Es wird viel gefordert von kirchlichen MitarbeiterInnen – und das nicht ohne Grund. Aber es droht die Gefahr, systemische Defizite zu individualisieren. Von Rainer Bucher.
Das zentrale Potential einer jeden Dienstleistungsorganisation ist ohne Zweifel die Kompetenz ihrer Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Zusammen mit der Motivation und dem Engagement, mit dem sie diese Kompetenz für ihren Arbeitgeber aktivieren, ist die real erfahrbare Kompetenz der RepräsentantInnen einer Organisation die unabdingbare Basis von deren Wirksamkeit. Für Organisationen wie Kirchen, deren Kernprozesse in einem hohen Maße aus Kommunikation bestehen, gilt dies in besonderem Maße.
Kompetenzlisten
Da ist es sicherlich sinnvoll, Listen wünschenswerter Kompetenzen von hauptamtlichen pastoralen AkteurInnen aufzustellen. Nachdem lange die auch personelle Dominanz des Klerus und dessen Konzept der „Weihegnade“ einen solchen kompetenzorientierten Blick auf kirchliches Personal eher unnötig gemacht hat, wird dies seit einiger Zeit mit der Vielzahl der „Laien“-Ämter und der zunehmend konkurrenzgestressten Marktsituation der Kirchen notwendig und auch durchaus – vor allem in der Ausbildung – intensiv betrieben.
Solche Kompetenzlisten fordern vom pastoralen Personal denn auch vieles und vielfältiges: so etwa, „im Alltag verwurzelt“ zu sein und gleichzeitig „systemkritisches Bewusstsein“ auszubilden, man wünscht sich Diskretion, Alteritätstoleranz und „Treue im Schwierigen“. Man fordert die klassischen (berufsunabhängigen) soft skills Selbstständigkeit, Disziplin, Motivation und kommunikative Kompetenz, oder auch Verantwortungsfreude, Initiativkraft, Durchsetzungsfähigkeit, Konfliktlösungskompetenz, Team- und Leitungskompetenz, Frustrationstoleranz und Belastbarkeit sowie, nicht zu vergessen in einem uralten und raffinierten Macht-Gebilde wie der Kirche, soziale und emotionale Intelligenz. Zu ergänzen wären die berufsspezifischen hard skills theologische und spirituelle Kompetenz, um es dann abzurunden mit dem Wunsch nach persönlicher Frömmigkeit.
Die Gefahr, systemische Defizite zu individualisieren
So richtig und schön das alles ist: Es droht die Gefahr, pastoralen Kompetenzerwerb systemimmanent als optimale Zurichtung für das gerade herrschende pastorale Dispositiv zu konzipieren, und auch, systemische Defizite der Kirche auf den Schultern der pastoralen AkteurInnen abzuladen und damit zu privatisieren. Systemimmanente pastorale Kompetenzvermittlung geschieht auch dort, wo theologische Theorie- und Traditionsbestände legitimatorisch funktionalisiert werden für aktuelle pastoralplanerische Initiativen. Vermutlich wird es irgendwann irgendjemandem gelingen, noch den Begriff der „Seelsorgeeinheit“ auf den Stiftungswillen Jesu zurückzuführen – so chancenreich deren Einführung ansonsten auch ist.
Die Tradition ist aber eine große Lernschule der Pluralität, ist ein noch unentdeckter Möglichkeitsraum, den unsere Väter und Mütter im Glauben bereits ausgelotet und realisiert haben und den immer weiter auszuloten und zu entdecken unsere heutige Aufgabe ist. Tradition ist die erinnerte Strecke der legitimen Innovationen im Glauben und sie hat nicht statischen, sondern dynamischen Charakter.
Das und die reale Unübersichtlichkeit und Unvorhersehbarkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zwingen dazu, alle Überlegungen zu Kompetenzen hauptamtlicher pastoraler AkteurInnen radikal zu kontextualisieren und sei es im Kontext, dass kein Kontext sich mehr auf Dauer als stabil erweisen wird. Das wirklich Besondere, das Merkwürdige, auch Erregende unserer kirchlichen Situation ist nicht so sehr, was konkret geschieht, vielmehr die Erfahrung der Transformation selbst, ist die Erfahrung der Liquidierung, Verflüssigung der vertrauten kirchlichen Sozialform(en). Denn diese Situation wird nicht vorübergehen.
