als traditionsorientiert und von Schließungstendenzen geprägt – eine Einschätzung, die spezifische Formen kirchlicher Modernisierung im Osten ebenso übersieht wie Öffnungsprozesse im Blick auf Kirchenbild, kirchliche Berufe und Angebotsprofil. Da gibt es eine Selbstverständlichkeit unter Westdeutschen, für den gesamten Bereich der EKD zu sprechen und ostdeutsche Besonderheiten, wenn überhaupt, defizitbezogen und stichwortartig am Rande anzumerken.
Bei der Frage nach der Repräsentanz von Ostdeutschen geht es, so die gesellschaftliche Debatte, immer auch um differenziertes Kontextwissen (Frank Richter). Dieses kulturelle Wissen kann sich aneignen, wer länger in einem bestimmten kulturellen Kontext gelebt hat. Deshalb bringt es auch nichts, essentialistisch zwischen „Ossis“ und „Wessis“ zu unterscheiden. Aber die biografischen Erfahrungen sind genau in den Blick zu nehmen.
Ostdeutsche biografische Erfahrungen für eine Kirche im Strukturwandel fruchtbar machen
Vielleicht würde die Förderung von Menschen mit ostdeutschen Biografien Erfahrungswissen fruchtbar machen, das eine Kirche, die sich deutschlandweit mit strukturellen Rückbauprozessen und rückläufiger Kirchenmitgliedschaft auseinandersetzen muss, gut gebrauchen kann. Auch für die Diskussionen um Demokratie und Zivilgesellschaft dürfte die innerkirchliche Präsenz von Erfahrungen Ostdeutscher vor und nach 1989 hoch relevant sein.
Die Tradierung von kontextuellem Wissen erfuhr im Prozess der Transition gewisse Abbrüche, z.B. durch die Abwicklung des ostdeutschen Ausbildungssystems oder durch das Ende ekklesiologischer Selbstverständigungsprozesse im Bund der Evangelischen Kirche in der DDR. Vielleicht wäre heute an manches neu anzuknüpfen?
3. Diskriminierung basiert auf den „kleinen Unterschieden“.
„Auswahlverfahren für Leitungsjobs haben so viele informelle, irrationale Komponenten. Es geht darin um gemeinsame Sprachcodes, um Netzwerke und Leute, die man gemeinsam kennt. Pierre Bourdieu hat gesagt: Schon die Art, wie einer beim Vorstellungsgespräch auftritt, kann deutlich machen, das ist keiner von uns. Wer Menschen für Führungspositionen aussucht, hat ein Interesse an Homogenität. Das andere findet man beunruhigend, weil es einen selbst infrage stellt.“ Mit diesen Worten sprach sich Gesine Schwan 2017 für eine Ost-Quote aus. Auch für die Kirche dürfte es solche unbewussten Mechanismen geben, die seit langem in Bezug auf die Repräsentanz von Frauen diskutiert werden. „Westdeutsche neigen dazu, gar nicht wahrzunehmen, dass Ostdeutsche dieses Repräsentanz-Problem überhaupt haben. Eine Studie im Auftrag der gewerkschaftsnahen Otto-Brenner-Stiftung ergab gerade, dass nur 41 Prozent der Westdeutschen unter 30 Jahren finden, es mache noch einen Unterschied, ob man aus Ost oder West kommt. Allerdings sind es unter den jungen Ostdeutschen im gleichen Alter 65 Prozent, die diesen Unterschied sehen“, so Machowecz.
Unbewusste Auswahl: gemeinsame Sprache und Netzwerke
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk zu „Machtverhältnissen, Verwundungen und Verwunderungen“, das viele begeisterte wie empörte Reaktionen hervorgerufen hat, vermutet die Hallenser Hochschulpfarrerin Christiane Thiel, dass Ostdeutsche aufgrund der geringeren Zahl von Sonderpfarrämtern weniger Möglichkeiten haben, sich für herausgehobene Leitungsämter zu qualifizieren, den entsprechenden Habitus auszubilden. Die fehlende Repräsentanz in bestimmten Schlüsselpositionen der mittleren Leitungsebene und öffentlicher Präsenz, wie z.B. beim Wort zum Sonntag, wirkten sich auf die Besetzung hoher Leitungsämter hin aus. Die Schwierigkeiten beginnen, so Thiel im Gespräch mit Wolfgang Thierse, schon auf der mittleren Ebene, bei der Schwierigkeit, im westdeutschen Kontext Gehör zu finden mit den eigenen Prägungen und Einstellungen, z.B. einer Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung oder Befremdung gegenüber mehrheitlicher und mächtiger Volkskirchlichkeit.
