Welche Alternative zum Krieg gibt es angesichts von Unsicherheit und Ohnmacht? Hildegund Keul erinnert bei ihrem Antwortversuch an Maria Magdalena und an Pfingsten.
Wie kann aus der Trauer um die Toten und aus der Verzweiflung am Lebensverlust etwas Anderes entstehen als der Ruf nach Krieg? Vor dieser Frage stehen die Menschen und Städte, Staaten und Religionen, die von Terroranschlägen getroffen werden. Manchester und Paris, al-Minja und Berlin, London und viele andere Orte der Welt. Judith Butler hat diese Frage, politisch gewendet, nach dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New York gestellt: „what, politically, might be made of grief besides a cry for war“.[1]
Wie kann aus der Trauer um die Toten und aus der Verzweiflung am Lebensverlust etwas Anderes entstehen als der Ruf nach Krieg?
Die Frage formuliert eine zentrale Herausforderung der Gegenwart. Zugleich wirft sie ein neues Licht auf Pfingsten. Waren nicht auch die Jüngerinnen und Jünger Jesu eine Gemeinschaft, der ein Angehöriger, ein wertgeschätzter, verbundener und geliebter Mensch auf brutalste Weise geraubt wurde? Auch sie standen vor der Frage, wie sie auf eine solche Gewalttat reagieren können. Werden sie eine Alternative finden zu dem Ruf nach Krieg, der in jeder Gewalttat so erschreckend nahe liegt?
Ein neues Licht auf Pfingsten
Das Weiterleben, zumal als Gemeinschaft, ist in ihrer Situation alles andere als selbstverständlich. Wird sich ihre Gemeinschaft in alle Winde zerstreuen? Oder ziehen sie sich zurück, ducken sich weg an einem abgekapselten Raum, voll Verzweiflung und Angst – die Mauern dicht, die Türen geschlossen? Wie leben mit einem solchen Verlust, der die mögliche Brutalität von Menschen gegen Menschen so spürbar macht am eigenen Leib?
Gründungsfigur des Christentums: Maria Magdalena
In dieser Situation wird Maria Magdalena zu einer Gründungsfigur des Christentums. Michel de Certeau (1925-1986), Mystik-Forscher und Jesuit, Historiker und Kulturwissenschaftler, schätzte diese Frau in besonderer Weise. Er nannte sie eine eponyme Gestalt der modernen Mystik[2], weil er ihre Verbindung zu den Herausforderungen der Gegenwart entdeckte. Maria Magdalena, nach biblischer Darstellung die einzige Zeugin von Tod, Grablegung und Auferstehung Jesu, erfährt seinen tödlichen Verlust am Kreuz besonders schmerzlich. Am Ostermorgen fragt sie: Wo bist du? Für die junge Kirche avanciert diese Frage nach Certeau zur Frage aller Fragen: „Sie durchformt den apostolischen Diskurs“[3].
Die Frage aller Fragen für die junge Kirche.
Die Offenbarung, die der Jüngerin am Leeren Grab widerfährt, offenbart ein diffiziles Verhältnis von Anwesenheit und Abwesenheit. Mit seinem Tod ist Jesus der greifbaren Präsenz unter Menschen entzogen. Der Auferstandene weist Maria nachdrücklich darauf hin: „Halte mich nicht fest.“ (Joh 20,17) Er ist nicht mehr alltäglich sichtbar, befragbar, berührbar wie zuvor. Aber dies bedeutet nicht, dass er einfach abwesend sei. Am Leeren Grab zeigt Christus erstmals seine lebendige Anwesenheit. Er ist und bleibt im Geist gegenwärtig. Der Auferstandene ist verborgen, aber zugleich schöpferisch präsent in der jungen Kirche, in der Geschichte der Menschheit. Es ist eine andere, nicht körperliche, aber dennoch machtvolle, eben geistreiche Präsenz Christi. Sie eröffnet Hoffnung und stiftet Leben.
Am Leeren Grab zeigt Christus erstmals seine lebendige Anwesenheit.
