Die Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst (DG) zeigt noch bis 18. Juli 2021 eine Ausstellung, die das veränderte Verständnis von Geschlecht in Gesellschaft und Kunst unter dem Titel „Paradise Lost #Gender shift“ thematisiert.[1] Ute Leimgruber war dort – und empfiehlt den Besuch.
„Die Zukunft ist weder weiblich noch männlich“[2]. „Die tradierten sozialen Rollen, die Männern und Frauen in der Gesellschaft zugeschrieben werden, verlieren an gesellschaftlicher Verbindlichkeit.“[3] So prognostiziert der ThinkTank zukunftsInstitut auf seiner Homepage. Gender Shift sei einer der Megatrends der kommenden Jahre. Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geschlecht ändere sich so fundamental, dass Diversität normal werde und die Identitäten der Menschen sich jenseits des Geschlechts definieren würden. Ob diese Prognose tatsächlich zutreffen wird?
Beispiele feindlich-polarisierender Debatten zu Gender
Viele gesellschaftliche Debatten rund um Gender werden jedenfalls feindlich-polarisierend geführt, Konservative aller Couleur kämpfen zunehmend verbissener um die Bewahrung einer binären Geschlechterordnung. Beispiele für das Europa aus dem Jahr 2021: Gendergerechte Sprache wird in Deutschland von einer Regierungspartei zum Wahlkampfthema gemacht. Der ungarische Regierungschef schränkt per Gesetz die Informationsrechte von Jugendlichen in Hinblick auf Homosexualität und Transsexualität massiv ein. Von den 47 Mitgliedsstaaten des Europarats haben noch immer elf Länder das 2014 in Kraft getretene Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt, die sog. Istanbul-Konvention[4], nicht ratifiziert, u.a. mit dem Hinweis, das Gesetz würde zur Zerstörung vieler Familien führen, da es die Grenzen zwischen Männern und Frauen verwische und homosexuelle Beziehungen propagiere. Und der Vatikan protestiert in einer diplomatischen Verbalnote gegen ein neues Gesetz für den besseren Schutz von Homosexuellen und Transmenschen in Italien (sog. „Legge Zan“).
Das patriarchale Paradies geht verloren
Beim Thema Gender sind sich politische und religiöse Konservative einig: die Unterschiede zwischen den Geschlechtern seien gottgegeben, sie dürften unter keinen Umständen verunklart werden. Es sei ein „konfuses Konzept von Freiheit“, nicht mehr zwischen Frauen und Männern unterscheiden zu wollen, so der Vatikan in seinem 2019 veröffentlichten Papier „Als Mann und Frau schuf er sie“[5]. Ob Victor Orban oder Paul Richard Gallagher: Man wird nicht müde, die sog. „Gender-Ideologie“ zu beschwören, die Gefahr einer „Gesellschaft ohne Geschlechterdifferenz“ in Aussicht zu stellen und vor einem Zusammenbruch der christlichen Familie und des gesamten christlichen Abendlandes zu warnen. Mit Verweis auf die biblischen Paradieseserzählungen wird die eigene strikt binäre Sichtweise mit immer härteren Bandagen verteidigt. Und tatsächlich: das patriarchale Paradies, in dem es ausschließlich Männer und Frauen gibt, und in dem die Männer den Frauen die ihnen natürlicherweise zukommenden Rollen zuweisen, geht verloren.
Der Titel der Ausstellung „Paradise Lost #Gender shift” kann also in manchen Ohren fast wie ein Menetekel klingen.
Auch in kirchlichen Kontexten kann man sich ideologiefrei und künstlerisch auf hohem Niveau mit den Themen Gender, Sexualität und Identität auseinandersetzen.
Vor diesem Hintergrund der Gender-Streitigkeiten erscheint das Projekt in der Deutschen Gesellschaft für christliche Kunst (DG) „Paradise Lost #Gender shift” äußerst zeitsensibel und mutig zugleich. Es zeigt, dass man sich auch in kirchlichen Kontexten ideologiefrei und künstlerisch auf hohem Niveau mit den Themen Gender, Sexualität und Identität auseinandersetzen kann. „Als Verein für zeitgenössische Kunst mit christlicher Haltung, der die existentiellen Fragen des Menschen in den Blick nimmt, werden in diesem Ausstellungsprojekt die Fragen ganz grundsätzlich gestellt – nach dem Bild des Menschen und seiner Identität, die wesentlich mit seinem sozialen und biologischen Geschlecht verbunden ist, nach den Geschlechterrollen und nach dem shift, also der Verschiebung, in der sich diese über Jahrhunderte scheinbar unveränderlichen binären Einteilungen befinden“[6], schreibt die Kuratorin Benita Meißner im begleitenden Katalog.
