Karl Rahner wäre heute 120 Jahre alt geworden, zudem jährt sich am 30. März sein 40. Todestag. Roman A. Siebenrock erinnert an einen der größten Theologen des 20. Jahrhunderts.
Wie an Karl Rahner erinnern? Ich möchte hier davon erzählen, warum mich Karl Rahner von Anfang an fasziniert hat und warum ich nicht von ihm losgekommen bin, sondern ihn bis heute als gegenwärtig und inspirierend erfahre.
Ohne Getue
Vor allem zwei wesentliche Aspekte seines Werkes sind für mich maßgeblich geworden. Es sind seine heterogenen Quellen und seine Verbindung zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Zunächst aber ist es auch seine Persönlichkeit, die sich ohne Getue dem Orden und der Kirche für den Dienst am Menschen vorbehaltlos zur Verfügung stellte. Geradezu unwirsch fegte er die üblichen Lobredereien von Tisch: „Ich bin Priester und Jesuit – und damit hat sich‘s.“ Was Theologie als ebenso loyale wie kritische Begleitung einer Kirche in einem epochalen Wandel bedeutet, hat er mir gezeigt.
Ins Eigene gewungen
Seine Quellen, die normativen Bezugsorte seiner Theologie, repräsentieren einen epochalen Wandel, den er aufmerksam wahrnahm. Sie haben auch zur Folge, dass es „viele Rahner“ gibt und er nicht wiederholt werden kann. Er hat keine „geklonten Schüler“ hervorgebracht. Ich werde ins Eigene geführt, ja gezwungen: Zumutung dessen, was es wert ist, „katholisch“ genannt zu werden.
Ich sehe fünf prägende Bezugsorte.
Wer retten will, muss wagen
Rahner ist erstens ein nachtridentinischer Schultheologe, der diese Epoche in der Perspektive seines Ordens so selbstverständlich verinnerlicht und aufgenommen hat, dass er mit ihrer inneren Dynamik einen epochalen Wandel zu begleiten vermag, weil er viele „vergessene Wahrheiten“ einzubringen vermochte. Dogma ist Ende und Anfang. Denn: Wer retten will, muss wagen.
Geheimnis meines Lebens
Rahner ist zweitens ein Jesuit. Das ist mehr als eine soziologische Zuschreibung. In der Rezeption des mystischen Ignatius bleibt die Spiritualität des Ordens und seine Wandlungen in seiner Lebenszeit in viel höherem Maße prägend, als es ihm wohl selbst bisweilen bewusst war. Ohne den Hintergrund der beiden Grunderfahrungen des Ignatius, die Lichterfahrung von Manresa und die Zugesellung zum Kreuztragenden Christus von La Storta, ist Rahners Begriffspaar „transzendental – kategorial“ nicht zu verstehen. Denn dieses Begriffspaar vermittelt die Universalität der Gnade Christi und Gottesgegenwart mit der realen Geschichte, die wesentlich durch Passion in allen ihren Aspekten geprägt wird. Mit Texten zur „Erfahrung der Gnade“ oder „Gotteserfahrung heute“ versucht er, in eine allen Menschen mögliche und deshalb alltägliche Begegnung einzuweisen, in der mir die Gegenwart des Geheimnisses meines Lebens aufzugehen vermag.
Mystische Tradition
Der dritte Bezugspunkt, den er schon in seiner Ausbildung auch durch den Bruder Hugo vermittelt bekam, waren die Kirchenväter, die er auf ihre mystische Tradition abhörte. Durch beide Traditionen wird ein Anliegen ausdrücklich, das sich durchs ganze Werk zieht: Wie ist unmittelbare Gotteserfahrung möglich, für alle Menschen zu allen Zeiten möglich?
Thomas von Aquin
Der vierte Bezugspunkt, den er zuerst mit Maréchal und dann in der Begegnung mit Heidegger zu einer Haltung werden ließ, ist eine philosophische Denkform, die sich mit der Tradition, d.h. mit Thomas von Aquin, auf jene Fragen der Gegenwart einlässt, die uns aufgegeben sind. Nach den Anfängen kann man eine Aufnahme des personalen Denkens in seinen Texten zur Herz-Jesu-Frömmigkeit entdecken, und in den Gesprächen der Görres- und Paulus-Gesellschaft lässt er sich auf das naturwissenschaftliche und marxistische Denken ein.
Verbindliche Kirchlichkeit
Einen fünften Bezugspunkt erkenne ich in seiner, wie Christoph Theobald sagen würde, Pastoralität. Die epochale Transformation begleitet er mit einer theologischen Gegenwartsanalyse und oft un- oder missverstandenen konkreten Vorschlägen. Das Schicksal seiner prophetischen Intervention „Strukturwandel der Kirche“ spricht Bände. Aber: Seine prinzipiellen Analysen haben sich bis heute bewahrheitet (Diasporasituation; Ende der Volkskirche; Glaube aus Freiheit und personaler Entscheidung; werdende Weltkirche u.a.m.), seine Imperative, seine konkreten Vorschläge warten bis heute indes einer Verwirklichung.
