Maximilian Heuvelmann entführt auf eines der größten Musikfestivals in Europa. Electonic Dance Music – ein theologischer Ort?
Der Sommer ist die schönste Zeit im Jahr. Es ist die Zeit, die von einer gewissen Leichtigkeit getragen wird, und es ist die Zeit, in der die Versprechungen der lauen Sommernächte unendlich scheinen. In diese Jahreszeit fallen viele Festivals. Aufmerksam wurde ich auf das Festival „Parookaville“, da es ganz in der Nähe meiner Heimat am Niederrhein stattfindet und mittlerweile zu den bekanntesten EDM-Festivals in Europa gehört. Verstärkt wird der Effekt durch die zunehmende Präsenz z. B. bei Social-Media.
Parallelwelt
In diesem Sommer war ich für einen kurzen Moment selbst Teil des Festivals. Ausgehend von diesem Besuch möchte ich einige Dinge beleuchten, die mir nachgehen und von denen die Kirche in ihrer Verkündigung lernen kann. Zunächst so viel: Nach der Coronazwangspause waren in diesem Jahr über 200.000 Menschen Besucher des Festivals. Besonders ist, dass man für ein Wochenende in eine Parallelwelt abtaucht. Alle Besucherinnen und Besucher sind „Citizens“, die sich in der fiktiven Stadt Parookaville versammeln.
Frei fließender und verrückter Ort
Die Stadt hat ihren Gründungsmythos in der Figur des Bill Parooka. Parookaville „wurde als künstlerischer, frei fließender und verrückter, musikalischer Ort gebaut, an dem Menschen Kontakt mit ihrem reinen Selbst aufnehmen, wahre Verbindungen erleben und ein tiefes Gefühl von Glückseligkeit und Erfüllung verspüren können.“[1] Entsprechend dieser Gründungsintention gibt es im engeren Sinn keine Tickets zu erwerben, sondern man erwirbt Visa für den Zeitraum des Festivals. Für eine Stadt üblich gibt es verschiedene Elemente, die sich in jeder Stadt finden lassen. Dazu gehören z. B. ein Rathaus, ein Gefängnis und eine Kirche. In der Kirche besteht die Möglichkeit, vor dem offiziellen Festivalstart offiziell zu heiraten. Während des Festivals sind „Spaßhochzeiten“ möglich.
Erkundungsfeld
Für die (Pastoral-)Theologie ist Parookaville ein Erkundungsfeld. Meine These lautet: Parookaville ermöglicht säkulare Sinnerfahrungen, die Voraussetzung sind für religiöse Sinnerfahrungen. Die Kirche hat lange Zeit in Anspruch genommen, die einzige Vermittlerin von Sinn zu sein. Auf den ersten Blick könnte man dieser Schlussfolgerung schnell zustimmen. Ich erinnere mich an viele Predigten, die ich während meiner Ausbildungszeit im Priesterseminar gehört habe und in denen immer wieder die „Sehnsucht“ der Menschen thematisiert wurde. Die Sehnsucht wurde in diesem Zusammenhang zu einer unbestimmten Chiffre, die alles Mögliche gedanklich aufgenommen hat und mehr eine (Selbst-)Relevanz suggeriert hat, ohne eine wirklich relevante Größe zu sein.
Für den Scheiß lebe ich
Dagegen steht meine Erfahrung bei Parookaville. Es versammeln sich unzählige Menschen, um gemeinsam eine gute Zeit zu haben. Ich habe eine sehr ausgelassene und gelöste Stimmung wahrgenommen. Parookaville gelingt dies, weil eine sinntragende Geschichte erzählt wird, die sich religiöser Metaphern bedient: „Tritt in die Dunkelheit, wenn du es wagst, folge deinem inneren Licht und tauche ein in eine spektakuläre Welt der Freiheit und Liebe!“[2] Für viele Menschen, auch in meinem unmittelbaren Umfeld, ist Parookaville der Höhepunkt des Jahres. In diesem Zusammenhang ist mir ein Interview im Kopf geblieben. Da sagte ein junger Mann: „Alter, für den Scheiß lebe ich.“[3] Die Narration des Parookaville bietet ein hohes Anknüpfungspotential und schafft Identifikation mit dem Festival.
Überschusscharakter
Warum schaffen Festivals das, was über Jahrhunderte fast ausschließlich der Kirche zugeschrieben wurde? Der aus Korea stammende Philosoph Byung-Chul Han geht in dem Band „Vom Verschwinden der Rituale“ der tieferen Bedeutung von Festen nach. Er stellt heraus: „Das Fest als Spiel ist eine Selbstdarstellung des Lebens. Ein Überschusscharakter zeichnet es aus.“[4] Neben diesen Faktoren befreit das Fest aus einem Umfeld, das auf andauernde Produktion hin angelegt ist. Es ist von daher ohne Ziel[5]. Das Fest hebt sich von einer Zeitstruktur von der Alltagszeit ab. Für Feste gilt: „Die Fest-Zeit ist eine stehende Zeit. Sie vergeht, verrinnt nicht. […] Die Zeit des Festes ist eine Hoch-Zeit.“[6] Im Gegensatz dazu konstatiert er für Festivals einen anderen Charakter der Zeit. Hier ist die Zeit bestimmt durch „die Eventualität. Sie ist zufällig, willkürlich und nicht bindend.“[7] Heute bleiben, so analysiert er, alle Elemente aus, die auf eine Bindung hinauslaufen. Es gilt die Konsumformel: Hauptsache man hat an dem Festival teilgenommen.
