Judith Hahn und Rainer Bucher diskutierten in der „Lebendigen Seelsorge“ 3/2018 engagiert über das Verhältnis von Kirchenrecht und Pastoral. Auf feinschwarz wird weiter verhandelt, in zwei Teilen gestern und heute.
Bucher: Mein Problem ist nicht, dass Zwang im Namen des (Kirchen-)Rechts ausgeübt wird, sondern, warum, wie und von wem. Auch eine „ereignisbasierte Kirche“ (Michael Schüßler) braucht einen rechtlichen Rahmen. Aber welchen? Ich mache es an einem lebensweltlichen Beispiel fest. Eine Ehe sollte auf Respekt, Vertrauen, ja Liebe basieren. Das gelingt manchmal, oft, wie wir alle wissen, nicht. Recht ist dazu da, dass es weitergeht, wenn nichts mehr geht: um die Schwächeren zu schützen, den Konflikt zu deeskalieren und wenigstens einen halbwegs friedlichen Ausweg zu weisen. Wer eine Ehe eingeht, setzt auf Respekt, Vertrauen und Liebe, er setzt aber auch auf das Auffangnetz des Rechts, falls er an der Liebe scheitert. Völlig daneben wäre es aber, das Recht in der Gestaltung einer Ehe als zentrale Instanz anzusetzen. Genau das aber macht das Kirchenrecht in vielen Bereichen der Pastoral bis heute.
Was erwartet das Kirchenrecht von der Pastoraltheologie?
Grundlagendiskussionen in diesem Feld sind deshalb interessant, aber sie weichen diesem Problem aus, solange sie nicht helfen, es zu lösen. Wir sind uns ja einig: Das Kirchenrecht muss „abrüsten und aufrüsten“, aber: wo und wie? Und was erwarten Sie da von meinem Fach?
Hahn: Mir liegt fern, materielles Recht zu sakralisieren. Wenn ich Jesu Handlungen als normative Praktiken deute, die zu rechtlicher Weiterentwicklung einladen, will ich kein reales Recht für sakrosankt erklären. Aber ich bin grundsätzlich „rechts-gläubig“, insoweit ich davon ausgehe, dass soziale Beziehungen rechtsproduktiv sind. Damit sind wir beim Punkt. Ihre Ausführungen, wozu man Recht braucht, legen offen, dass Sie konflikttheoretisch denken. Recht braucht man, wenn Vertrauen als Basis der Sozialbeziehung schwindet.
Demgegenüber setze ich ordnungstheoretisch an. Recht ist Sozialkonstruktion. Ohne Recht erst gar keine Ehe, für deren geordnete Abwicklung man Recht braucht. Vielleicht sind wir in diesem Clash von Konflikt- und Ordnungstheorie im Kern des Streits zwischen Pastoraltheologie und Kanonistik. Ich meine, dass Recht genau tun muss, was Sie ihm vorwerfen, nämlich zu gestalten. Ohne Recht keine Ehe, Ämter, Strukturen, Gremien, Wahlen, Eigentum, Verträge… Damit bestimmt Recht Inhalte. Wer eine Ehe eingeht, setzt auf die Rechtsfolgen, die der Gesetzgeber mit Ehe verbindet. Für Respekt, Vertrauen und Liebe braucht es doch keine Ehe. Wenn wir uns aber für Rechtsinstitutionen entscheiden oder in ihnen vorfinden, sind diese rechtlich durchgestaltet.
Nicht beanstanden, dass Recht Pastoral gestaltet, sondern konstruktive Hinweise, wie das geschehen soll.
Für pastorale Strukturen gilt dasselbe. Wenn sich Pastoral in Strukturen begibt, mit Ordnungseinheiten wie Bistum oder Pfarrei arbeitet, Kompetenzen und Zuständigkeiten festschreibt, Aufgaben über Ämter und Gremien organisiert usw., dann setzt sie auf Recht und dessen inhaltliche Füllung. Über die Art der Füllung muss man diskutieren: Wie schneidet man Strukturen zu? Was sollten Rechte und Pflichten von Amtsträger/innen sein? Wie gestaltet man Gremien? Welche Entscheidungsverfahren kommen zum Einsatz?
