Ostern kann die Augen öffnen und ein neues Sehen lehren. Es geht um das Hinschauen anstelle des Wegschauens. Johann Pock mit Überlegungen zu biblischen Motiven des Sehens in den Auferstehungstexten – und praktisch-theologischen Konsequenzen für das Handeln als Christ:innen.
Ostern hat so viele Facetten: Es geht um Leben und Tod, um den Frühlingsaufbruch nach dem Winter, um Neuanfang, um Schuld und Versöhnung, um Opfer und Rechtfertigung, um Hölle (Unterwelt), Engel, Erdbeben – und natürlich um die Auferstehung Jesu. Dramaturgisch alles, was man sich wünschen kann.
Ostern ist ein Fest, das alle Sinne anspricht.
Und Ostern ist ein Fest, das alle Sinne anspricht: Den Geschmackssinn beim Kochen und später Verzehren der köstlichen Osterspeisen; den Geruchssinn bei den kirchlichen Feiern (mit dem Weihrauch, dem Kerzenduft) oder auch beim Gang durch die aufbrechende Natur. Das Gehör – beim kräftigen Gloria mit Glockenklang am Gründonnerstag und in der Osternacht, beim Ratschen, aber auch bei der bewussten Stille des Karsamstags. Der Tastsinn vielleicht am ehesten beim traditionellen „Eierpecken“ …
Und doch hat das Sehen nochmals eine spezielle Bedeutung – dieser möchte ich im Folgenden nachspüren.
Augen-Waschen
Es gibt eine spannende, alte Tradition, hergeleitet wohl vom Taufwasser der Osternacht und dessen heilender Wirkung, die ihm zugeschrieben wurde:[1]
Von Frankreich (oder dem benachbarten Piemont) wird der Brauch berichtet, dass am Morgen des Ostertages, wenn erstmals wieder die Glocken geläutet wurden, alle zum Dorfbrunnen gelaufen sind, um sich die Augen mit dem klaren Brunnenwasser zu waschen. Und es wird erzählt: Vermutlich haben viele gar nicht mehr gewusst, warum sie zum Brunnen laufen, aber sie sind einfach mit allen anderen mitgelaufen.[2]
Man bat um neue Augen, gewissermaßen um Oster-Augen.
Ursprünglich war das Augenauswaschen mit einem Gebet verbunden: Man bat um neue Augen, gewissermaßen um Oster-Augen. Diese Tradition des Augen-Auswaschens gibt es mittlerweile an mehreren Orten im süddeutschen Raum, vereinzelt auch in Österreich (z.B. in Steinakirchen im niederösterreichischen Mostviertel).
Diese sinnenhafte Tradition ist nicht nur deshalb spannend, weil sie Liturgie mit leibhaften Zeichen und Handlungen verbindet (und damit die Menschen ganzheitlicher anspricht – wie dies ja auch bei der Palmsegnung, bei der Osterspeisensegnung etc. erfahrbar ist).[3] Sie hat auch tiefgehende biblische Wurzeln, die im Folgenden skizzenhaft benannt werden sollen.
Das Sehen in den Auferstehungserzählungen des Johannesevangeliums
Da ist zunächst die Szene im Johannesevangelium (Kap. 20): Maria von Magdala kommt frühmorgens zum Grab – und sie sieht: Das Grab ist leer. Sie holt die Jünger – Petrus, der draußen bleibt; und Johannes, der sich hineinbeugt, das leere Grab und die Leinenbinden sieht: „Er sah und glaubte.“ Sehen und glauben werden hier verbunden. Das Wort Marias allein war zu wenig – erst indem er mit eigenen Augen sieht, kommt der Glaube.
Maria bleibt weinend dort. Auch sie sieht hinein – und sieht etwas anderes: nämlich zwei Engel, die ihr das Geschehen deuten. Sie wendet sich um – und sieht den vermeintlichen Gärtner. Und auf seine Ansprache hin, „Maria“, wendet sich sich nochmals, ihm zu – und nun erkennt sie ihn.
