Die Sozialethikerin Noreen van Elk (Wien) macht sich anlässlich 60 Jahre Enzyklika Pacem in Terris und angesichts des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine Gedanken über die Relevanz der Enzyklika. Sie plädiert dafür, die vielfältigen Ansätze der friedensethischen Tradition für aktuelle Debatten fruchtbar zu machen.
Am 11. April 2023 jährte sich die Veröffentlichung der Sozialenzyklika Pacem in Terris von Papst Johannes XXIII. zum 60. Mal. Es gehört fast schon zu den Gepflogenheiten unseres Faches, anlässlich solcher Geburtstage an die zentralen Botschaften der jeweiligen Sozialenzyklika zu erinnern und diese auf ihre fortdauernde Relevanz zu überprüfen. So hat der 50. Jahrestag von Pacem in Terris vor 10 Jahren eine breite Debatte über die in ihr enthaltenen Ideen entfachen können.[1] Angesichts der sicherheits- und gesellschaftspolitischen Umwälzungen der vergangenen gut anderthalb Jahre verwundert es, dass der 60. Jahrestag der Enzyklika vergleichsweise leise und unbemerkt verstrichen ist. Zwar gab es einige Würdigungen und erinnerte Papst Franziskus in der Generalaudienz am 12. April an die Aktualität der Veröffentlichung[2], eine breite Debatte über die Relevanz der Enzyklika angesichts aktueller friedens- und sicherheitsethischer Herausforderungen ist (bislang) aber ausgeblieben. Ohne den Anspruch zu erheben, diese Lücke hier füllen zu können, möchte ich den Geburtstag von Pacem in Terris dennoch zum Anlass nehmen, einige Gedanken zur Relevanz der Enzyklika angesichts des flächendeckenden Angriffskriegs Russland gegen die Ukraine zu formulieren.
Zeithistorischer Vergleich 1963 – 2023
Auch wenn solche zeithistorische Vergleiche immer etwas hinken, fallen, wenn man den Entstehungskontext der Enzyklika mit dem heutigen Kontext vergleicht, aus sicherheits- und gesellschaftspolitischer einige Parallelen auf. Das Jahr 1963 ist geprägt von politischen Spannungen. Die Schrecken des Zweiten Weltkrieges sind noch frisch im kollektiven Gedächtnis, der Kalte Krieg, der gekennzeichnet ist durch atomare Abschreckung, Aufrüstung und Abschottung, bestimmt das politische Klima und die Kuba-Krise spitzt sich zu. Fast forward zum Jahr 2023. Der flächendeckende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 begann, geht mit einer Reihe von gesellschaftspolitischen Umbrüchen einher. Von „Zäsur“ und „Zeitenwende“ ist die Rede. Die Angst vor einer atomaren Eskalation des Angriffskrieges wächst und die Debatten über Aufrüstung und Waffenlieferungen an die Ukraine sind aus den Talk-Shows im Prime-Time-Fernsehen nicht mehr wegzudenken. Die Bilder von Kriegsverbrechen aus Butscha, Kramatorsk und weiteren Orten in der Ukraine erschüttern die Welt. Die internationale Gemeinschaft verspricht der Ukraine umfassende militärische, finanzielle und politische Unterstützung.
Der Angriffskrieg löst eine Debatte über die kirchliche Friedenslehre bzw. die christliche Friedensethik aus.
Anders als im Jahr 1963, als die päpstlichen Äußerungen zum Frieden und zur Ächtung des Krieges vor dem Hintergrund der damaligen Spannungen von der Öffentlichkeit durchaus wohlwollend aufgenommen wurden, geriet das Lehramt im Kontext des aktuellen Angriffskrieges zunehmend in die Kritik. Kritiker:innen vermissen, vor allem in den ersten Monaten des Angriffskrieges, eine eindeutige Positionierung des Papstes.[3] In der Kritik steht jedoch nicht nur Papst Franziskus selbst. Der Angriffskrieg löst auch eine Debatte über die kirchliche Friedenslehre bzw. die christliche Friedensethik aus. Im Mittelpunkt der Debatte steht die Frage, ob die christliche Friedensethik angesichts des Angriffskriegs überhaupt noch die richtigen Antworten parat hat, oder ob es einer „Revision“ bzw. Weiterentwicklung der Positionen bedarf.[4] Grund für die kritischen Anfragen ist die Abwendung von der traditionellen Lehre vom gerechten Krieg innerhalb der christlichen Friedensethik, die sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat. Das Problem ist, so die Kritik, dass Krieg aus Sicht der modernen christlichen Friedensethik nicht sein darf und nicht sein soll. Dadurch ringt sie sowohl mit der Tatsache, dass es trotzdem weiter Kriege gibt, als auch damit, dass die Anwendung militärischer Gewalt zum Schutz von Frieden, Freiheit, Menschenrechten und Demokratie manchmal unumgänglich ist.