Materialiter kann man an viele Normen des Kirchenrechts ein Fragezeichen machen. Formaliter aber ist es nicht anders zu denken, als dass Recht den Inhalt von Rechtsinstitutionen bestimmt – und sei es, dass es bestimmt, dass es bestimmte Inhalte nicht bestimmt (Vertragsfreiheit etc.)! Von der Pastoraltheologie erwarte ich mir daher nicht Beanstandung, dass Recht Pastoral gestaltet, sondern konstruktive Hinweise, wie das geschehen soll. Welche Normen helfen, welche nicht? Welche Ausgestaltungen sind tragfähig, welche daneben? Das „Wie“ kann man von pastoralen Bedarfen abhängig machen.
Und umgekehrt?
Bucher: Es geht, so scheint mir, nicht um einen Gegensatz von Ordnungs- und Konflikttheorie, sondern um die konkrete Grenzziehung. Sicher: Für Respekt, Vertrauen und Liebe braucht es keine Ehe. Wer heiratet, will die Rechtsfolgen der Ehe, aber er will sie als Rahmen und Basis von etwas viel Fluiderem, Unsichererem, Prekärerem, aber eben Wichtigerem: der gemeinsamen Liebe. Das Recht steht in deren Dienst, kann sie nie ersetzen.
So ist es auch bei der Kirche. Vielleicht ist das auch der Kern unserer Diskussion und eines gewissen Missverständnisses: Ich leugne nicht, dass Recht auch Pastoral gestaltet, und auch nicht, dass es das tun soll. Ich kritisiere, dass das Kirchenrecht es viel zu sehr und in vielfacher Weise problematisch tut und damit seine Hilfsfunktion für das, weswegen es Kirche überhaupt gibt, die kreative Konfrontation von Evangelium und Existenz, weit überzieht und sich partiell an dessen Stelle setzt. Diese kreative Konfrontation ist sowieso ein Ereignis der Gnade und von der Kirche nur zu erhoffen, nicht zu erzwingen.
Das Handeln des Volkes Gottes darf darauf hoffen, nicht mehr, nicht weniger. Das Recht ist der Rahmen dieses Handelns, nicht mehr, nicht weniger. Schlechtes Recht, zum Beispiel solches, das keinen Rechtsschutz gibt, und falsches Handeln, zum Beispiel Missbrauch aller Art, zerstören viel von dem, wofür es Kirche gibt; gutes Recht, zum Beispiel die Menschenrechte, und inspiriertes Handeln, zum Beispiel heilende Seelsorge, aber kann viel davon erfahrbar werden lassen.
„no risk, no pastoral“.
Ein Kirchenrecht, das das Risiko der Pastoral abstützt, das wäre es.
Wie Recht Pastoral gestalten soll? Es muss endlich seinen typisch modernen institutionalistischen Regelungsüberschuss zurücknehmen. Der CIC/1917 war ein Produkt des neuscholastischen Projekts, den neuzeitlichen Absolutismus und die moderne naturwissenschaftliche Exaktheit in die Kirche zu kopieren, um mit beiden Größen konkurrenzfähig zu sein. Der CIC/1983 hat daran nicht viel geändert.
Pastoral ist eine Kunst, sie braucht Aufmerksamkeit, Inspiration, situative Orientierung am anderen und am je möglichen Ereignis, sie braucht Experiment, Wagnis, Exposure, Mut und Sensibilität – und das Vertrauen in die Gegenwartsfähigkeit der immer neu zu entdeckenden Tradition. Nach dem Zusammenbruch der Konstantinischen Formation, der tendenziellen Entbettung der Religion(en) aus jeder lokalen und kulturellen Selbstverständlichkeit, funktioniert in der Kirche aber nichts mehr wie bisher.