Kirchen nicht mehr Subjekte ihrer Entwicklung
Dass die Kirche nicht mehr wirklich Subjekt ihrer eigenen Entwicklung ist, dass sie von anderen Mächten bestimmt wird, inklusive dann der Folgeerfahrung, dass sie sich offenbar selbst, etwa in der Reaktion auf die epochale Neuchoreographie der Geschlechterrollen oder beim Problem einer nicht-ständischen Konzeption des Priester-Laien-Verhältnisses, schmerzhaft spürbare Restriktionen auferlegt hat, die ihren eigenen Handlungs- und Reaktionsspielraum empfindlich einschränken, ist ja unübersehbar.
Das Spezifikum heutiger pastoraler Professionalität ist also die Erfahrung einer gewissen doppelten Machtlosigkeit: gegenüber dem, was mit Kirche in Zeiten individualisierter und globalisierter Religionsnutzung geschieht, und gegenüber einer Kirche, die darauf teils kreativ, teils hilflos reagiert. Natürlich versuchen die kirchlichen Institutionen sich und anderen die Lage so zu schildern, als ob sie diese und sich, sei es technokratisch-institutionell oder theologisch-dogmatisch, im Griff hätten. Das aber ist nicht wirklich der Fall.
Mit Unerwartetem umgehen können
In dieser Lage sind Kompetenzen offenkundig hilfreich, die im Sinne veritabler Schlüsselqualifikationen nicht dabei helfen, das (sowieso nicht mehr allzu lange) Bestehende zu optimieren, sondern dabei, die unübersichtliche und unvorhersehbare Transformationssituation aktiv, kreativ und risikofreudig zu gestalten. Das aber bedeutet auch: Man muss radikal Vertrauen setzen in die pastoralen MitarbeiterInnen, ihnen Freiheit zu Entwicklung, Gestaltung und Experiment lassen und alle alten kirchlich-ständischen wie manche neueren engmaschigen Steuerungs- und Kontrollmechanismen beherzt über Bord werfen.
Berufszufriedenheitstrias:
Selbstwirksamkeit, Anerkennung, Gestaltungsfreiheit
Transformationslagen stressen und sind konfliktträchtig. Übliche Professionalitätskompetenzen (Optimierung des Aufwand/Ertragsverhältnisses, Prioritätensetzung auf der Basis eigener Optionen, Frustrations- und Anerkennungsbalance, work-life-Balance, Konfliktkompetenz) sind in ihnen natürlich nützlich. Und auch die klassischen Rogers-Postulate Echtheit, Wertschätzung, Empathie behalten für ein primär kommunikativ-seelsorgliches Berufsfeld natürlich ihre Richtigkeit.
Aber all dies nutzt wenig, wenn die klassische Berufszufriedenheitstrias – Selbstwirksamkeitserfahrung, Anerkennung von Vorgesetzen, KollegInnen und „KundInnen“ sowie Gestaltungsfreiheit – nicht gewollt, ermöglicht und erlebt wird. Institutionen werden in Krisensituationen gerne zu einem Paradies für Kontrollfreaks und verlagern gleichzeitig die Verantwortung für ihr Funktionieren (oder Scheitern) auf die untergeordneten Einzelnen. Wir haben es in Corona-Zeiten erlebt.
Pastorale Grundkompetenz: die Fähigkeit, das Evangelium auf heutiges Leben kreativ beziehen können
Die pastorale Grundkompetenz ist die Fähigkeit, die Botschaft des Evangeliums auf heutiges (sozial-politisches wie individuelles) Leben kreativ beziehen zu können, so dass dieses Evangelium immer wieder neu entdeckt wird und jenes Leben von ihm her neue, ungeahnte Perspektiven bekommt. Es wird alles darauf ankommen, dass pastorale AkteurInnen sich eine eigenständige Analysefähigkeit ihres pastoralen Handlungsortes erarbeiten, denn institutionelle Rollen werden immer weniger tragen und tun es letztlich schon jetzt nicht mehr wirklich: Die herkömmliche Priesterausbildung spürt das – oder eben leider auch nicht.
Freiheit und Vertrauen
Es wird darauf ankommen, dass kirchliche MitarbeiterInnen Freiheit und Vertrauen spüren und auch tatsächlich bekommen. Die ebenso notwendige wie bisweilen ominös misstrauisch agierende „Qualitätssicherung“, früher durch klerikale Standesethik, heute gerne durch Managementtools gesichert, sollte nicht zuerst kontrollieren, sondern motivieren und die Freude an der eigenen pastoralen Kompetenz und damit diese Kompetenz selbst erhöhen.
Ohne Vertrauen blüht nichts. Ohne Anerkennung wird nichts. Ohne die Erfahrung der Selbstwirksamkeit in gewagter Freiheit entsteht nichts – in der Kirche schon gar nicht.
Rainer Bucher ist Professor für Pastoraltheologie in Graz und Mitglied der feinschwarz.net-Redaktion.
Bild: Felix Prado (unsplash)