Judith Hahn und Rainer Bucher diskutierten in der „Lebendigen Seelsorge“ 3/2018 engagiert über das Verhältnis von Kirchenrecht und Pastoral. Bucher fand, das Kirchenrecht habe ein Legitimitäts- und ein Relevanzproblem und sich zudem nicht wirklich von der tridentinischen Matrix der Kirche gelöst. Judith Hahn fragte zurück, ob man denn wirklich die Neuauflage des „Tragödienklassikers“ Kirchenrecht versus Pastoral brauche und man nicht vielmehr gemeinsam daran arbeiten solle, wie es weitergehen könne. Das folgt hier in feinschwarz.net, in zwei Teilen, heute und morgen.
Liebe Frau Kollegin Hahn, über die Defizite des geltenden Kirchenrechts sind wir uns ja ziemlich einig. Das größte: Es bleibt hinter den Standards moderner demokratischer Rechtsordnungen zurück. Das führt zu massiven Legitimitätsproblemen. Es kennt keine wirkliche Gewaltenteilung und nur einen sehr löchrigen Rechtsschutz. Zudem regelt es manches, was sich rechtlicher Regelung eigentlich entzieht, mit der Folge, dass das Kirchenrecht vor Ort massiv unterlaufen wird. In der pastoralen Praxis führt das dazu, dass das Kirchenrecht zugleich zu viel und zu wenig regelt. Es meldet sich, wenn man es nicht braucht, und es ist nicht da, wenn man es bräuchte. Wie soll man da an einer Neuauflage des „Tragödienklassikers Pastoral versus Kirchenrecht“ vorbeikommen?
Lieber Herr Kollege Bucher, durch Ab- und Aufrüstung. Kirchenrecht muss sich entmoralisieren. Rechtsnormen taugen nicht als Wegweiser christlicher Lebensführung. Sonntagspflicht und Beichtgebot gehören nicht ins Gesetzbuch. Diesen Normen folgt sowieso niemand, weil sie Recht darstellen, sondern religiös motiviert – oder gar nicht. Zugleich braucht es mehr: Begrenzung von Gewalt, Subsidiarität, Grundrechtsschutz. Quis iudicabit? Die, die es betrifft. Die Beteiligungsregel „Was alle angeht, muss von allen gebilligt werden“ kannte schon die mittelalterliche Kanonistik. Wie? Lokal, wenn möglich, zentral, wenn nötig. Ist das noch katholisch? Einheit ist nicht Uniformität, aber kann nicht ganz ohne. Am schwierigsten finde ich die Bestimmung, was uniform bleiben müsste. Daher die Frage: Was aus pastoraler Sicht muss für alle gleich sein – und warum?
Was muss für alle gleich sein? – Die Möglichkeit, Gottes Gnade zu erfahren.
Bucher: Gleich für alle muss vor allem eines sein: die Möglichkeit, Gottes Gnade zu erfahren. Was ist der Kern der christlichen Botschaft? Die leise, zarte und überaus realistische Botschaft von der Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Verwundbarkeit des Menschen und von der Hoffnung, dass es einen Gott gibt, der hier und am Ende der Zeiten barmherzig damit umgeht, weil er all das auch kennt. Das zu wissen, das zu erfahren, darauf haben alle Menschen ein Recht. Als die Jünger Kinder und andere Diskriminierte abweisen wollten, hat Jesus das verhindert. Die Nichtdiskriminierung der Diskriminierten sichern: Das muss das kirchliche Recht leisten, immer und überall.
Urmomente von Kirchenrecht: Jesus verbietet und erlaubt.
