Kerstin Rödiger hat sich auf Entdeckungsreise in den hohen Norden gemacht. Sie nahm dort an Exerzitien mit Pferden teil. Was es mit den passenden Schuhen auf sich hat, erzählt sie in ihrem Erfahrungsbericht.
Der Aufbruch
Was für ein Gewitter! Um 4 Uhr weckte es mich und an Schlaf war nicht mehr zu denken. „Ich muss meine wasserdichten Schuhe aus dem Koffer holen!“, schiesst es mir durch den Kopf. Mit Regen hatte ich nicht gerechnet, die Sandalen wandern also in den Koffer.
Für meine Exerzitien „mal anders“ darf ich auf ein Friesengestüt an die Nordsee und werde dort täglich durch eine Exerzitienleiterin begleitet. Ich folge dem Grundgedanken, mir in der Stille Zeit für mich, für Gott zu nehmen. Auch wenn ich keine Reitschuhe eingepackt habe, denn die Pferde dürfen dort ihren friedlichen Lebensabend geniessen, sind Pferde für mich seit nun über 20 Jahren wirkliche Begleiter und Lehrmeister. Ich habe erfahren dürfen, dass das Pferd mir Spiegel ist: Es auf meine Körperstimme und meine Bilder im Kopf genauso reagiert wie auf äussere Reize. Es liest mich. Es fordert mich auf, sehr klar, zugleich freundlich und bewusst in meiner Kommunikation zu sein. Wie viele Tiere.
Dort suche ich also nach ein paar „geistlichen Schuhen“.
Mein Experiment besteht darin, fernab der Routine eines Klosters einen eigenen Weg zu finden, um Stille, Tiere, Natur, biblische Texte und meine Spiritualität in ein Gespräch zu bringen.
Die Pferde bilden dafür einen existentiellen Rahmen, sind einfach da. Ebenso wie das Meer, der Wind und das Watt. Dort suche ich also nach ein paar „geistlichen Schuhen“, die mich durch die Herausforderungen meines Lebens tragen. Welche werden es sein: Birkenstock? Wanderschuhe? Sandalen?
Begegnungen
Als ich nach 10 Stunden Reise an dem Ort ankomme, ist er einfach zum Staunen. Mich empfangen Sonne, eine Weite, wunderbare Farben, beeindruckend schöne Pferde und freundliche Gastgeber, so dass ich mich gleich ein bisschen zu Hause fühle.
Jeden Tag starte ich mit einer Einstimmung. Meine Aufgaben bestehen darin, tägliche Gebetszeiten in verschiedenen Formen zu gestalten, mich in der Natur zu bewegen und die Pferde zu geniessen.
Dann bin ich in dieser Vogelkoje.
An einem Tag beschliesse ich, meine Zeit den Vögeln zu widmen. Ich mache mich auf den Weg in ein nahes wunderbares Naturreservat zwischen Salz- und Süsswasser. Mein Bibeltext war die Geschichte des Bartimäus (Lk 18,35-43), und so begleitet mich heute die Frage Jesu: „Was ist es, das ich dir tun kann?“ Meine Gedanken sausen einmal rund um mein Leben und zurück. Doch dann bin ich in dieser Vogelkoje. Sie ist ganz geschlossen, ich kann verschiedene kleine Fenster aufmachen und sehe wie in einem Guckkasten jeweils einen anderen Ausschnitt des Sees. Mein erstes Fenster, das ich öffne, zeigt mir eine Haubentaucherfamilie und ich denke: „Echt jetzt?“ Ich bin so weit gefahren, um einmal vom Familienalltag und der Verantwortung Abstand zu nehmen. Nun sehe ich als erstes dieses Küken, das auf dem Rücken eines Elternteils sitzt. Ein anderes paddelt daneben, und dieses Bild rührt mich zutiefst. Ich atme tief durch und denke: „Es ist doch einfach o.k., so sehr mit dem Nachwuchs beschäftigt zu sein. Das ist das Leben.“ Und etwas in mir wird ruhiger.
Bisher war ich getrieben von dem Gefühl, ich müsse um diese kontemplative Form ringen. So richtig in die Stille und Einsamkeit eintauchen. Doch beim Anblick dieser Familie bin ich einmal mehr dankbar, dass ich meine Familie habe und zu ihr Sorge tragen darf. Und plötzlich ist sie da, die Antwort auf die Frage Jesu, was er mir tun könne: „Bitte, webe einen Schutz um meine Kinder. Aus einem Faden Geduld und Beharrlichkeit, einem Faden Mut und Ausdauer, einem Faden Freude und Glück. Sie werden älter und unsere Familie ist nicht mehr ihre ganze Welt, sie entdecken eigene Wege und ich will sie mit Vertrauen in diese Welt entlassen.“
Überall ist dieser Bruch in der Welt spürbar.
