Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff erinnert Erich Garhammer an die Leistung der Religionswissenschaftler und Autorin, Dante in heutiger Zeit wieder lesbar gemacht zu haben.
Sibylle Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart als Tochter eines bulgarischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren, studierte Religionswissenschaften in Berlin, wo sie, nach längeren Aufenthalten in Buenos Aires und Paris, bis zu ihrem Tod lebte. Nach dem Studium arbeitete sie zunächst als Buchhalterin in einer Werbeagentur. Sie veröffentlichte Radiofeatures, Hörspiele und Essays. 1998 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es folgten die Romane Montgomery(2003) und Consummatus (2006). Für den Roman Apostoloff bekam sie 2009 den Preis der Leipziger Buchmesse. 2013 wurde sie mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.
Ihr Roman Blumenberg (2011) stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis. Der Band „Vom Guten, Wahren und Schönen“ versammelt die 2011 in Frankfurt und in Zürich gehaltenen Poetikvorlesungen. Wer das Schreiben von Lewitscharoff verstehen will, findet dort ihre poetologischen Grundeinsichten. 2016 folgte der Roman „Das Pfingstwunder“. 2017 war sie zusammen mit Arno Geiger und Reiner Kunze auf meiner Abschiedsvorlesung in Würzburg. Sie las aus ihrem neuen Roman. Damals war sie schon merklich von ihrer Krankheit gezeichnet und in ihrer Mobilität eingeschränkt. Als sie aber ans Rednerpult trat, meinte man eine andere Person vor sich zu haben. Sie sprühte vor Sprachwitz und zündete ein literarisches Feuerwerk. Nun ist sie nach langer Krankheit in Berlin gestorben.
Dante und das Pfingstwunder.
Wer Sibylle Lewitscharoff ein wenig näher kennt, war nicht überrascht, dass sie sich den Dante-Stoff und das Pfingstwunder wählte. Denn sie hat sich immer schon mit großen Stoffen und Personen beschäftigt, man denke nur an den Philosophen Blumenberg. Das Gespräch mit der Tradition war ihr bleibend wichtig: „Ich bin überzeugt davon, wer den Wunsch hegt seriös zu schreiben und sich nicht mit Leidenschaft, ja mit Haut und Haaren der Tradition ausliefert, der steht als ein ziemlich armes Würstchen da, dem Affentheater des Zeitgeschmacks völlig ausgeliefert“, so formulierte sie in ihren Poetikvorlesungen.
Und weiter: „Die, die noch am Leben sind, bergen kein wirkliches Rätsel. Ihre Talente, ihre Lebensweisen können von unseren verschieden sein, aber sie schauen mit ähnlichen Augen in die gleiche Welt und hören mit ähnlichen Ohren dieselbe Kakophonie.“ Deshalb nicht der neueste Schrei in der Literatur, sondern Wiederholung! Wiederholung! Wiederholung! Oder wer das Wort zerlegt, versteht es noch besser: wieder-holen, wieder-herauf-holen. Denn „es gibt nur den einen großen Stoff von Liebe, Verrat und Tod, der sich durch die Zeiten wälzt, in wechselnden Kostümen, von wechselnden Machinationen in Gang gesetzt. Und noch immer strömt dieser Stoff in seiner ganzen Fülle aus der heidnischen Antike, dem Alten und Neuen Testament und aus den Werken Shakespeares“ – und man muss nun hinzufügen auch aus dem Werk Dantes.
Wer solche Echokammern besitzt, lebt reicher.
Zwei Ereignisse waren für ihren Roman nicht unwichtig. Zum einen das Stipendium der Villa Massimo in Rom im Jahre 2013/14. Die Stipendiaten besuchten während des Aufenthalts auch den Sitz der Malteser auf dem aventinischen Hügel: „Ein Traumort von erlesener Schönheit. Einfach so kann man da nicht hineinspazieren, durch einen walnussgroßen Einguck an der Pforte allenfalls einen Blick auf das Paradies erhaschen. Gelangt man jedoch ins Innere des Bezirks, fühlt man sich gehoben. Ein zauberhafter Garten öffnet sich mit den formgehaltenen Büschen, Orangen- und Zitronenbäumchen, mit Palmen und Blumenbeeten. Gerade so, als hätte der verwunschene Ort Modell gestanden für die zahlreichen bezaubernden Bilder, die Maria im Hortus Conclusus zeigen… Im zweiten Stock des Gebäudes gibt es einen interessanten Saal zu besichtigen. An zwei Längsseiten von tief, fast bis zum Boden eingeschnittenen Fenstern und jeweils einer Terrasse gesäumt, blickt man von der einen Seite auf den etwas tiefer gelegenen Vatikan, von der anderen Seite auf diverse Hügel Roms.“ Lewitscharoff wurde in diesen Saal zu einer Lesung eingeladen. Der Ort für die Handlung des Danteromans war gefunden.