An diese ganz andere, aber bleibende Präsenz Christi zu glauben, das ist ein eigener Akt. Hierfür steht Pfingsten. Maria Magdalena hat hier einen gewissen Vorsprung. „Finden macht das Suchen leichter“, sagt Elazar Benyoetz. Maria Magdalena hat den Lebendigen bereits dort gefunden, wo überhaupt nicht mit ihm zu rechnen war, am Ort des Todes, am Grab. Er lässt sich finden, und zwar an überraschenden Orten. „Der Geist weht, wo er will; du hörst sein Brausen, weißt aber nicht, woher er kommt und wohin er geht.“ (Joh 3,8) Es ist ungewiss und manches Mal überraschend, wo der Geist Jesu in Erscheinung tritt und welche Wege er nimmt.
An die ganz andere, aber bleibende Präsenz Christi zu glauben, das ist ein eigener Akt. Hierfür steht Pfingsten.
Daher bleibt die Frage: „Wo bist du?“ Sie verlangt nach Verkörperung, nach Sprache. Maria Magdalena geht dem behutsam nach, als sie zu den Jüngerinnen und Jüngern zurückgeht. „Ich habe den Herrn gesehen. Und sie richtete aus, was er ihr gesagt hatte.“ (Joh 20,18) „Ich habe gesehen“ – diese unscheinbare Formulierung spricht von einer verstörenden, aber sehr intensiven Präsenz. Hier reden die Abwesenheit, der Entzug, das „Gründungsverschwinden“[4] mit. Die tradierte Glaubenssprache greift nicht mehr selbstverständlich. „So wird, auf tausenderlei Weisen, […] das Aussagbare unablässig von etwas Unsagbarem verletzt“[5], sagt Certeau. Unerhörtes macht sich in vertrauten diskursiven Ordnungen als Verletzung bemerkbar. Und hier, mitten in der Verletzung, setzt Maria Magdalena den Beginn einer neuen, der christlichen Gottesrede. Sie stellt sich der Herausforderung, „dem Geist einen Körper zu liefern, den Diskurs zu ‚inkarnieren‘“[6] und einer neuen Wirklichkeit Raum zu geben im Wort.
Unerhörtes macht sich in vertrauten diskursiven Ordnungen als Verletzung bemerkbar.
In der Begegnung mit dem Auferstandenen, der sich sogleich wieder entzieht, überwindet Maria Magdalena die gewaltpotenzierende Macht, die in ihrer Verwundung lauert. Am Grab stand sie zunächst als Verwundete. Aber als sie den Auferstandenen erkennt, tritt sie geradezu leichtfüßig aus dem Zugriff des Todes heraus, löst sich vom Leeren Grab und wagt einen überraschenden Aufbruch. Damit wird die Wunde, die zuvor nur verletzend war, zu dem, was Michel de Certeau eine „glückhafte Wunde im Herzen jeder menschlichen oder religiösen Solidarität“[7] nennt. Der Schmerz bleibt. Aber es öffnet sich ein neues Handlungsfeld.
… leichtfüßig aus dem Zugriff des Todes heraus
Im Blick auf Heute ist besonders relevant, dass Maria Magdalena und die anderen Jüngerinnen und Jünger in einer höchst ungesicherten Lage leben – dies bezeugen nicht nur der Apostel Paulus und die vielen Märtyrerinnen und Märtyrer der jungen Kirche. Die Kreuzigung hat ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen und deutlich gemacht, in welcher Gefahr sie selbst stehen. Die Sicherheit ist entzogen, die Orientierung entglitten, die Hoffnung geraubt. In der Zeit nach Ostern aber öffnet sich mit den Erscheinungen des Auferstandenen ein neuer Horizont.
Die nachösterliche Gemeinschaft lebt zunächst auf sich selbst zurückgezogen im „Obergemach“, und noch ist unklar, in welche Richtung es gehen wird. Miteinander kann man ja alles Mögliche aushecken, solange man die Konfrontation mit der Wirklichkeit scheut, auch schlicht und ergreifend, weil man sich selbst und die eigene Gemeinschaft schützen will. Auch der Gebrauch von Waffen ist eine reelle Möglichkeit.