Ich bleibe eine Stunde in dieser Koje, öffne immer wieder fasziniert ein anderes Fenster. Noch ein Gedanke kommt mir. Dieser See wirkt total idyllisch, fast wie ein kleines Paradies. Doch dann sehe ich, wie ein Fisch gefressen wird und sich dort zwei Enten um irgendetwas streiten. Ich frage mich: „Wie, um alles in der Welt, Jesus, bist Du eigentlich auf den Gedanken gekommen, dass das Reich Gottes schon hier und jetzt beginnt?“ Überall ist dieser Bruch in der Welt spürbar. Fressen und gefressen werden. Von den Kriegen rede ich gar nicht. Hast du, Jesus, den See Genezareth auch so angeschaut? Fandest dort zur Ruhe? Sahst diese schönen Bilder und wolltest diese Welt beschützen? In genau diesem Augenblick an diesem See fühle ich mich sehr mit dir, Jesus, am See Genezareth verbunden.
„Du stellst meine Füsse auf weitem Raum.“
Weil ich am Abend noch in der Nordsee schwimmen kann und meine Füsse auf dem Wasser treibend in Richtung Sonne zeigen, bin ich überzeugt: „Du stellst meine Füsse auf weitem Raum.“ Diese uralten Worte aus den Psalmen kommen mir in den Sinn.
Die Vögel bleiben mir die ganze Woche und überall Erinnerung an diese Gedanken und Gefühle am See. Ich sehe sie immer wieder, den Austerntaucher, den Knutt. Sie sind wie Botschafter: vom Sommer, von weiten Wegen, von einer unglaublichen Kraft. Sie machen ihren Weg. Ohne Schuhe.
Watt
Den Weg – genau, den suche ich mir an einem nächsten Tag durch das Watt und den nächsten Bibeltext. Vor dem Watt habe ich Respekt. Daher vertraue ich mich einer Wattführerin an, die uns als Gruppe auf eine 7 km entfernte Hallig führen wird. Wir können barfuss gehen, denn dieser Abschnitt ist nicht voller Muscheln und auch nicht besonders schlickig. Dabei hatte ich mir extra solche Beach-Socken mit Schutzsohlen gekauft! Es kommt mir gelegen mich zu bewegen, denn mein heutiger Text über Zachäus (Lk 19,1-10) hatte mich aufgeregt. Obwohl gut bekannt, kam mir der Text durch die Fragen meiner Exerzitienbegleiterin anders nahe. Jesus sagt sozusagen zu mir: „Ich muss Gast sein bei dir im Haus.“ Dazu bekam ich noch ein Bild von Sieger Köder, in dem Zachäus in den Armen Jesu liegt. Als ich das so las, dachte es in mir: „Nein. Bei mir musst du nicht zu Gast sein. Nicht so nahe, nicht in meinem Haus! Du schaust mich auch nicht an, ich schaue dich an. Ich folge doch dir!“
Ringen, mit der Jesus-Frömmigkeit
Da ist also wieder dieses Ringen, mit der Jesus-Frömmigkeit. Bei mir schiebt sich leider immer das Bild eines Schmerzens-Jesus in den Vordergrund, so wie er bei meiner Oma im Schlafzimmer hing. Und dagegen wehre ich mich. Aber warum denke ich, müsste ich so glauben? Das fragt mich später meine Exerzitienbegleiterin. Es gibt diese Frömmigkeit, es ist nicht meine. Das ist o.k. In diesem Ringen gehe ich also ins Watt. Und ich zweifle auch daran: Darf ich mich in meinen Exerzitien einer Gruppe anschliessen? Muss ich nicht alleine bleiben? Mach ich es richtig? Darf ich diesen Weg so gehen…?
Mir wurde ein Haus geschenkt. Auf diesem Weg.
Dann kreuzen wir einen Priel, die Wege, die das Wasser mit Ebbe raus und mit der Flut hinein transportieren. In diesem Priel wird mir ein leeres Wellhornschneckenhaus vor die Füsse gespült. Die Wattführerin zeigt es allen. Sie sind selten geworden, der letzte Sturm hat sie in Küstennähe gespült. Und ich habe sie gefunden. Sie wird mir zum Zeichen: Ich bin auf einem richtigen Weg. Es wird wieder ruhiger in mir. Ich halte sie lange in meiner Hand, ihr stabiles Haus hält das aus. Es ist ausgewittert von den Zeiten und Gezeiten. Mir wurde ein Haus geschenkt. Auf diesem Weg. Ich fühle mich gesegnet. Wer darin alles zu Gast ist, muss ich gerade nicht wissen.