Wissenschaftskolleg Berlin – vita communis unter Gelehrten.
2014/15 war Lewitscharoff Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin. Internationale Experten aus unterschiedlichen Disziplinen waren dort zu Gast. Nur das gemeinsame Mittagessen war Pflicht für den gegenseitigen Austausch sowie jeweils ein Abendvortrag mit Gespräch. Eine Art vita communis unter Gelehrten aus aller Welt, die nicht nur wissenschaftliche Gespräche führen, sondern auch Alltag miteinander teilen. Selbst eine Trauerfeier für einen Verstorbenen wurde gestaltet. Ein Ort der Alltagsenthobenheit, aber auch für den intellektuellen Austausch. Was lag also näher, als für die Divina Commedia fiktional einen Dantekongress einzuberufen und ihn mit den besten Gelehrten und Danteforschenden aus aller Welt zu bestücken.
Die Teilnehmenden verstehen sich außerordentlich gut und halten glänzende Referate über Dantes Commedia – deren Inhalt wir so nebenbei erfahren. Normalerweise gibt es auf Kongressen immer die Stars und Floskeldesigner, die Wichtigtuer, aber auch die Marginalisierten, die eher zu bedauern sind, und die nur gelangweilt zuhören. „Wenn die Teilnehmer allerdings aus verschiedenen Ländern und verschiedenen Sprachregionen stammen und alle sich bemühen italienisch oder englisch, in seltenen Fällen auch deutsch, zu sprechen, dann ist das etwas Besonderes. Besonders deshalb, weil die Hierarchien, die sich sehr schnell unter Leuten aus ein und derselben Gegend ausprägen, hier nicht so tiefgreifend zum Tragen kommen. Der schönheitsgetränkte Ort, an dem wir uns trafen, half. Und natürlich hielt das fest umrissene Thema, Dantes Divina Commedia, den Laden zusammen.“ (Das Pfingstwunder, 32)
Der Dante-Roman: ein Elzheimer-Journal der Erinnerung.
Kein Wunder also, dass die ganze Gesellschaft am Schluss abhebt und gen Himmel entschwindet. Nur einer bleibt zurück, der Erzähler Gottlieb Elzheimer. Wer ist dieser Elzheimer? Er ist ein Dante-Experte par excellence, 64 Jahre alt, davon sechs Jahre verheiratet, aufgewachsen in Stuttgart-Sillenbuch, in der Kindheit fromm, jetzt ein Agnostiker angesichts eines Gottes, der all die Weltkatastrophen zulässt: ein Schnarchsack da oben, der einfach seine Lider senkt. Ein desillusionierter Gelehrter, benannt nach seinem im Krieg verschollenen Großvater. Zwar weiter biblisch interessiert – wie könnte ein Danteforscher auch anders – kirchlich aber distanziert, mit der Ausnahme der Teilnahme an ein paar unumgänglichen Kasualien. Doch dann kam das Pfingsterlebnis 2013, ähnlich dem Karfreitag 1300, als Dante seine Jenseitsreise mit Vergil antrat. Der Kongress hat für ihn alles verändert: plötzlich hob die Kongressgesellschaft mit dem Läuten der Glocken am Petersdom einfach ab und entschwand gen Himmel. Längst hatte er schon Zweifel an seinem Realismus gespürt, der nun nicht einfach zusammenbrach, sondern sich erweiterte.
Das säkulare Wissenschafts-Ich entdeckte seine diaphanen Sehnsüchte ganz im Sinne von Charles Taylor: dieser hat in seiner großen Studie „Ein säkulares Zeitalter“ (Frankfurt 2009) die Mutation des porösen Selbst der verzauberten Welt der Vormoderne zum abgepufferten Selbst der Neuzeit luzide beschrieben. Dieses Gefühl beschleicht Gottlieb Elzheimer ganz im Sinne von Dantes göttlich durchblendetem Realismus. Auch Dante kehrte ja nach seiner Jenseitsreise wieder auf die Erde zurück – als Geläuterter.
Das eschatologische Büro scheint geschlossen.