Gerechter Friede statt gerechtem Krieg.
Die Enzyklika Pacem in Terris ist die erste Enzyklika, in der ausdrücklich Abstand von der Tradition der Lehre vom gerechten Krieg genommen wird. Papst Johannes XXIII. legt stattdessen den Fokus auf die Bedeutung von Menschenrechten, internationalem Recht und supranationaler Zusammenarbeit für die Friedensbildung und -sicherung. Es ist dieser neue Fokus, der in den darauffolgenden Jahren immer weiterentwickelt wird und letztlich im heute in der christlichen Friedensethik vorherrschenden Paradigma des „gerechten Friedens“ mündet.[5] Sollte es stimmen, dass die Distanzierung von der Lehre vom gerechten Krieg ursächlich für das gegenwärtige Ringen der Friedensethik um eine eindeutige Positionierung angesichts des Angriffskrieges ist, könnte man also meinen, dass eine Rückbesinnung auf Pacem in Terris in diesem Kontext nicht gerade hilfreich ist.
Überzeugung, dass Frieden nur durch internationales Recht und internationale Institutionen erreicht und dauerhaft gesichert werden kann.
Ein solcher Schnellschluss ist jedoch unbegründet. Denn die Ablehnung der Lehre vom gerechten Krieg und die Forderung zur Überwindung des Krieges ist in Pacem in Terris in die Vision einer internationalen politischen Ordnung eingebettet, die auf Menschenrechten, internationalem Recht und internationaler Gerichtsbarkeit aufgebaut ist.[6] Die Forderung nach einer dauerhaften Überwindung des Krieges liegt also nicht begründet in einem naiven Pazifismus, sondern in der Überzeugung, dass Frieden nur durch internationales Recht und internationale Institutionen erreicht und dauerhaft gesichert werden kann.[7] Eine Reflexion über die Relevanz von Pacem in Terris angesichts der sicherheitspolitischen Umwälzungen unserer Zeit sollte gerade diese Aspekte der Enzyklika in den Blick nehmen.
Es reiche laut Matviichuk nicht, das Ende des Krieges abzuwarten.
In einem Vortrag an der Wiener katholisch-theologischen Fakultät im vergangenen Februar[8] machte die ukrainische Menschenrechtsaktivistin Oleksandra Matviichuk auf eindringliche Weise auf die zentrale Bedeutung des internationalen Rechts und der internationalen Gerichtsbarkeit im Kontext des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine aufmerksam. Neben der Unterstützung der Ukraine durch die internationale Gemeinschaft, ist es „dringend erforderlich, den weltweiten Umgang mit den Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der russischen Streitkräfte zu ändern und ein internationales Tribunal einzurichten“[9]. Es reiche laut Matviichuk nicht, das Ende des Krieges abzuwarten, um Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen konsequent zu verfolgen und rechtliche Verfahren einzuleiten. Es bedarf, so Matviichuk, einer sofortigen internationalen Zusammenarbeit um Rechtsverletzungen jeglicher Art zu ahnden[10].
Stellenwert von Menschenrechtsschutz, internationalem Recht, internationaler Gerichtsbarkeit und institutionalisierter supranationaler Zusammenarbeit.