Das ist ja allüberall zu beobachten. Dann aber gilt: „no risk, no pastoral“. Ein Kirchenrecht, das das Risiko solcher Pastoral abstützt, das wäre es. Es müsste zum Beispiel wegkommen von der unseligen Berufsrollenorientierung in der Koordination der MitarbeiterInnen und hinkommen zu einer situativen Aufgaben- und Kompetenzorientierung. Es müsste wegkommen von der modernen Sozialformorientierung und hinkommen zu einer Prozess-, Ereignis- und Ergebnisorientierung. Es müsste ermutigen, ermöglichen, inspirieren, mindestens Räume der Freiheit hierzu schaffen, und immer wieder: Es muss die Schwachen schützen und die Herrschenden in Schranken weisen.
Sicher: Es ist wohl auch jetzt schon viel mehr möglich, als von den kirchenleitenden Instanzen ermöglicht wird. Der Umgang mit dem c. 517 § 2 und dem Thema der Gemeindeleitung ist dafür ein einschlägiges Beispiel. Auch für den CIC gilt: Interpretation ist (fast) alles. Da hoffe ich schon auf die KirchenrechtswissenschaftlerInnen. Beginnt da ein Aufbruch?
Eine Frage der Interpretation?
Hahn: Wir sind uns ja einig, dass die konkrete Ausgestaltung, die das gegenwärtige Kirchenrecht Rechtsinstituten gibt, Freiheit und Kreativität häufig eher erstickt als ermöglicht. Die Frage, die Sie in Richtung der Kanonistik aufwerfen, ob man mithilfe von Interpretation einen Aufbruch wagen könnte, löst bei mir allerdings Ambivalenzen aus. Ich teile die Analyse, dass auf dem Boden des geltenden Rechts auch heute weit mehr ginge, als bisher möglich gemacht wird. Recht ist Interpretation. C. 517 § 2 ist hierfür ein Beispiel. Der „Kommunionstreit“ der deutschen Bischöfe zeigt das ebenso. Die von deutschen Bischöfen verfasste Orientierungshilfe ist eine Auslegung des c. 844 § 4, die die Norm in eine bestimmte Richtung interpretiert (in eine andere, als es die Gegenstimmen tun, die ebenfalls Lesarten der Norm repräsentieren).
Nicht wenige Kanonistinnen und Kanonisten nutzen daher die Interpretation, um Spielräume aufzuzeigen, die das Recht bietet. Sie kennen den Streit zwischen Sabine Demel, Norbert Lüdecke, Georg Bier und anderen, ob man den Ausdeutungsweg nutzen sollte, um das Recht neu aufzuschließen, oder ob diese Strategie nur ein „Trostpflaster“ ist – so würden es wohl die vorgenannten Kollegen sehen. Tatsächlich bin ich selbst gegenüber einer freiheitlichen Ausdeutung des geltenden Rechts eher skeptisch, auch wenn sie viele sympathische Lesarten des Kirchenrechts produziert. In meinen Augen ist dieser Weg die kanonistische Versuchung, an einer Hermeneutik der Kontinuität mitzuschreiben.
Ich wünsche mir einen Neuentwurf des Kirchenrechts.
Wer auf Rechtsentwicklung durch Interpretation setzt, hat wenig Grund, die Normtexte selbst anzugreifen. Freilich kann man so Neues hervorbringen, aber auch viele Kanten einfachhin abschleifen, ohne die fundamentale Reformfrage zu stellen. Ich bin schlicht skeptisch, ob das reicht. Erzeugt eine andere Ausdeutung der bestehenden Normen schon einen zureichenden Freiheitsraum für eine lebendige Glaubenspraxis, wie sie Ihnen vorschwebt? Ich für meinen Teil mag manche Normen nicht „schöninterpretieren“, sondern will, dass sie geändert werden.
Um noch einmal das Beispiel des c. 844 § 4 zu bemühen: Man kann die von deutschen Bischöfen publizierte Orientierungshilfe als freiheitliche Ausdeutung von c. 844 § 4 feiern – oder die Norm selbst in ihrer restriktiven Grundstruktur zum Gegenstand von Kritik machen. Wenn eine Norm einen anti-freiheitlichen Duktus hat, dann ändert daran ihre freiheitliche Interpretation zu wenig.
Meine Kritik an den Ansätzen, die den Interpretationsweg stark machen, ist daher – bei allem Respekt und großer Sympathie für viele der Interpretationen –, dass sie systemstabilisierend wirken. Es gibt aber bestimmte Normen, die ich nicht stabilisieren will. Der Gesetzgeber hat 1917 einen radikalen Schritt und Schnitt gemacht; er hat mit der Kodifizierung das Kirchenrecht gänzlich neu angepackt. Ein Schnitt ist erneut fällig. Ich wünsche mir einen Neuentwurf des Kirchenrechts. Ein Konzil, consilium, synodale Prozesse, in denen sich die plurale Kirche darüber verständigt, welches Recht sie heute braucht.
Doch die Basis kann nicht einfach aus analytischer Beobachterposition abwarten, bis alles besser und anders wird.
Bucher: Die Kontroverse zwischen jenen KirchenrechtlerInnen, die interpretatorisch das Beste herausholen, und jenen, die das als systemstabilisierendes „Schöninterpretieren“ betrachten, bedauere ich aus pastoraltheologischer Perspektive sehr. Akademisch mag diese Diskussion ja reizvoll sein, für die pastorale Praxis bedeutet sie die Spaltung des reformorientierten Lagers. Und welche Strategie de facto systemstabilisierender ist, wäre auch noch zu fragen. Vor allem aber: Die Basis kann im Unterschied zu uns Universitätsangehörigen nicht einfach aus analytischer Beobachterposition abwarten, bis alles besser und anders wird. Daher meine Präferenz für die konziliare Interpretation des CIC.
Wenn Sie freilich „synodale Prozesse, in denen sich die plurale Kirche darüber verständigt, welches Recht sie heute braucht“, wünschen, dann kann ich nur sagen: Das ist der Weg – auch zu einem geradezu harmonischen Abschluss unseres Gesprächs.
Ein geradezu harmonischer Abschluss des Gesprächs.
Hahn: Die Bedenken verstehe ich. Trotzdem halte ich den Streit innerhalb der Kanonistik für gesund. Zugegeben: Er hilft der Basis nicht unmittelbar. Eine Spaltung des reformorientierten Lagers bewirkt er aber nicht. Er differenziert aus. Ausdifferenzierung passiert, wenn es komplex wird… Das ist für die Kanonistik – akademisch gesehen – eine positive Sache. Hier sind wir wieder an einem Punkt, der die praktische Theologie insgesamt betrifft: Für wen soll gut sein, was wir treiben? Ich halte es an erster Stelle für notwendig, dass wir uns intradisziplinär und interdisziplinär sauber akademisch streiten.
Gerade der benannte Hermeneutikstreit hat hilfreiche Klärungen erzeugt. Nur eine Kanonistik auf diesem Reflexionsniveau kann für die Kirche und ihre Basis überhaupt von Nutzen sein. Ich halte den Streit für eine erste akademische Verständigung darüber, welches Recht die Kirche heute braucht. Weitere Verständigungsprozesse werden folgen. Hoffentlich auch zwischen der Pastoraltheologie und der Kanonistik.
Pastoral versus Kirchenrecht. Wie weiter mit dem „Tragödienklassiker“? I
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Prof. Dr. Judith Hahn ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchenrecht an der Ruhr-Universität Bochum, Prof. Dr. Rainer Bucher leitet das Institut für Pastoraltheologie und Pastoralpsychologie der Universität Graz.
Photo: Giammarco Boscaro (unsplash)