Ein neuer Horizont
Dann kommt Pfingsten: ein Sturm, der öffnet; Feuerzungen, die begeistern; Geistkraft, die bewegt. Die verriegelten Türen werden geöffnet. Rausgehen. Hören. Sprechen. Neugierig sein. Kommunizieren. Überraschungen zulassen. Verletzlichkeit riskieren. Darauf vertrauen, dass die Hoffnung wächst, wenn man sie teilt. Auf Fremde zugehen und miteinander kommunizieren. Die im Blick auf das Kreuz ohnmächtig Verstummten finden ihre Sprache. Und das ganz und gar Überraschende: sie werden verstanden. In der pfingstlichen Kommunikation entsteht eine gemeinsame Sprache, in der Fremde einander verstehen.
Feuerzungen, Rausgehen, Hören, Sprechen, Neugierig sein…
Pfingsten ist das Fest der Öffnung und Kommunikation. Die junge Kirche lebt nicht im siebten Himmel, sondern in einer höchst ungesicherten Lage. Aber mitten in der Unsicherheit setzt sie gerade nicht auf Abschottung und Gewalt, sondern auf Öffnung und Kommunikation. Das ist doch eine grandiose Botschaft für heute, wo der Ruf nach Abschottung, nach Mauern und Waffen vielerorts wächst. Aus der Trauer um den gekreuzigten Jesus lässt die junge Kirche etwas Anderes entstehen als den Ruf nach Krieg. Sie handelt „geistreich“ im wahrsten Sinn des Wortes. Sie sucht nach Alternativen zur Gewalt und findet sie in der Öffnung.
In der Unsicherheit: Öffnung und Kommunikation
Tragisch ist allerdings, dass das Pfingstfest dazu genutzt wurde, Maria Magdalena und allgemein die Frauen aus dem Ringen um die Formulierung des Glaubens und aus seiner öffentlichen Darstellung herauszuhalten.[8] Obwohl in der Apostelgeschichte ausdrücklich gesagt wird, dass auch die Frauen im Obergemach beim Gebet versammelt waren, dass sie sich am Pfingsttag alle am gleichen Ort befanden und alle mit dem Heiligen Geist erfüllt wurden und zu sprechen begannen (vgl. Apg 1,14; 2,1).
Tragik
Auch Petrus nennt in seiner Pfingstrede Prophetinnen und geistreiche Frauen. Dennoch wurde das Pfingstereignis in der Kirchengeschichte und in der Ikonographie männlich dominiert dargestellt. Allein die Mutter Jesu blieb schweigend präsent – ein durchaus irritierendes Gruppenbild mit Dame. Dies zu revidieren, wird dauern und einen langen pfingstlichen Atem erfordern. Aber der Weg lohnt sich. Denn nur mit den Frauen erschließt sich, wie geistreich das Pfingstfest tatsächlich war und heute sein kann.
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Prof. Dr. Hildegund Keul, apl. Professorin für Fundamentaltheologie und vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Würzburg. www.verwundbarkeiten.de
Beitragsbild: Roberto / pixelio.de
Bild: Eberhard Münch, http://www.atelier-muench.de/
Lektüretipp: Keul, Hildegund: Auferstehung als Lebenskunst. Was das Christentum auszeichnet. Freiburg: Herder 2014.
[1] Butler, Judith 2004: Precarious Life. The Powers of Mourning and Violence. London/New York: Verso, XII.
[2] Michel de Certeau: Mystische Fabel. 16. bis 17. Jahrhundert. Berlin: Suhrkamp 2010, 128.
[3] Ebd.
[4] Certeau 2010, 127.
[5] Certeau 2010, 123.
[6] Certeau 2010, 125.
[7] Michel de Certeau: GlaubensSchwachheit. Stuttgart: Kohlhammer (ReligionsKulturen 2) 2009, 56.
[8] Die Präsenz Maria Magdalenas wurde schon früh vermisst. Das Fehlende erhielt in Legenden seinen Raum. So erzählt die Legenda Aurea, dass die Magdalenerin später mit anderen zusammen auf einem segellosen Schiff ausgesetzt wurde, bei Marseille in dem Fischerdorf Saintes-Maries-de-la-Mer landete – und anschließend die Provence, ein fremdes Land jenseits des Mittelmeeres, evangelisierte. Offensichtlich war sie des Wortes mächtig. (Die Heilige Maria Magdalena. In: Jacobus de Voragine: Leganda Aurea – Goldene Legende Bd. II. (=Fontes Christiani). Freiburg: Herder 2014, 1235-96.)