Mit der Bewegung wird das Sehen zu einer neuen Ein-Sicht
In all diesem Sehen ist immer auch Bewegung vermittelt: Das Hineinschauen ins Grab, das Sich-Umwenden, das Sich-Zuwenden. Und mit dieser Bewegung wird das Sehen zu einem Neu-Sehen, zu einer neuen Erkenntnis, zu einer Ein-Sicht in das Geschehen.
Und was ist die Botschaft Marias an die Jünger: „Ich habe den Herrn gesehen!“ Das heißt, die erste Auferstehungsbotschaft ist das Sehen des leeren Grabes – und das Sehen des Auferstandenen beim leeren Grab.
Spannend ist die Parallelerzählung dazu in Joh 20,19-31: Hier ist es Thomas, der nicht dabei ist, als die anderen Jünger Jesus sehen. Er will ihn auch sehen und be-greifen, um zum Glauben zu kommen. Genauso wie Maria sagt er in der Begegnung mit Jesus: „Mein Herr und mein Gott“ – doch Jesus antwortet: „Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,29) Es bleibt hier somit offen, was der Unterschied im Sehen von Maria und Thomas ist und was zu dieser unterschiedlichen Reaktion führt. Es gibt zumindest keinen Automatismus vom Sehen zum Glauben.
Das Erkennen der Emmausjünger bei Lukas
Eine etwas andere Facette des Sehens ergänzt Lukas (Lk 24) in der Begegnung der beiden Jünger mit Jesus auf dem Weg nach Emmaus. In Lk 24,16 heißt es: „Doch sie waren wie mit Blindheit geschlagen, sodass sie ihn nicht erkannten.“ Und erst beim Brotbrechen heißt es dann: „Da gingen ihnen die Augen auf und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr.“ (Lk 24,31)
Weg von der Blindheit zum Sehen, vom Unverständnis zum Verständnis.
Lukas erzählt hier einen Weg von der Blindheit zum Sehen, vom Unverständnis zum Verständnis. Das Zum-Sehen-Kommen ist hier pädagogisch eingebettet in das Verstehen-Lernen all dessen, was Jesus gelehrt und getan hat. Er bringt hier das Paradigma von Katechese – einer Einführung in den Glauben, die nicht nur den Verstand anspricht, sondern das Herz öffnet und die Jünger:innen ein neues Sehen lehrt.
Die Ostererzählungen sind somit voll mit dem Motiv des Sehens, Sehen-lernens, des Erkennens und Glaubens. Zum Glauben kommen die Jünger daher nicht primär durch die Worte, die Jesus jahrelang zu ihnen gesagt hatte – sondern durch die Begegnungen mit ihm und durch das Zeugnis von jenen, die ihm begegnet sind, vornehmlich dabei die Frauen.
Hinschauen als österlicher Auftrag
Aus praktisch-theologischer Sicht ist für mich dabei spannend, wie sehr das Handlungsmoment eine Rolle spielt. Zum Glauben kommen wird hier dargestellt als Aktion und Interaktion. Den Hintergrund, gewissermaßen die Goldfolie, bildet das Handeln Gottes: Er hat Jesus auferweckt. Seine Liebe ist der Grund, dass es überhaupt Leben gibt. Er ist es, der den Menschen jene Steine aus dem Weg räumt, die sie sich durch eigene Schuld geschaffen haben.
Jesus hat seine Jünger:innen vor allem gelehrt, Hinzuschauen und nicht Wegzuschauen.
Dann aber braucht es auch das Handeln der Menschen. Denn Gottes Liebe ist ein Angebot, das angenommen, aber auch verweigert werden kann. Dass Jesus sich in seiner Mission auf Menschen stützt, die nicht von vornherein von der großen Mehrheit als Botschafter:innen, als Verkündiger:innen anerkannt sind, zeigt ein Handeln, das nicht mit üblichen Machtansprüchen vorgeht, sondern die „Kraft aus der Schwachheit“ vorzieht; eines, das die Letzten zu Ersten macht.
Jesus legt sein ganzes Werk in die Hände von Fischern, Arbeiter:innen, Frauen. Ihnen hat er mit Wort und Leben versucht, die Augen zu öffnen für seine Botschaft. Und er hat sie vor allem gelehrt, Hinzuschauen und nicht Wegzuschauen.