Der Weg durch das Watt ist anstrengend, denn er ist sehr uneben, mal rutschig, mal nass und lang. Daher wünsche ich mir heute sicheren Grund!
Mit meiner Exerzitienbegleiterin suche ich nach passenden Worten und werde anders überrascht:
2 Die Himmel erzählen von der Schönheit Gottes.
Vom Tun seiner Hände kündet das Firmament.
3 Ein Tag sprudelt dem anderen Tag Worte zu,
eine Nacht gibt der anderen Nacht Wissen weiter.
4 Es ist keine Rede, es sind keine Worte – unhörbar ist ihre Stimme.
5 Doch in die ganze Welt ist ihre Stimme ausgezogen,
bis ans Ende der Erde ihr Gespräch.
Dort hat er der Sonne ein Zelt gemacht.
(Ps 19, Bibel in gerechter Sprache)
Diesen Text kannte ich nicht. Es geht um eine Stimme, die unhörbar, doch trotzdem überall da ist. Dieser Psalm fasst mein Gefühl, mein Staunen über diese Natur und Gott in Worte, ohne es klein zu machen. Vielmehr umfassen sie meine Erfahrung und lassen sie doch auch offen zum Weiterwachsen.
Pferde
Sie sind einfach da, diese Friesen – langmähnig, elegant, schwarz. Sie vergolden mir diese Zeit. Bei einer Führung über Haus und Hof erfahren wir von ihren Schicksalen. Ein Pferd wurde schwer verletzt vom Ex-Partner, der seiner Ex-Frau weh tun wollte. Das andere war fast verhungert, weil es bei einer Scheidung vergessen ging. Als wir auf die Weiden gehen, kommen sie trotzdem neugierig zu uns, lassen sich ausgiebig kraulen. Friesen, so lerne ich, sind sehr menschenzugewandt. Hier dürfen sie mit sehr wenig „Mensch“ einfach Pferd sein, in dieser Luft und Natur und in ihrer Herde. Das Temperament der Rasse zeigt dann der Hengst, als er sich vor uns präsentiert.
Ich staune immer wieder, wie gut uns die Tiere durch ihre Unmittelbarkeit tun. Mir scheint, sie finden einen direkten Weg in unser Herz. Für uns Menschen bedeuten Tiere oft Glück. Wir bedeuten das für die Tiere leider nicht immer. Da ist er wieder, der Bruch in der Welt. Es ist eine Erkenntnis dieser Zeit, dass Pferde für mich grossen Trost bedeuten, neu nun auch die Vögel. Sie flüstern und sprudeln Worte dieser Stimme, die nicht hörbar, aber überall da ist.
Und welche Schuhe passen mir nun also? Es sind nicht die Reitstiefel. Es sind auch keine Wanderschuhe. Stattdessen werden alle meine Vorstellungen von dem Bild meiner Füsse ganz ohne Schuhe oder auch nur Socken überblendet: im Watt, im Meer, der Sonne entgegengestreckt, den Schlick und Sand spürend.
Auch in meiner Kirche gab es sogenannte „barfüssige“, etwa die unbeschuhten Karmelitinnen der Teresa von Avila. Die Schuhe auszuziehen steht für Demut, Umkehr, Reform. Nicht nur ich ringe um meinen Weg mit Gott. Wenn ich auf der Suche nach Neuem war, trat ich doch auch in alte Spuren, Bilder, Worte. Diese neu für Menschen zugänglich zu machen, eine Verbindung zu schaffen mit dem Wispern, Wiehern, Flügelschlag und der Präsenz der Tiere auch in Exerzitien, wäre ein Segen.
Ich brauche für mich im Moment das Vertrauen, dass ich barfuss gut unterwegs bin. Auch in der Kirche.
Dr. Kerstin Rödiger wurde in Deutschland und Brasilien zur Theologin ausgebildet, lebt und arbeitet seit 2002 in der Region Basel, Schweiz. Aktuell ist sie im Universitätsspital Basel in der Spitalseelsorge und im Fachbereich Spiritualität und Bildung der RKK tätig. Sie ritt als Jugendliche gelegentlich, seit etwa 20 Jahren regelmässig, mit Kinderpausen.
Alle Fotos: Kerstin Rödiger