Für Martin Wrasmann scheint in den Diskursen zur ländlichen Entwicklung in befremdlicher Weise die Gottesfrage auf: in der mangelnden Integration Zugezogener, an der verfallenden Dorfkirche, an der Bushaltestelle nach dem letzten Bus, an dem Auseinanderbrechen von Großfamilien, an der Zunahme von Altersarmut.
Die pastoraltheologische Auseinandersetzung zur Zukunft der Kirche auf dem Land hat in den letzten Jahren verstärkt zugenommen, sicherlich auch um die Auswirkungen der Strukturmaßnahmen in den deutschen Diözesen auf die ländlichen Strukturen zu verstehen, mehr jedoch, um die teilweise erosionsartigen kirchlichen Abbrüche im Land besser einzuordnen. Zum soziologischen Befund der kirchlichen Situation auf dem Land führe ich nur einige Stichworte an. Mein Hauptaugenmerk liegt auf den Praxisansätzen für eine wachstumsbezogene Perspektive der Kirche auf dem Land, die im Bistum Hildesheim im Prozess der lokalen Kirchenentwicklung entstanden sind.
Abbruch und Veränderung
Das kirchliche Leben im Dorf ist in hohem Maße Wandlung und Veränderung unterworfen. Früher war man „ab Werk“ katholisch/evangelisch und dann lief das ganze Leben hindurch das, was sich kirchlich so einstellt: von der Wiege bis zur Bahre – Taufe, Kommunion/Konfirmation, Ehe, Beerdigung. Heute fühlen sich längst nicht mehr alle Menschen im Dorf kirchlich gebunden, so dass es eher heißen könnte: an der Wiege und der Bahre. Die Frage nach Heimat und Bindung hat sich auch in den Dörfern grundsätzlich verändert. Kirche beheimatet nicht mehr in der Form, wie sie es früher getan hat. Früher waren zwei Dinge sicher: Wenn die Glocken zum Gottesdienst läuteten, füllte sich die Kirche und die dann in der Kirche saßen, waren Mitglieder einer christlichen Partei. Kirche im Dorf war grundlegend und umfassend als Heimat verfügt.
Verlust und Gewinn
Diese Grundlagen hat Kirche auf dem Land verloren, vielleicht aber dadurch auch gewonnen. In den meisten Dörfern mit ihren Kirchen gibt es keine Pfarrer mehr. Die Eigenständigkeit als Pfarrei wurde wegfusioniert. Die Kirche im Dorf erlebt in ihrer gesellschaftlichen Relevanz einen gewaltigen Marginalisierungsprozess, d.h. der Kirche im Ort wird keine oder wenig Kompetenz in Fragen z. B. von Bewahrung der Schöpfung, Grundsicherung, oder sozialer Entwicklung zugesprochen. Die Gottesdienstbesuchenden-Zahl (Bistum Hildesheim) ist zusammengeschrumpft zwischen 5% in den Diasporagebieten und bis zu 20-25% in den katholischen „Hochburgen“.
Zwischenheimat für Nomad*innen
In der Bevölkerungszusammensetzung sind die Dörfer sehr heterogen geworden, gerade in den Randbereichen der Groß- und Mittelzentren, als Zwischen-Heimat für Nomad*innen, für Menschen, die eine „Schlafstätte“ suchen, ohne sich örtlich zu binden. Viele passen sich aufgrund von Mobilität immer mehr dem größeren sozialen Raum an, so dass das Dorf seine prägende Kraft auch durch kirchliche Strukturen verloren hat und immer weiter verliert. Religiöse Bindung vollzieht sich nicht mehr in den dörflichen Strukturen, weil sie in der kirchlichen Präsenz nicht vorgehalten wird. Aber auch in diesen Orten ist ein hoher Abbruch an „Kirchlichkeit“ bei der jungen Generation zu konstatieren, auch wenn sie wieder in die Dörfer zurückkehren, als junge Familien, ohne sich aber in die Strukturen, die sich dort gebildet haben oder die dort noch da sind, einzubinden.
Anstöße – lokale Kirchenentwicklung
Wie können neue Impulse für ein kirchliches Leben auf dem Land entstehen? Lokale Kirchenentwicklung bezeichnet die kirchlichen Entwicklungsprozesse an den je verschiedenen Orten, die auf den Aufbau und die Gestaltung einer zukunftsfähigen Kirche zielen. Grundlage lokaler Kirchenentwicklung ist es, zunächst auf das zu schauen, was Kirche vor Ort und in ihrer Vielfalt an Stärken besitzt. Dies ist die Basis, auf der Gutes bewahrt werden, Vorhandenes wachsen und Neues entstehen kann (mixed economy).