Hinschauen, nicht Wegschauen
Das Hinschauen ist somit eine zentrale österliche Haltung, die wir vor allem auch von Maria von Magdala lernen können. Es ist einerseits ein Hinschauen, das ein Wahrnehmen einer Situation ist und den Blick nicht gleich abwendet vom Grab. Und es ist ein Hinschauen, das tiefer blickt; das im Gärtner Jesus erkennt; eines, das im leeren Grab Engel entdecken kann. Es ist kein neutrales Hinschauen mehr, sondern eines mit dem liebenden Herzen.
Ostern führt von der Fußwaschung des Abendmahls über das Mitgehen beim Kreuzweg, dem Aushalten der Grabesruhe hin zum Aufbrechen von Versteinerungen, von Verhärtungen des Lebens. Es führt vom kontemplativen Oster-Feiern hin zum aktiven Oster-Leben. Es führt von der Liturgie zur Diakonie.
Sich die durch negative Erfahrungen oder irrgeleitete Handlungen verklebten Augen am Taufwasser auswischen.
Hinschauen, nicht Wegschauen, bedeutet für eine Kirche in unserer Zeit, die Augen nicht zu verschließen vor aktuellen Nöten. Es bedeutet, den Blick nicht bei den Unmöglichkeiten zu belassen, sondern die Möglichkeiten, die Aufbrüche zu entdecken. Es bedeutet, sich aber auch immer wieder neu des österlichen Blickes zu vergewissern, um nicht betriebsblind zu werden. Sich die durch negative Erfahrungen oder irrgeleitete Handlungen verklebten Augen am Taufwasser auszuwischen – also an dem Wasser, das uns verbindet mit der Schöpfung, der Rettung am Schilfmeer, der Botschaft der Propheten, Priester und Könige aller Jahrhunderte und das uns selbst zu Priester:innen, Prophet:innen und König:innen heute macht.
Der eschatologische Blick
Und es ist schließlich ein Sehen, das hinter den Tod blicken kann, weil Jesus dieses Tor geöffnet hat. Es ermöglicht, im alten Leben das neue Leben zu sehen. Es eröffnet Hoffnung in der Hoffnungslosigkeit – und es ermöglicht erst, die Kraft zu haben, vor dem Schwierigen und Schrecklichen des Lebens die Augen nicht verschließen zu müssen.
Klaus Hemmerle hat dies in einem Ostertext ausgedrückt:[4]
Ich wünsche uns Osteraugen,
die im Tod bis zum Leben sehen,
in der Schuld bis zur Vergebung,
in der Trennung bis zur Einheit,
in den Wunden bis zur Heilung.
Ich wünsche uns Osteraugen,
die im Menschen bis zu Gott,
in Gott bis zum Menschen,
im ICH bis zum DU
zu sehen vermögen.
Und dazu wünsche ich uns
alle österliche Kraft und Frieden,
Licht, Hoffnung und Glauben,
dass das Leben stärker ist als der Tod.
Klaus Hemmerle (1929 – 1994)
Bischof von Aachen
[1] So auch die Interpretation von Anselm Grün, Anselm Grün in seinem Buch „Geistliche Begleitung im Alter“, Herder: Freiburg 2018, wo er auch auf die „Oster-Augen“ eingeht.
[2] Mich hat Franziska Loretan-Saladin auf den Brauch hingewiesen. Er wurde schon mehrfach aufgegriffen – so auch in den inspirierenden Ostergedanken von Abt.em Christian Heidinger, https://www.quovadis.or.at/angebote/aktuell/190-osteraugen (8.4.2023).
[3] Zu Elementen der Volksfrömmigkeit in der Karwoche und zu Ostern vgl. den Beitrag von Johann Pock, Karwoche und Ostern – Ein praktisch-theologischer Blick 2022, in: https://theocare.wordpress.com/2022/04/16/karwoche-und-ostern-2022/)
[4] Auch diesen Hinweis entnehme ich den schönen Gedanken von Abt.em Heidinger.
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Johann Pock, Wien, ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net
Beitragsbild: Helmut Loder, Emmaus, 2020. (Mit herzlichem Dank für die freundliche Genehmigung der Abdruckrechte!)
Vgl. dazu auch den mit dem Beitrag zusammenhängenden Ostertext von Johann Pock 2023: