Päpstliche Lehren haben Autorität. Sie zu interpretieren ist Aufgabe der Theologie, nicht des Papstes. Von Hans-Joachim Sander.
Ein Papst ist ein Lehrer des Glaubens. Das gehört zu seinem Amt, also zum weltkirchlichen Auftrag, der in der katholischen Kirche dem Bischof von Rom zukommt. Päpste sind keine Interpreten der Lehre, auch nicht ihrer eigenen bzw. schon gar nicht ihrer eigenen. Das gehört nicht nur nicht zu ihrem Amt, die Interpretation päpstlicher Lehren durch einen Papst würde dieses Amt sogar beschädigen. Päpstliche Interpretationen päpstlicher Lehren ziehen solche Lehren auf das Niveau theologischer Diskussionen. Dort sind sie aber weder für das Amt zu gebrauchen, zu dem sie gehören, noch taugen sie eigentlich für theologische Diskussionen, die solche Lehren auf Fragen und Problemkreise hin interpretieren, die über ihren Anlass hinausgehen. Ein Papst, der päpstliche Lehren interpretieren würde, wäre schlecht beraten. Es würde ihm nicht helfen und theologisch auch nicht weiterführen.
Päpstliche Interpretationen päpstlicher Lehren ziehen diese auf das Niveau theologischer Diskussionen.
Interpretationen des derzeitigen Papstes zu päpstlichen Lehren werden dennoch aktuell von zwei Richtungen in der Kirche angefordert bzw. sie werden ihm angeraten. Die eine Richtung, die anratende, sind Theologen und Theologinnen, die diesem Papst gewogen sind, weil sie seine Lehre einer ortsverändernden Reformierung der Kirche in wichtigen Glaubensfrage wie der katholischen Position zu Ehe und Partnerschaften gut heißen. Solche theologischen Stimmen hätten diese Position gerne mit deutlicheren Interpretationen abgesichert, die damit natürlich das (strukturell unweigerlich vorhandene) Risiko ihrer eigenen Interpretationen reduzieren würden, an den vorgelegten Lehren vorbei zu argumentieren.
Interpretationen des derzeitigen Papstes zu päpstlichen Lehren werden aktuell von zwei Richtungen angefordert bzw. angeraten.
Die andere Richtung, die anfordernde, hat Zweifel an der katholischen Gültigkeit bestimmter Lehren in Amoris laetitia angemeldet und verlangt Klarstellungen, die ihren Zweifel aufhebt. Diese Richtung gibt es derzeit auch in einer verschärften Variante, die dem gegenwärtigen Papst rundheraus Häresien vorwirft, ohne dass sie diese Häresien außer mit formelhaften Darstellungen angeblicher Falschheiten aus der Wahrheit des Glaubens herleitet. Dazu nur kurz: Beim Häresie-Vorwurf ist entscheidend, dass die an ihm haftende Auseinandersetzung aus dem Dunstkreis lediglich kirchenpolitischer und/oder theologiepolitischer Interessen heraustreten kann. Ein solcher Vorwurf muss wegen seiner Vernichtungsabsicht von Wahrheitsansprüchen die eigene Position an selbst beschriebenen Darstellungen seiner Wahrheitsgrundlagen überprüfbar halten. Der schiere Verweis auf eine angeblich gebrochene Tradition genügt dafür nicht; man wird nicht zum Verteidiger von Orthodoxie, wenn man bei anderen Heterodoxie konstatiert. Aus Anlass von Heterodoxien lassen sich verlässliche Darstellungen des Glaubens durchaus entdecken, über die man zuvor nicht verfügte; aber das ist etwas anderes als die einfache binäre Codierung von Häresie versus Orthodoxie. Darum sind die klassischen Anathematismen stets erst erfolgt, nachdem eine (zuvor meistens noch nicht formulierte oder formulierbare) Lehrposition deutlich und ausführlich dargestellt wurde. Man kann nicht mit Anathematismen beginnen, um einen christlichen Glauben darzustellen. Von daher erübrigt sich die weitere Auseinandersetzung mit dieser Verschärfung der Position, die päpstliche Interpretationen päpstlicher Lehren anfordert. Ihr fehlt die formale Qualität.
Man wird nicht zum Verteidiger von Orthodoxie, wenn man bei anderen Heterodoxie konstatiert.
Die anderen Stimmen, also anratende und unterstützende sowie die anfordernde und zweifelnde Position, wollen vom Papst Interpretationen seiner eigenen Lehre, also Erläuterungen, wie sie denn zu verstehen sei. Derlei Interpretationen einer päpstlichen Lehre würde einen Papst zu einem Theologen machen, was er in einem professionellen Sinn nicht ist und nicht sein darf. Das gilt auch dann, wenn ein Papst, wie im Fall von Benedikt XVI., einmal ein professioneller Theologe gewesen ist. Päpstliche – und übrigens auch konziliare – Lehren des Glaubens stehen über den theologischen Auseinandersetzungen; das ist seit dem Barock und seinen Grabenkämpfen um die Gnade sogar kirchlich-ausdrücklich klar. Gegen den hermeneutischen Umgang mit Texten ist natürlich theologisch nichts zu sagen, aber das gehört nicht in das Lehramt eines Papstes. Interpretationskompetenz, also hermeneutisch valide Erläuterungen, ist ein wichtiges Merkmal des Ortes von Theologie in der Kirche, sprich von professionellen Theologinnen und Theologen.