Im Westen Gehör finden?
4. Ostdeutsche halten sich zu sehr zurück.
Raj Kollmorgen konstatiert für die fehlende Repräsentanz von Ostdeutschen in Schlüsselpositionen eine Fremd- und Selbstmarginalisierung: „Während die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung vornehmlich von außen marginalisiert wurden, haben viele irgendwann im Laufe der Jahre begonnen, sich selbst zu marginalisieren. Sie hielten sich für Führungspositionen demnach selbst nicht mehr geeignet, sie haben sie nicht länger angestrebt oder für sich in Betracht gezogen, weil sie zu oft bei sich selbst und anderen die Erfahrung gemacht haben, solche Ziele doch nicht erreichen zu können.“[12]
Vielleicht spielt auch die hohe Arbeitsbelastung durch Strukturrückbau und ausgedehnte Verantwortungsbereiche für diese Zurückhaltung eine wesentliche Rolle. Gerade ist genau die Generation in einem passenden Alter für Leitungsaufgaben, welche die Verwerfungen der kirchlichen Wiedervereinigung und Nachwendezeit sowie den strukturellen Rückbauprozess in den ostdeutschen Kirchen zu verarbeiten hatte.
Was steht an? Diversitätskompetenz!
Was steht also an? Austausch und Erzählen,[13] auch damit die Ost-Ost-Differenzen[14] sich nicht in erhitztem Streit entladen. Gezielte Förderung ostdeutscher Nachwuchskräfte, wie Manuela Schwesig sie gesellschaftlich fordert. Und überhaupt: jegliche Förderung von Diversitätsbewusstsein und -kompetenz.
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Dr. Kerstin Menzel ist Pfarrerin in Berlin-Lichtenberg und Landeskirchliche wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Praktische Theologie der Humboldt Universität zu Berlin. Gerade erschien ihre Dissertation: „Kleine Zahlen, weiter Raum. Pfarrberuf in ländlichen Gemeinden Ostdeutschlands“.
Bild: Couleur / pixabay.com. Die Marienkirche am Alexanderplatz ist die Bischofskirche der Ev. Kirche Berlin-Brandenburg-Schlesische Oberlausitz.
[1] Jana Hensel erzählt einige Beispiele aus anderen gesellschaftlichen Kontexten.
[2] Michael Hacker, Stephanie Maiwald, Johannes Staemmler et al. (Hrsg.): Dritte Generation Ost. Wer wir sind, was wir wollen (Schriftenreihe Bd. 1285). Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung 2012.
[3] Vgl. Wolfgang Engler u. Jana Hensel: Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein. Berlin: Aufbau 2018.
[4] Vgl. Raj Kollmorgen, zitiert bei Jana Hensel.
[5] Vgl. Hans-Martin Harder: Zur wirtschaftlichen Neuorientierung der östlichen evangelischen Kirchen nach der „Wende“. In: Praktische Theologie 34 (1999) H. 4., 267–284, hier 267f.
[6] Matthias Rein: Die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen als Ausdruck verschiedener kultureller Identitäten. In: Texte aus der VELKD (2010) H. 52., 62–71, hier 66.
[7] Uwe-Peter Heidingsfeld: Die evangelischen Kirchen in Deutschland und die epochalen Veränderungen seit 1989. Ein Rückblick (epd-Dokumentation 15/2000). Frankfurt/M. 2000, 8.
[8] Die Begriffe fallen in: Kirchenamt der EKD: Zur Situation und Befindlichkeit von Frauen in den östlichen Landeskirchen. Frauenreferat der EKD. Bericht 1995 (EKD Texte 56). Hannover 1995. Vgl. Martin-Michael Passauer: Irritierungen auf dem Weg zur kirchlichen Vereinigung. In: Texte aus der VELKD (2010) H. 152., 35–41.
[9] Kirchenamt der EKD, a.a.O., 25.
[10] Dargestellt bei Rein, a.a.O., 67f.
[11] A.a.O., 68.
[12] Raj Kollmorgen dargestellt bei Jana Hensel. Vgl. auch den Text von Anne Hähnig und Martin Machowecz.
[13] Die Gemeinde-Partnerschaften zwischen Ost und West wurden in den 1990er Jahren häufig beendet – vielleicht ist es an der Zeit, sie wiederzubeleben?
[14] Vgl. Rein, a.a.O., 70f.