Vor dem Hintergrund dieser Forderungen drängt sich die Relevanz der Sozialenzyklika Pacem in Terris angesichts des Russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine geradezu auf. Die zentrale Bedeutung von Pacem in Terris im heutigen Kontext findet sich aus friedensethischer Perspektive im Stellenwert, den die Enzyklika dem Menschenrechtsschutz, dem internationalen Recht, der internationalen Gerichtsbarkeit und der institutionalisierten supranationalen Zusammenarbeit zuspricht.[11] Freilich lässt sich über die genaue Umsetzung und die Grenzen der Vision von Pacem in Terris streiten. Fest steht, dass Frieden auch im heutigen Kontext und 60 Jahre nach der Veröffentlichung der Sozialenzyklika ohne effektiven Menschenrechtsschutz, Verfolgung und Ahndung von Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen sowie Institutionen der internationalen Gerichtsbarkeit undenkbar ist. Eine umfassendere Rezeption obengenannter Aspekte der kirchlichen Friedenslehre wäre daher dringend notwendig.
Wenn die christliche Friedensethik sich auf die Zentralität dieser Aspekte der Friedenslehre rückbesinnt und es uns als Vertreter:innen des Faches gelingt, die vielfältigen Ansätze der langen friedensethischen Tradition besser nach außen zu kommunizieren, statt uns nur auf die Frage zu konzentrieren, wie es sich nun mit der Lehre vom gerechten Krieg verhält, wäre viel gewonnen. So können wir die an der Friedensethik geäußerte Kritik, keine Antworten parat zu haben, entkräften und ihre Anschlussfähigkeit an aktuelle Debatten, z.B. über die Frage, wie Russland zur Rechenschaft gezogen werden kann und wie Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen effektiv aufgedeckt und verfolgt werden können, unter Beweis stellen. Lassen wir uns durch den 60. Geburtstag von Pacem in Terris dazu ermutigen.
[1] Vgl. z.B. Beestermöller, G., Fünfzig Jahre Pacem in Terris. Wo steht Christliche Friedensethik heute? In: Bock, V. et al (Hgs.), Christliche Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden 2015, S. 31-46.
[2] Vgl. https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2023-04/generalaudienz-papst-franziskus-appell-pacem-in-terris-ukraine.html (zuletzt abgerufen: 20.04.2023)
[3] Vgl. https://www.sueddeutsche.de/politik/papst-ukraine-krieg-kritik-1.5719680?reduced=true (zuletzt abgerufen 20.04.2023)
[4] Vgl. Vogt, M., Christsein in einer fragilen Welt: Revisionen der Friedensethik angesichts des Ukrainekriegs, https://ordosocialis.de/publikation/christsein-in-einer-fragilen-welt-revisionen-der-friedensethik-angesichts-des-ukrainekrieges/ (zuletzt abgerufen 20.04.2023)
[5] Vgl. Schockenhoff, E., Kein Ende der Gewalt? Friedensethik für eine globalisierte Welt, Freiburg im Breisgau, 2018, S. 578 ff.
[6] Vgl. u.a. O’Conell, M.E., Belief in the Authority of International Law for Peace: A Reflection on Pacem in Terris, in: Justenhoven, H.G. & O’Connell, M.E. (Hgs.), Peace through Law. Reflections on Pacem in Terris from Philosophy, Law, Theology, and Political Science, Baden-Baden, 2016 S. 45-64.
[7] Ebd., S. 63.
[8] Online nachzusehen unter https://www.youtube.com/watch?v=m342PqWkwE4
[9] Vgl. https://www.derstandard.at/story/2000144883974/friedensnobelpreistraegerinmatviichuk-russische-kriegsverbrechen-schon-jetzt-ahnden (zuletzt abgerufen 20.04.2023)
[10] Ebd.
[11] Vgl. Justenhoven, H.-G., Frieden durch Recht. Zur ethischen Forderung nach einer umfassenden und obligatorischen Gerichtsbarkeit. In: Bock, V. et al (Hgs.), Christliche Friedensethik vor den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, Baden-Baden, 2015, S. 113-130.
Noreen van Elk, geb. 1991, BTh. M.A. PhD., studierte kath. Theologie und Religionswissenschaften in Löwen (Belgien) und Berlin und promovierte an der Universität Groningen. 2014-2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Inst. f. Theologie und Frieden (ithf) in Hamburg, 2017-2021 Referentin im Kommissariat der deutschen Bischöfe in Berlin. Seit Dez 2021 Universitätsassistentin (postdoc) am Fachbereich Sozialethik des Inst. f. Systematische Theologie und Ethik der Kath.-Theol. Fakultät der Universität Wien.
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