Durch Lewitscharoffs Erzählform wurde ein schier unleserlicher Text wie Dantes Commedia wieder neu lesbar. Kurt Flasch hat festgestellt, Dantes Text sei uns heute fern gerückt. Zum einen gebe es das künstliche Italienisch heute genauso wenig wie die etwas verquaste Theologie. In Hölle-, Fegfeuer- und Himmelsfragen kennen wir uns auch nicht mehr so gut aus, das eschatologische Büro scheint geschlossen. Es gibt keine Jenseits-Topographie mehr. Selbst Hans-Urs von Balthasar hat davon gesprochen, dass die Hölle leer sei, bei Dante ist sie noch voll besetzt. Auch die Grausamkeiten der Strafen bleiben unerklärlich: Dante selber setzte schon zu seiner Zeit hinter die Vergehen einer Francesca, die sich unsterblich in ihren Paolo verliebte, eines Odysseus oder seines homosexuellen Lehrers Benedetto Latini ein Fragezeichen. Seinem Lehrer errichtete Dante sogar ein Denkmal, indem er vom ihm schrieb: „Er ging weg wie einer, der siegt, nicht wie einer, der verliert“. Mit diesen Gestalten scheint Dante selber Zweifel an der Bedeutung und Existenz der Hölle zu artikulieren. Näher liegt uns allerdings seine Kirchenkritik und die Kritik an den kirchlichen Amtsträgern im Canto 19. Die in der Hölle sitzenden Amtsträger, einschließlich Papst Bonifaz VIII., sind kopfüber dargestellt und die Zungen des Heiligen Geistes sind nicht auf ihren Häuptern als Inspiration sichtbar, sondern auf den Fußsohlen als brennende Strafe.
Lesbar ist Dante aber auch noch, weil ihn viele KZ-Insassen als Folie für die Deutung des Infernos in den KZ´s gebraucht haben. An Primo Levi ist hier genauso zu erinnern wie an Ossip Mandelstam, der in den Lagern Stalins zu Tode kam. Mandelstam hat in seinem Gespräch über Dante eine bis heute lesenswerte Danteauslegung vorgelegt. Für Mandelstam ist Poesie nicht nacherzählbar. Wo nacherzählt wird, hat die Poesie nicht genächtigt, da sind die Laken von ihr nicht angerührt. Bei Dante sind Poesie und Philosophie immer im Gehen begriffen, immer auf den Beinen. Diese Dimension hat allerdings der einfältige Kult einer Dantemystik verstellt. Man hat Dante gesehen und gelesen wie eine Wagner-Inszenierung, betrachtet von einer deutschen Opernloge aus. Letztlich sei Dante zu einem Klassiker geworden, der das Experimentelle verloren habe. Man habe Dante mit Würden überhäuft, wohingegen seine Literatur und Theologie ein Gefäß voller Dynamik seien. Am Schluss seines Danteessays greift Mandelstam zu einem einprägsamen Bild: Wenn sich in der Eremitage in St. Petersburg plötzlich die Bilder aller alten Meister von den Nägeln lösen und ineinander übergehen würden, dann hätten wir die Farbigkeit der Divina Commedia vor Augen.
Sybille Lewitscharoff hat in ihrem Roman „Das Pfingstwunder“ die Farben Dantes neu gemischt, sie hat Dante verflüssigt, ihn lesbar gemacht für heute. Möge ihr das Pfingstwunder nun in allen Farben leuchten.
Literatur zu Lewitscharoff:
Sybille Lewitscharoff, Vom Guten, Wahren und Schönen, Frankfurter und Zürcher Poetikvorlesungen, Berlin 2012.
Dies., Die lesbare Stadt. Eine protestantische Schriftstellerin im Zentrum der katholischen Christenheit, in: HerKorr Spezial 2016 „Nach der Glaubensspaltung. Zur Zukunft des Christentums“, 45-47.
Dies., Das Pfingstwunder. Roman, Berlin 2016.
Kurt Flasch, Einladung Dante zu lesen, Frankfurt a.M. 2011.
Ossip Mandelstam, Gespräch über Dante, in: Gesammelte Essays 2, 1915-1933. Aus dem Russischen übertragen und herausgegeben von R. Dutli, Zürich 1991, 111-175.
Stierle, Dante Alighieri. Dichter im Exil – Dichter der Welt, München 2014.
Erich Garhammer, Pfingsten auf dem Aventin. Sybille Lewitscharoffs neuer Dante-Roman, in: HerKorr 71/2 (2017) 41-43.
Erich Garhammer, Prof. Dr., war Lehrstuhlinhaber für Pastoraltheologie an der Universität Würzburg von 2000 bis 2017, Schriftleiter der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“ (2004-2021) und Mitherausgeber der Reihe „Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge“.
Aktuelle Veröffentlichung: Erich Garhammer, Genie und Gendarm. Wenn eine Theologie amtlich wird Joseph Ratzinger/Benedikt XVI, Würzburg 2023.