Demokratischer, entklerikalisiert, missionarischer
Er plädierte für eine demokratischere, entklerikalisierte und missionarischere Kirche, für eine Kirche der kleinen Gemeinden. Er trat ökumenisch für die Einheit der Kirchen als reale Möglichkeit ein und hat ein bis heute nicht widerlegtes Plädoyer für die Ordination der Frau vorgelegt. Auch wenn er für die Freistellung des Zölibats für Weltpriester eintrat, war ihm der Zölibat als frei gewählte Lebensform so wichtig, dass er dafür auch herbe Kritik in Kauf nahm. Auch an einer verbindlichen Kirchlichkeit der Theologie hielt er in der Auseinandersetzung mit Hans Küng fest. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, später nach Wegen der Versöhnung zu suchen.
Grunddogma: Universaler Heilswille
Mit dieser Verwurzelung in heterogenen Quellen, die aber niemals esoterisch sind, sondern Tradition und Gegenwart der Kirche repräsentieren, habe ich mit ihm das Zweite Vatikanische Konzil zu lieben gelernt. Dieses Konzil geht wie selbstverständlich vom universalen und konkret-geschichtlich wirksamen Heilswillen Gottes aus (LG 16, GS 22; AG 7; SC 5). Karl Rahner war der erste, der in der Gnadentheologie von dieser Grundoption ausgegangen ist und damit sich einer Dynamik anvertraute, die aus dem Heilspessimismus des Augustinus hinausführte. Weil dieser Heilswille jedoch „ungleich“ geschichtlich wirkt, weil er sich der Situation von Menschen und Kulturen anpasst („accomodatio“), geht Rahner der möglichen Wirksamkeit der Gnade und des Geistes Christi in Leben und Geschichte nach.
Odyssee aller Menschen denken
Seine Rede vom „anonymen Christen“, von „Religionen als legitimen Heilswegen“ kann ohne dieses „Grunddogma“ nicht verstanden werden. Doch: Sofort muss mit dem Trienter Konzil hinzugefügt werden, dass das Heil des Menschen nicht ohne den Menschen (DH 1525) real werden kann. Die Menschen sollen von der Gnade bewegt mitwirken und zustimmen. Und Rahner schöpft alle Möglichkeiten der Lehre der Kirche aus, um die Odyssee aller Menschen in das nahegekommene liebende Geheimnis, das in Jesus Christus eschatologisch endgültig die Welt geheiligt hat (Eph 1-2), denken zu können. Immer aber sind Menschen dann in und mit Christus auf dem Weg, wenn sie in Einheit die Liebe zu Gott und zum Nächsten zu leben trachten.
Anthropologische Wende
Deshalb muss er vom möglichen Adressaten der Botschaft, von den „Hörenden des Wortes“ ausgehen. Die anthropologisch gewendete Theologie Rahners ist verwurzelt in der Christologie. Denn von diesem höchsten Beispiel möglichen menschlichen Lebens aus entwirft er seine Anthropologie. Und nur nebenbei gesagt: die antimodernistisch sich gebärdende Kirche hat diese Signum der Neuzeit, die anthropologische Wende, in der Mariologie und der Ausbildung des Primats mitvollzogen. Dass wir uns dessen nicht hinreichend bewusst sind, und es deshalb nicht reflektierend einordnen, ist ein Teil unseres gegenwärtigen Problems.
Frage, auf die es von uns allein her keine Antwort gibt
Nach Rahner ist der Mensch durch zwei Grundbewegungen gekennzeichnet, die sich wechselseitig tragen und bedingen: die dynamische Überschreitung, die transzendierende Bewegung, die er zunächst epistemologisch als Vorgriff, dann als Begegnung mit anderer Freiheit und schließlich mit dem Stichwort „transzendental“ kennzeichnet; zum anderen durch die Annahme der konkreten Geschichte, die er zunächst als „conversio ad phantasma“, dann als inkarnatorische Dynamik und Liebe zur Welt kennzeichnet. Immer aber ist und bleibt der Mensch eine Frage, auf die es von uns allein her keine Antwort gibt. Diese reine Offenheit aber, ignatianisch „Indifferenz“ genannt, so meine Überzeugung, hält der Mensch nicht aus, sondern füllt diese „Leere“ mit all den Vorstellungen und Ideologien, die wir mit der Bibel „Götzen“ nennen können.
Systematiker in pastoraler Verantwortung
Zur Faszination dieses Werkes gehört aber auch seine Grenze, die Rahner selbst nie überspielt. Er meinte nie, der Theologe der Kirche zu sein, sondern ermöglichte viele andere Ansätze, auch in Kritik an ihm. So findet sich in seinem Werk keine Theologie des Alten Testamentes. Deshalb kennt er keine Theologie des Judentums. Er blieb ein Systematiker in pastoraler Verantwortung, weil er vor allem dazu helfen wollte, im Hier und Heute zu glauben. Deshalb ist seine Theologie mystagogisch, die in das Geheimnis Gottes hinein sich verliert. Die radikale Unverfügbarkeit Gottes, von der Rahner nie müde wird zu reden, scheint mir eines jener Anliegen zu sein, die in der Aufarbeitung des Missbrauchs eingebracht werden sollte.
Immer lese ich Rahner mit Gewinn, selbst dort wo er mir fremd geworden ist. Dann höre ich mit hintergründigem Humor sein Wort: Dann macht es halt besser.
Roman A. Siebenrock war von 2006 bis 2022 Professor für Systematische Theologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Innsbruck.
Bildquelle: Ch. Bauer