Der Weg einer lokalen Kirchentwicklung im Bistum Hildesheim wurde vor einigen Jahren beschritten, nach einer nicht einfachen Phase struktureller Maßnahmen (Pfarreienfusionen, Kirchenschließungen, Haushaltssperre, Einstellungsstop für pastorales Personal). Orientierung gab dabei das Wort aus Jesaja 43,19: „Seht ich schaffe etwas Neues, schon sprießt es hervor, merkt ihr es nicht.“ Dieses Jesaja-Zitat hat Bischof Norbert Trelle in seinem Fastenhirtenwort 2011 aufgegriffen und zu dem breit angelegten Prozess lokaler Kirchenentwicklung eingeladen, in einer Kultur von Vertrauen und Vielfalt.
Charisma des Amtes – Personalentwicklung im Land
Es existiert ein Verteilungsproblem. 70 Prozent der Hauptberuflichen und Priester arbeiten in urbanen Kontexten, in Mittel- und Großstädten. Viele wollen nicht „auf’s Land“. Die Pfarrer auf dem Land leben heute allein in einem Pfarrhaus, wo vorher vier bis acht Personen gewohnt haben, zuständig für zwei bis fünf oder mehr Dörfer. Das Amt der Pfarrer wird sich neu orientieren müssen: der Dienst an der Einheit des Kircheseins wird ihr prägendes, Merkmal sein. Es braucht die theologischen Lehrer*innen, die dazu beitragen, die Zeichen der Zeit zu erkennen und zu kontextualisieren, dass eben Fridays for Future und die Bewahrung der Schöpfung zusammengehören, denen die Armutsquote im Dorf genauso wichtig ist wie die Zahl der sonntäglichen Gottesdienstbesuchenden. Es bedarf der pastoralen Mitarbeitenden, die die Charismen vor Ort entdecken, fördern und begleiten. Ein Stellenplan hat seine Aktualität in der Regel einen Tag nach seiner Veröffentlichung schon eingebüßt. Die Grundlagen von Stellenplänen sind oft sehr funktional, orientiert an Pfarrei und Dekanat. Wir brauchen mehr denn je einen Gestaltungsplan. Wir werden nicht mehr sagen, jede Pfarrei bekommt einen Pfarrer, einen Diakon, eine Gemeindereferentin, sondern wir werden gemeinsam überlegen: „Was ist vor Ort nötig für eine lokale Kirchenentwicklung?“ Vielleicht braucht die Pfarrei in Wolfenbüttel und den angrenzenden Dörfern eine Ethikerin von Attac, um die Probleme und Nöte der Menschen am Asseschacht aufzugreifen? Braucht es nicht manchmal den Sozialarbeiter, braucht es nicht manchmal auch die Handwerkerin, braucht es nicht unterschiedliche Charismen für die Gestaltung der Pastoral, auch als Hauptberufliche? Im Bistum Hildesheim gibt es bereits Pastoral-Mitarbeitende, die Stellen der pastoralen Berufe ausfüllen: eine Kulturpädagogin als Dekanatsreferentin in Wolfsburg, eine Soziologin im Nordharz für das Thema „Armut auf dem Land“, eine Sozialarbeiterin für Seelsorge im Quartier/Quartiersmanagment in Wolfenbüttel.
Charisma der Getauften – Ehrenamt
Ausgelöst durch die Personalentwicklung, aber wesentlich orientiert am gemeinsamen Priestertum aller Getauften, sind neue Formen und Legitimationen für das Ehrenamt nötig. Im Bistum Hildesheim sind lokale Teams eingesetzt, die in den Kirchorten Gemeindeleitung wahrnehmen und dazu beauftragt werden. Sie sind das „Gesicht“ der Kirche im Dorf. Drei bis sieben Männer und Frauen werden beauftragt, sich um die Diakonie, die Liturgie, die Glaubensverkündigung am Kirchort zu kümmern. Sie werden für ihren Dienst gesegnet und gesandt. Diesem Prozess liegen Lernschritte zu Grunde, die auf Erfahrungen in Portiers (Frankreich) und Linz (Österreich) zurückgreifen: Dort wurden die verantwortlichen „getauften“ Personen zusammengerufen und mit ihnen geistliche Wege gestaltet – Veränderung und Entwicklung von Kirche als geistlicher Prozess. Sie haben auf geistlicher Grundlage, und dies ist keine Gegenbewegung zu Demokratisierungsprozessen, diesen anderen starken Teil, der Kirche ausmacht, den Aspekt der Berufung herausgestellt: Called and gifted – als Berufene und Begabte verantworten sie die Entwicklung der Kirche.