Hahn: Als die Jünger Menschen abweisen wollten, verbot ihnen dies Jesus. Er gewährte den Betroffenen Zugang zu sich. Das ist ein rechtlich interessantes Bild. Der Kanonist Klaus Mörsdorf hat in Jesu Handlungen Urmomente von Kirchenrecht ausgemacht. Jesus handelt vollmächtig. Er macht seine Jünger handlungsfähig. Mörsdorf ging es um „Ermächtigung“. Die von Ihnen zitierte Passage ist ähnlich rechtskonstitutiv. Jesus verbietet und erlaubt: Er erzeugt deontische Macht, indem er in der um ihn herum entstehenden Sozialstruktur – Kirche – Trägerinnen und Träger von Rechten, Pflichten, Ansprüchen, Ermächtigungen und Verboten schafft. Ein Kirchenrecht, das diskriminiert, verzerrt die so gewebte Textur des kirchlich Sozialen. Wir müssen daher über Macht reden: als „power over“ und „power to“.
Bucher: Ich glaube, da stecken zwei Probleme: ein formales und ein materiales. Formal: „Erzeugt“ Jesus wirklich Macht im rechtlichen Sinne wie ein Gesetzgeber? „Bezeugt“ er nicht vielmehr in seinen Taten und Wundern die situative Macht Gottes, zu heilen, zu retten, zu befreien? Manchmal übrigens auch seine Ohnmacht. Nicht mehr, nicht weniger?
Und material ist bei „Ermächtigung“ halt immer die Frage: wozu? Wer sich auf Gott beruft, bekommt es mit der Macht zu tun, die in dieser Berufung liegt. Er kann, wenn er will, diese Macht als Gottesgewalt (Hans-Joachim Sander) exekutieren. Die Gottesgewalt ist eine der größten, potentiell auch furchtbarsten Gewalten, und sie ist sehr real bis heute.
Das theologische Problem: Im Kreuz ist die Gottesgewalt ein für alle Mal konterkariert.
Das Mittelalter hat um die Gottesgewalt gerungen, es hat sie auch ausgeübt. Letztlich hat erst der moderne Verfassungsstaat die christlichen Kirchen von der Versuchung der Gottesgewalt befreit. Ich will dem Kirchenrecht zu Gute halten, dass es in seinen besten Teilen der Versuch war, die Gottesgewalt einzuhegen. Das theologische Problem dabei: Im Kreuz ist die Gottesgewalt ein für alle Mal konterkariert. Sie ist in ihm veröffentlicht, entlarvt und überwunden. Es ist christlich eigentlich klar, wofür die Macht, die im Gottesbezug liegt, allein ausgeübt werden darf.
In der Kirche muss daher alle „power over“, die es in der „gefallenen Welt“ immer geben wird, im Dienste einer „power to“ stehen, und zwar im Dienst der Befreiung und der Ermächtigung der Ohnmächtigen und Leidenden. Das wurde aber nach und nach umgedreht. Die Einordnung in die Über- und Unterordnungsstruktur der katholischen Kirche wurde zum zentralen Erlösungskriterium. Die Frage ist also: Erzeugt die Berufung auf Jesus Macht überhaupt, dann landen wir beim dictatus papae, bei Unam sanctam, also den Weltherrschaftsansprüchen der mittelalterlichen Kirche, oder neuzeitlich bei den Restaurationsphilosophen des 19. Jahrhunderts und beim „katholischen Staat“. Oder ist Jesus Zeuge für die Macht der Ohnmächtigen durch und bei Gott? Wo steht da das aktuelle Kirchenrecht? Und was bedeutet dieser, meines Erachtens konstitutive theologische Bezug für seine Weiterentwicklung?
„Erzeugt“ man nicht zwangsläufig Macht, wenn man sie überzeugend „bezeugt“?
Hahn: „Erzeugt“ man nicht zwangsläufig Macht, wenn man sie überzeugend „bezeugt“? Indem Jesus Gottes Macht weitersagt, macht er andere mächtig. Durch Jesu Handlungen werden soziale Tatsachen geschaffen. Menschen erfahren sich als Geheilte, Gerettete, Befreite. Diesen Tatsachen haftet deontische Macht an: Sie sind mit Verantwortung und Verbindlichkeit verbunden. Als Geheilte, Gerettete, Befreite sind Christinnen und Christen zur Weitergabe dieser Erfahrung Ermächtigte, Berechtigte, Verpflichtete. Das ist keine Machtgeneration „im rechtlichen Sinne wie ein Gesetzgeber“. Wenn ich von Urmomenten des Kirchenrechts rede, meine ich keine jesuanischen „Rechtsetzungsakte“. Wohl aber entstehen durch Jesu Handlungen deontische Machtbeziehungen, die für einen rechtlichen Ausbau offen sind.