Päpstliche – und übrigens auch konziliare – Lehren des Glaubens stehen über den theologischen Auseinandersetzungen.
Interpretation ist allerdings kein Merkmal von theologischen Orten, die der christlichen Glaubensgemeinschaft von sich her eigentümlich sind. Ein solcher locus theologicus proprius (unter anderen Orten, versteht sich) ist nach katholischer Auffassung der Papst. Ein Ort der Theologie ist nicht mit einem theologischen Ort identisch und auch nicht damit identifizierbar. Theologische Orte, also loci theologici, haben Autorität, sprich: Sie sind in der Lage, eine Fundstelle von Glaubenswahrheiten bereit zu stellen, die so überzeugend ist, dass man ihnen folgen kann, weil ihre Ratschläge die Probleme von Glaubensfragen lösen. Das macht Autorität zur Autorität (auctoritas) und unterscheidet sie gravierend von Macht (potestas), die sich lediglich durchsetzen muss, damit man ihren Befehlen folgt. Die Wahl der Mittel ist für die Macht zweitrangig, die Mittel der Autorität sind jedoch weniger als ein Befehl und mehr als ein Ratschlag. Die Wahl dieser Mittel ist nicht zweitrangig, sie ergeben sich über die Ermächtigung derer, die Autorität nachfragen. Aber das ist kein Machtzuwachs, sondern Darstellungsgewinn.
Theologische Orte, also loci theologici, haben Autorität.
Die Einforderung von päpstlichen Interpretationen päpstlicher Lehren verlangt nach einer potestas und übersieht die auctoritas, um die es tatsächlich geht. Macht kommt dem Papstamt zwar auch zu, aber nur in jurisdiktionellen Fragen. Die Wahrheiten des Glaubens sind aber keine juridische Kategorie. Sie können nicht einfach aus dem kirchlichen Recht deduziert werden, sondern sind in Tat und Wort derer zu entdecken, die glauben und Kirche bilden. Glauben wahrhaftig zu machen gehört nicht zur potestas des Papstamtes, sondern zu seiner auctoritas. Es verschärft daher die Probleme, wenn von einem Papst Macht eingefordert wird, um päpstlichen Lehren Nachdruck zu verleihen oder Zurechtrücken aufzudrücken.
Glauben wahrhaftig zu machen gehört nicht zur potestas des Papstamtes, sondern zu seiner auctoritas.
Es ist durchaus und natürlich eine Interpretationsaufgabe am kirchlichen Ort der Theologie, diese Autorität päpstlicher Lehren zu interpretieren – und zwar so, dass die Glaubensgemeinschaft nicht auf der Erwartung von Machtworten, also dem potestas-Gebrauch, sitzen bleibt. Im Unterschied zu theologischen Orten – wie dem des Lehramtes des Papstes – hat der Ort der Theologie in der Kirche keine Autorität. Er ist die Lokalisierung von Auseinandersetzungen über den Glauben in Argumentationen über diesen Glauben, die kirchlich wegweisend werden können, aber auch signifikant für Irrwege sein können. In der Theologie hat nicht der kirchliche Ort ihrer Argumentationen Autorität, vielmehr bewähren sich diese Argumentationen daran, dass sie Autorität gewinnen.
Es geht in der aktuellen Auseinandersetzung über Amoris laetitia um die Autorität päpstlicher Lehren.
Es geht in der aktuellen Auseinandersetzung über Amoris laetitia um die Autorität päpstlicher Lehren. Eine Bedingung ihrer Möglichkeit liegt darin, den Interpretationsvorgang päpstlicher Positionierungen des Glaubens dort zu lassen, wo er hingehört, eben in die Theologie. Dort trägt er, nicht zuletzt auch in the long run, Früchte, wenn Theologinnen und Theologen ihr Argumentationshandwerk verstehen. In den anratenden und anfordernden päpstlichen Interpretationen päpstlicher Lehren zeigt sich möglicherweise aber auch mehr – ein Ortswechsel des locus theologicus des Papstes von den loci proprii zu den loci alieni, also von den bestätigenden zu den zumutenden Fundstellen des Glaubens. Aber das ist ein anderes, wesentlich weiteres Thema als die derzeitige Interpretationsdebatte.
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Hans-Joachim Sander ist Professor für Dogmatik an der Universität Salzburg.
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