Charisma des Ortes – Soziale Räume im Land
Der Lebensraum der Menschen ist die Grundfolie pastoraler Planung und Entwicklung. Wie sieht dieser Raum aus? Was ist das „Charisma des Ortes“? Was macht das Dorf in besonderer Weise aus und setzt von anderen ab? Das ist oft vielfältig. Wie kann die Sozialräumlichkeit eines Dorfes auch innerhalb einer Gesamtpfarrei ausreichend wahrgenommen werden, um zu wissen, was am jeweiligen Ort zu tun ist? Pastoraltätige sollten in den kommunalen Arbeitsgruppen zur Sozialraumentwicklung mitarbeiten und vertreten sein. Kirche und Kommune müssen Hand in Hand tätig werden. Aspekte dieses Handelns können sein: die Revitalisierung von Ortskernen, die Stärkung bestehender Vereine, der Zusammenschluss von Interessengemeinschaften und die Gründung von Bürger- und Fördervereinen. Die örtliche Kirche wird so zur Moderatorin der sozialen Entwicklung im Dorf.
Den Auftrag des Evangeliums und die Lebenswirklichkeiten von Menschen zusammenzubringen, hier wird die eingangs beschriebene Gottesfrage auf Alltagstauglichkeit geprüft. Ich halte die Auseinandersetzung mit dieser Frage für hoch relevant im Rahmen dörflicher Entwicklung und in der Frage, wie sich eine Sozial- und Kirchenstruktur in den Dörfern entwickelt. Hier zeigt sich, was mit dem Begriff des „Charisma des Ortes“ gemeint ist, das Gespür dafür, was lebensraumorientiert an welchen Orten geschehen muss.
Charisma der Vielfalt – Ökumene
Die Zukunft der Kirche auf dem Land, nicht nur in der Diaspora, wird deutliche ökumenische Akzente aufweisen müssen. Christ*innen des 21. Jahrhunderts sind Pilgernde und Konvertit*innen, es geht also um transkonfessionelle Pilgerschaft. Praktisch bedeutet dies: die gemeinsame Nutzung der räumlichen Ressourcen, lebensraumorientierte Evangelisierung unterliegt keinem Konfessionszwang, Caritas und Diakonie unter einem Dach.
Kernkompetenz: Beheimatung
Damit nicht auch noch die Kirche zur Degenerierung des ländlichen Raumes beiträgt, sollte sie sich wieder auf eine wichtige ihrer Kernkompetenzen besinnen: Beheimatung – natürlich nicht etwa in einem nationalen Sinn, eher spirituell, sozial und kulturell. Gottesdienste und Segensfeiern so oft wie möglich und nahrhaft gestalten, zu Nachbarschaftsinitiativen anstiften, intergenerative Begegnungen fördern, das Gemeindehaus öffnen für Gruppen und Initiativen im Dorf, kleine christliche Gemeinschaften gründen, ortsspezifische Themen ermitteln und Diskurse eröffnen (Landwirtschaft, Mobilität, Grundversorgung, Migration), etc.
Eine kraftvolle Entwicklung geht nur über die Charismen der Menschen vor Ort, der Haupt- wie Ehrenamtlichen – unter dem Ansatz: nicht, was müssen wir machen (Aufgabe), sondern, was können wir tun (Gabe). Es geht nicht darum, einen Leucht(Kirch-)turm in die Mitte zu stellen, sondern ein Lichternetz mit vielen verschiedenen Knotenpunkten weiter zu entwickeln und vor allem, es auszuwerfen, damit es für viele Menschen zu einem Netz wird, das nicht einfängt, sondern trägt.
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Autor: Martin Wrasmann, 64 Jahre, Pastoralreferent in der katholischen Pfarrei St. Altfrid, Gifhorn, bis Ende 2018 stellv. Leiter der Hauptabteilung Pastoral im Bistum Hildesheim. Schwerpunkte der seelsorglichen Tätigkeiten: Migrationsarbeit, interreligiöser Dialog, Ökumene, ländliche Pastoral.
Bild: Birgit Hoyer