Die Ausstellung im DG Kunstraum zeigt mit der Hängung im Petersburger Stil Fotografien unterschiedlicher Menschen in einem großen Tableau nebeneinander, was zu einer beeindruckenden visuellen und emotionalen Dichte führt. Es sind Werke von Jutta Burkhardt, Cihan Cakmak, Rineke Dijkstra, VALIE EXPORT, Alicia Framis, Harry Hachmeister, Julia Krahn, Benyamin Reich, Aura Rosenberg, Thomas Ruff, Tejal Shah, Pola Sieverding, Jana Sterbak und Sophia Süßmilch und reichen von 1973 bis heute.
Die Bilder berühren in ihrer Unmittelbarkeit
Mehrere Künstler*innen der Ausstellung reflektieren die Uneindeutigkeit des Geschlechts, ihre Selbstinszenierungen erzählen von sich und sind doch eindeutige Botschaften an die Mehrheitsgesellschaft. Die Bilder berühren in der Unmittelbarkeit, in der sie den Wunsch nach Anerkennung und die erfahrenen Verwundungen gleichermaßen thematisieren. Sie überraschen und berühren, sie verstören und spielen mit dem voyeuristischen Auge der Besucher*innen. Manche klagen an, andere sind voller Kampfeslust. Sie sind so intensiv, dass sie wohl niemanden, der*die sich auf die Ausstellung einlässt, kalt lassen.
Die Werke der indischen queeren Künstlerin Telal Shah stellen sexuelle Zugehörigkeiten in Frage und zeigen zugleich die enorme Verletzlichkeit von menschlichen Körpern und Seelen; zu sehen sind von ihr zwei Bilder einer Transperson, die nackt vor einer rosa Wand steht. Das Bild endet unterhalb des Kopfes, und der Titel „Waiting I und II“ (2007) formiert die Interpretation in vielfacher Weise: worauf wartet die Person? Auch Harry Hachmeister – als Grit geboren – blickt auf fluide Genderidentitäten: In dem Bild „Boxer“ (2007) aus der Serie „Grit, wir kriegen dich“ zeigt er eine Person mit weiblichen Geschlechtsmerkmalen, einzig bekleidet mit Fußballhandschuhen, Boxershorts, Schienbeinschonern und Fußballschuhen. Ähnlich wie Hachmeister verwendet Pola Sieverding in „The Epic“ (2016/2020) die Bildwelt des männlich codierten Kampfsports, sie thematisiert in ihren Fotografien zweier Boxer vermeintlich geschlechtsspezifisches Rollenverhalten und hinterfragt damit die konventionellen Vorstellungen von Männlichkeit.
Ich bin Maria Magdalena. Im Himmel gibt es kein Geschlecht
Viele der Künstler*innen setzen sich mit dem herkömmlichen Bild der Frau und den häufig gewaltvollen Konsequenzen auseinander. Julia Krahn tut dies, indem sie die Bildwelt christlicher Motive in ihre Arbeiten einfließen lässt. In „33M_Angele“ (2014) bezieht sie sich auf Maria Magdalena, dargestellt mit abgebundenen Brüsten und einem Bart als Männlichkeitssymbol, und schreibt in einem Begleittext: „Ich bin Maria Magdalena. Im Himmel gibt es kein Geschlecht. Und kein Mensch auf der Welt ist mehr oder weniger Wert.“[7] VALIE EXPORT inszeniert in zwei Fotografien aus der Serie „Identitätstransfer B“ (1973) den Bezug von Frauen in einer Gesellschaft, die Geschlechterrollen normiert und Frauenkörper zur Verfügungsmasse werden lässt. Beide Bilder zeigen jeweils eine liegende Frau: einmal bekleidet, mit offenen Augen, auf einem Berg von Geröll, das andere Mal nackt, die Augen geschlossen, in bewusster Assoziation von sexueller Gewalt. Gleich neben den Arbeiten von VALIE EXPORT, die seit den 1960er Jahren gegen geschlechtsspezifische Diskriminierung kämpft, hängt das Bild der 43 Jahre jüngeren Sophia Süßmilch – man mag es als Kommentar der heutigen Frauengeneration lesen – mit dem Titel „Wir wollen keine Gleichberechtigung, wir wollen Rache“ (2009). Die Fotografie zeigt verschwommen zwei junge Frauen, die im dunklen Innern eines Campingwagens kauern und – bis auf glitzernde Accessoires auf dem Kopf unbekleidet – mit zwei Lichterschwertern aus Plastik „bewaffnet“ sind. Sie scheinen für den Kampf gegen das Patriarchat bestens gerüstet.