Die kirchliche Rechtsgeschichte zeugt von einem ambivalenten Bezug zur Macht. Auch das gegenwärtige Kirchenrecht versucht es ja noch vielfach mit der „vollkommenen Gesellschaft“. Die kirchliche Rechtstheorie kommt jedoch an der Erkenntnis nicht mehr vorbei, dass das Kreuz Gottesgewalt ausschließt. Die Kirche durchlebt gerade die Phase, in der ihr auf Gewalt und Zwang gegründetes Recht einen beispiellosen Relevanzverlust erleidet. Ohne diesen Machtverlust zu spiritualisieren, kann man ihn als Einladung zu einem nicht nur soziologisch motivierten, sondern auch theologisch begründeten Umdenkprozess verstehen. Ein Kirchenrecht, das mit Gewalt operiert, hat keine faktische Zukunft und keine theologische Berechtigung. Es geht also um die Frage, ob man ein – zumindest weitgehend – gewaltfreies Kirchenrecht entwickeln kann.
Es geht um die Frage, ob man ein gewaltfreies Kirchenrecht entwickeln kann.
Lässt sich das denken? Da bin ich anti-Weber (und pro-Luhmann): Recht definiert sich nicht über Gewalt oder Zwang. Recht sind Kommunikationen, die sich binär durch „recht“/„unrecht“ kodieren lassen. Solche Kommunikationen gibt es immer auch in der Kirche. Die Tage eines Kirchenrechts, das auf Zwang setzt, sind aber gezählt. Damit ist das Kirchenrecht durchaus im Trend. Auch in den allgemeinen rechtstheoretischen Debatten wird diskutiert, ob der Webersche Zusammenhang von Recht und Zwang unter den Bedingungen von Globalisierung und Digitalisierung noch durchgängig zu halten ist. In der Kirche hat diese Frage nicht nur eine faktische, sondern auch eine theologische Seite. Sie könnte man daran festmachen, dass das Kreuz der Gottesgewalt – inklusive rechtlich ausgeübter Gewalt – eine Absage erteilt.
Oder hat das Reich Gottes mehr mit einer „sacred anarchy“ zu tun?
Bucher: Ob sich tatsächlich von einem singulären, situativen Ereignis, wie den Taten Jesu, rechtliche Ableitungen ergeben, da bin ich immer noch skeptisch. Und wenn, sind es ziemlich andere, als das herrschende Kirchenrecht sie präsentiert. Wie sehr das „gründende Ereignis“ etwa des leeren Grabes eine permanente kreative Bewegung, eine unbegrenzte Zahl von „Überschreitungen“ auslöst, das kann man bei Michel de Certeau nachlesen, und vielleicht hat das Reich Gottes ja mehr mit einer „sacred anarchy“ (Caputo) zu tun als mit der römischen Rechtstradition. Auch ob es Recht ohne Sanktionsmöglichkeiten gibt, scheint mir zumindest fraglich, schließlich ist auch die Kommunikation der Differenz „recht“/„unrecht“ daran gebunden, dass Unrecht als solches identifiziert und schon allein durch diese Identifikation sanktioniert wird.
Fortsetzung folgt –
morgen,
oder gleich hier:
Pastoral versus Kirchenrecht. Wie weiter mit dem „Tragödienklassiker“? II
—
Prof. Dr. Judith Hahn ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Ruhr-Universität Bochum, Prof. Dr. Rainer Bucher leitet das Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz.
Photo: Giammarco Boscaro (unsplash)