Der Neutestamentler Markus Tiwald berichtet über Erkenntnisse einer Tagung zum hochaktuellen Thema „Parting of the Ways“ und die bleibende Verpflichtung des Christentums auf seine jüdischen Wurzeln.
In der modernen Bibelwissenschaft ist es unstrittig, dass Jesus selbst keine eigene Religion abseits vom Judentum gründen wollte. Wann die Wege zwischen Judentum und Christentum allerdings auseinandergingen und wie stark die Wurzeln des beginnenden Christentums im Judentum liegen, ist derzeit eines der ereignisreichsten Forschungsgebiete neutestamentlicher Wissenschaft. Für die Thematik hat sich die catchphrase „Parting of the Ways“ („Trennung der Wege“) festgesetzt.
Keine endgültige Trennung von Judentum und Christentum vor dem 4. Jh.
Heute vertreten die meisten Judaist*innen und Bibelwissenschaftler*innen, dass das „Parting of the Ways“ ein Prozess war, der nicht in allen Gemeinden zu derselben Zeit und in derselben Weise ablief und auch im vierten Jahrhundert noch nicht endgültig abgeschlossen war. Autoren wie D. Boyarin unterstreichen, dass das „Parting of the Ways“ zunächst das ideologisch-identitätsstiftende Werk „orthodoxer“ christlicher Häresiologen und „orthodoxer“ jüdischer Rabbis gewesen sei – während die einfachen Gläubigen die Sache wesentlich entspannter sahen. Allerdings sollte man hier besser von „proto-orthodox“ reden, da die christliche „Orthodoxie“ erst mit konstantinischer Zeit (4. Jh. n. Chr.) einsetzte und das Rabbinische Judentum erst ab 200 nach der Zeitenwende entstand. So etwa polemisiert Johannes Chrysostomus († 407) in seinen adversus Iudaeos Homilien gegen eine große Zahl von Christen, die in seiner Heimatstadt Antiochia an jüdischen Festen teilnehmen und jüdische Festbräuche einhalten.
„Kopernikanische“ Wende in der Bibelwissenschaft
Für die neutestamentliche Bibelwissenschaft hat sich mit diesen Neuerkenntnissen eine „kopernikanische“ Wende in der Interpretation biblischer Texte ergeben. Galt es früher als ausgemacht, dass in den Evangelien das „Parting of the Ways“ bereits vollzogen war, so muss diese Meinung für alle vier kanonischen Evangelien revidiert werden. Das Matthäus- und Johannesevangelium galten auch schon im letzten Jahrhundert als von einem judenchristlichen Autor verfasst – allerding unter der Annahme, dass sich die Gemeinden schon von der Synagoge getrennt hätten (vgl. Mt 9,35; 10,17: „ihre Synagogen“ und der Synagogenausschluss in Joh 9,22; 12,42; 16,2).
Allerdings gab es in der damaligen Zeit keine zentral-jüdische Leitungsinstanz, die aus allen Synagogen weltweit hätte ausschließen können. Der Bruch mit einer Synagogengemeinschaft bedeutete noch nicht den Bruch mit dem Judentum als solchen. Auch die postulierte „Synode von Javne/Jamnia“, die einen bindenden Ausschluss der Christen vom Judentum vollzogen hätte, gab es in Wirklichkeit nie, wie G. Stemberger schon 1988 nachgewiesen hat.
Galt es früher als ausgemacht, dass in den Evangelien das „Parting of the Ways“ bereits vollzogen war, so muss diese Meinung für alle vier kanonischen Evangelien revidiert werden.
Auch die früher als „heidenchristlich“ eingestuften Evangelien von Markus und Lukas werden heute immer mehr als Versuch bewertet, jüdische Traditionen im beginnenden Christentum weiterhin zu erhalten und in einem bestimmten Maße auch für nichtjüdische Christusgläubige zu erschließen. Die staunenswerte Kenntnis von jüdischen Bräuchen in allen vier kanonischen Evangelien und deren Diskurs um die rechte Befolgung jüdischer Tora-Vorschriften, lassen nur den Schluss zu, dass hier noch kein definitiver Bruch vorlag.
Am Stärksten ist davon die Theologie des Paulus betroffen: Heute wird Paulus als innerjüdischer Interpret von Tora-Vorschriften gesehen – was durch starke parallele Theologumena in Qumranschriften und frühjüdischen Apokrypha (aus der Zeit des Zweiten Tempels stammenden jüdischen Schriften, die später nicht in die heiligen Schriften des Judentums aufgenommen wurden) belegt wird. Die in den letzten Jahrzehnten voranschreitende Forschung zu diesen Corpora hat den Wandel in der neutestamentlichen Bibelwissenschaft erst möglich – und damit (zum Glück!) auch unumgänglich – gemacht.
Internationaler Kongress in Wien
Der vom 5.-8. September 2022 an der Universität Wien stattfindende internationale und interdisziplinäre Kongress (getragen von M. Tiwald/Katholisch-Theologische Fakultät und M. Öhler/Evangelisch-Theologische Fakultät) hat sich das Ziel gesetzt, diese Frage weiter zu erörtern und damit an eine Tagung anzuschließen, die 2019 in Berlin gehalten wurde (veranstaltet von J. Schröter, B.A. Edsall, J. Verheyden). In Ergänzung dazu versuchte die Tagung in Wien auch die Frage zu stellen, wie eine heutige Theologie „im Angesicht Israels“ aussehen könnte.
Christliche Wertschätzung des Judentums
In letzter Zeit wurde die Metaphorik von zwei sich trennenden Wegen („Parting of the Ways“) zu Recht problematisiert – schließlich waren „Judentum“ und „Christentum“ damals noch keine fix umrissenen Größen. Doch wenn E. K. Broadhead fordert „Parting with ‚The Parting of the Ways‘“ oder Becker/Reed unterstreichen „The Ways that Never Parted“, so ist zu bedenken, dass Juden und Christen heute getrennte Weltreligionen sind, und man christlicherseits gut beraten ist, dies zur Kenntnis zu nehmen: Allzu leicht könnte eine christliche Umklammerung des Judentums von jüdischer Seite als hegemonial und übergriffig empfunden werden.
Ein Christentum ohne seine jüdischen Wurzeln hätte einen zentralen Teil seines Wesenskerns eingebüßt.
Tatsache ist, dass das Judentum als eigenständige Religion das Christentum nicht unbedingt benötigt. Umgekehrt gilt das allerdings nicht: Ein Christentum ohne seine jüdischen Wurzeln hätte einen zentralen Teil seines Wesenskerns eingebüßt. Das Wort des Paulus aus Röm 11,18 hat ungebrochene Gültigkeit: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“ Diese Erkenntnis soll zu bleibender Wertschätzung des Judentums durch das Christentum führen, was auch in christlicher Lehre und Verkündigung seinen Niederschlag finden muss.
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Markus Tiwald
Markus Tiwald
Markus Tiwald ist Professor für Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Jüngst erschien von ihm bei Kohlhammer/Studienbücher: Frühjudentum und beginnendes Christentum. Gemeinsame Wurzeln und das Parting of the Ways (KStTh 7), Stuttgart 2022.
Bildnachweis: Markus Tiwald