Eva. Erde zu Erde
Und das Paradies? Die zeitgenössischen Gegner einer non-binären Geschlechterordnung zitieren die biblischen Schöpfungstexte als geradezu wörtlichen Beweis, dass es Geschlecht nur als Mann und Frau – und nichts dazwischen oder darüber hinaus – geben könne. Gleichzeitig wurden Frauen mit Verweis auf Eva und ihren Beitrag an der Vertreibung aus dem Paradies seit Jahrtausenden etikettiert als schwach, sündhaft und dem Mann unterlegen. Dies wird unter anderem diskutiert in „Eva. Erde zu Erde“ (2013) von Julia Krahn, mit diesem Bild beginnt der Ausstellungsreigen. In einem großformatigen Bild inszeniert sich die Künstlerin als Eva, Gott ebenbildlich. Sie steht auf grauem Betonboden, und auch ihr Körper ist grau von Staub und Erde. Ihr zu Füßen liegt der Apfel, unberührt und nicht im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit, denn Eva hat mit der Schlange zu tun, die sich aufrichtet, von Eva aber – den Oberkörper zum Boden geneigt – mit der rechten Hand und dem rechten Fuß im Griff gehalten wird. Souverän und selbstsicher zähmt die nackte Eva/Julia Krahn die Schlange und überschreitet alle patriarchalen und misogynen Deutungen der Schöpfungserzählen. Es bleibt der Betrachterin überlassen, die Geschichte seit Erschaffung der Welt in dieser Lesart weiterzuerzählen, durch all die beeindruckenden Bilder der Ausstellung hinweg, und durch das letzte Bild, auch das eine Paradiesesdarstellung, mit einem optimistischen, fast schon versöhnlichen Blick in die Weite versehen: In Harry Hachmeisters Fotografie „Arkadischer Jünglingsakt (nach Goethe)“ (2015) liegt der Künstler – nackt, androgyn, mit dem Rücken zur Betrachterin – als Jüngling auf einer Steinplatte. Mit ihm gemeinsam blickt die Betrachterin auf eine weite Landschaft: Arkadien? Das Paradies?
Auf welches verlorene Paradies der Titel „Paradise Lost #Gender shift” anspielt, bleibt nach dem Besuch der Ausstellung vieldeutig. Gerade deswegen ist ein Besuch der Ausstellung dringend empfohlen.
[1] DG Kunstraum. Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst e.V., Finkenstraße 4, 80333 München. Telefon (089) 28 25 48, E-Mail: info@dg-kunstraum.de Öffnungszeiten: Dienstag bis Freitag, 12 bis 18 Uhr.
[2] https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-gender-shift/
[3] https://www.zukunftsinstitut.de/dossier/megatrend-gender-shift/
[4] Die Istanbul-Konvention verpflichtet die Unterzeichnenden, offensiv gegen alle Formen von Gewalt, insbesondere die gegen Frauen und Mädchen, vorzugehen. Text online: https://www.unwomen.de/fileadmin/user_upload/schwerpunktthemen/internationale_konventionen/pdf/Europaratskonvention%20zur%20Beseitigung%20von%20Gewalt%20gegen%20Frauen%20und%20h%E4uslic….pdf
Vgl. auch https://www.unwomen.de/informieren/internationale-vereinbarungen/die-istanbulkonvention.html
[5] https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/ccatheduc/documents/rc_con_ccatheduc_doc_20190202_maschio-e-femmina_ge.pdf
[6] Meißner, Benita, Die Macht des Bildes und die Macht des Wortes, in: Paradise Lost #Gender shift, Katalog 153 der DG, hg. von Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst e.V., Lindenberg 2021, 10–17; hier: 13.
[7] Zit. nach Paradise Lost #Gender shift, Katalog 153 der DG, hg. von Deutsche Gesellschaft für christliche Kunst e.V., Lindenberg 2021, 90.
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Autorin: Ute Leimgruber ist Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg
Beitragsbild: Ausstellungsansicht, ‚Paradise Lost #gender shift’, DG Kunstraum, 2021, Foto: Gerald von Foris, München