Erlebe Dein Leben
Allerdings teile ich die Analyse nicht in jedem Punkt, denn wie oben schon geschrieben, sehe ich, dass Parookaville eine narrative Stärke aufweist. Dahinter steht ein grundlegender Wandel in unserer Gesellschaft. Es werden Formate gesucht, die gerade nicht bindend sind. Formate, in denen jederzeit eine Form der Entnetzung angestrebt werden kann. Der Konsum von Erlebnissen ist zu einem sinnstiftenden Moment geworden. Man konsumiert das Erlebnis. Ähnlich lautet der von Gerhard Schulze ausgemachte Imperativ der Zeit: „Erlebe Dein Leben!“[8]
Edward Schillebeeckx
Nimmt man diese Beobachtungen ernst, dann ergeben sich für die Theologie spannende Erkenntnisse. Die Gottesfrage steht hier nicht in einer vermeidlichen Konkurrenz zu säkularen Sinnangeboten, sondern sie ist frei von allen Notwendigkeiten. Der belgische Theologe Edward Schillebeeckx konstatiert: „Moderne Menschen brauchen Gott nicht zur Erklärung [der Welt, M. H.].“[9] Vielmehr, so schreibt er, finde sich Gott an Stellen, wo wir ihn nicht vermuten.
„Wenn wir in diesem Kontext in der menschlichen Erfahrung nach Erwartungen, Echos, Spuren oder sogar nach unterdrücken Geräuschen suchen, die Gottes grundlose Anwesenheit bei uns […] vermuten lassen, könnten wir vielleicht in unserer Zeit am ehesten bei der Fähigkeit des Menschen fündig werden, ohne ‚um willen‘ zu lieben; dann sollten wir vielleicht auf der Ebene unserer menschlichen Kreativität, der Feste und Feiern, des freudigen Sichverschenkens und der Selbsttranszendenz suchen.“[10]
Edward Schillebeeckx unterscheidet zwei Ebenen von Sinnerfahrungen. Er kennt den „menschlichen Sinn“[11] und den „religiösen Sinn“[12]. Offenbarung ereignet sich dort, wo ein „sinnvolles Geschehen“[13] vorausgeht, „das auch schon ohne direkten Bezug auf Gott […] für Menschen relevant ist.“[14]
Von diesen Orten lernen
Die Theologie wird damit in eine Freiheit geführt, diese säkularen Orte als Fremdorte mit einer großen Wertschätzung zu besuchen. Sie kann von diesen Orten lernen, die Bedingungen der Zeit, unter denen das Evangelium interpretiert wird, zu erforschen und den Interpretationsrahmen zu erweitern. Damit wird eine Aktualisierung der Botschaft des Evangeliums erreicht. Unter dem Gesichtspunkt des Pluralen muss gesagt werden, dass jeder Fremdort eigene Interpretationsbedingungen hat. Es zeigt sich einmal mehr, dass die Universalität des Evangeliums nur von den partikularen Aktualisierungen und Bedingungen behauptet werden kann. Die Dichotomie zwischen „Welt“ und „Kirche“ ist nicht zu halten, da die Kirche das Evangelium nur mit den Bedingungen dieser Welt verkünden kann.
Voraus von religiöse Sinnerfahrungen
Die geschilderten Momente zeigen, dass sich die Situation der Verkündigung heute gänzlich verändert haben. Es wird nicht mehr eine Ortsgebundenheit gesucht und es steht weniger die Gemeinschaft im Fokus des Interesses. Vielmehr wird das Erlebnis gesucht. Hierin mag einer der Gründe zu finden sein, warum pentekostale Bewegungen so erfolgreich sind. Für die Verkündigung heißt dies besonders, dass Formen der Improvisation erlernt werden müssen, nur so „können wir das erkunden, was uns nicht vertraut ist“[15]. Menschliche Sinnerfahrungen, wie sie z. B. bei Parookaville gemacht werden, gehören zu dem Voraus von religiösen Sinnerfahrungen und sind insofern erkenntnisleitend. Steve Jobs kann zu einem Vorbild werden, in welcher Haltung heute verkündigt werden könnte. Seine Verkaufsmaxime habe ich an dieser Stelle leicht abgewandelt: „Die Menschen wissen gar nicht, was ihnen ohne das Evangelium fehlt, bis wir es ihnen zeigen.“[16]
Maximilian Heuvelmann ist Referent des Münsteraner Weihbischofs Rolf Lohmann und Doktorand an der Universität Innsbruck.
[1] https://www.parookaville.com/de/experience [recherchiert am: 09.11.2022].
[2] https://www.parookaville.com/de/experience [recherchiert am: 09.11.2022].
[3] Aus der Erinnerung eines beim Autofahren gehörten Statements bei dem Sender 1Live.
[4] Han, Byung-Chul, Vom Verschwinden der Rituale. Eine Topologie der Gegenwart, Berlin 2019, 51.
[5] Vgl., ebd.
[6] Ebd., 52.
[7] Ebd., 53.
[8] Ebd., 59.
[9] Schillebeeckx, Edward, Weil Politik nicht alles ist. Von Gott reden in einer gefährdeten Welt, Freiburg 1987, 16.
[10] Ebd.
[11] Ebd., 22.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Ebd.
[15] Bertram, Georg und Rüsenberg, Michael, Improvisieren! Lob der Ungewissheit, Stuttgart 2021, 129.
[16] Isaacson, Walter, Steve Jobs. Die autorisierte Biografie des Apple-Gründers, München 2011, Bildquelle 6. Die Bildunterschrift lautet dort: „Die Kunden wissen gar nicht, was sie wollen, bis wir es ihnen zeigen.“
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