Die Auszubildenden der generalistischen Pflegeschule St. Hildegard Akademie in Berlin lernen alle Möglichkeiten der Pflege kennen und werden mit vielfachen Ansprüchen und Erwartungen konfrontiert. Ob der Appell der Namensgeberin dabei hilfreich ist, erörtert Claudia Appelt im Gespräch mit Jana Wernitz.
Hildegard von Bingen wurde über Jahrhunderte als Volksheilige verehrt, bevor sie 2012 von Papst Benedikt heiliggesprochen wurde. Unter ihrem Namen ist in Berlin gerade ein Pflegeschulverbund aus katholischen Krankenhäusern, Sozialstationen sowie Seniorenheimen und -zentren entstanden, Lernorte im katholischen Kontext für eine moderne und generalistische Ausbildung künftiger Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner. Auszubildende an der Sankt Hildegard Akademie Berlin erlernen Kompetenzen, die sie in ihrem späteren Berufsleben in der Pflege anwenden können, um die Menschen von der Geburt bis ins hohe Alter optimal in Pflegesituationen zu begleiten und Lebensqualität und soziale Teilhabe zu ermöglichen. Ein ganzheitlicher Ansatz, der wahrscheinlich auch Hildegard von Bingen gefallen hätte.
Pflege ist universal, das bedeutet zum einen, dass Pflege eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt und nicht einfach nebenbei oder zusätzlich geschieht. Denn jeder Mensch hat ein Recht auf eine pflegerische Versorgung. Mit diesem Grundbedarf einher geht die Herausforderung, der Pflege den notwendigen Raum, die notwendige Wertschätzung und ausreichende Strukturen und Ressourcen einzuräumen. Diese Herausforderung besteht im Großen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und als Auftrag an die Politik, als auch im Kleinen, im täglichen Tun der Pflegepersonen. Ich habe dazu mit Jana Wernitz, Pflegefachkraft bei der Caritas Altenhilfe gesprochen.
Frau Wernitz, Sie waren selbst Auszubildende und sind jetzt
Pflegefachkraft bei der Caritas Altenhilfe. Außerdem sind Sie als Botschafterin für die Pflege bei der Caritas und als Bloggerin auf https://blog.caritas-pflegeazubi.de/ unterwegs und gewinnen aktuell als Recruiterin, Auszubildende und Pflegekräfte. Was hilft Ihnen als Pflegefachkraft, dem Anspruch gerecht zu werden?
Damit ich meiner täglichen Pflegeverantwortung gerecht werden kann, hilft mir eine gute Ordnung und Struktur sowie eine sinnvolle Lastenverteilung, zudem muss ich mein Gegenüber schützen und jedem zu Pflegenden und auch mir selbst mit Fürsorge begegnen. In meiner Ausbildung habe ich ein umfassendes Wissen über Krankheitsbilder erlangt sowie Pflegetechniken und die Gestaltung des Pflegeprozesses erlernt. Im Alltag brauche ich viel Einfühlungsvermögen, um in jeder Pflegesituation
individuell auf die Pflegebedürftigen und ihre Bedürfnisse eingehen zu können. Eine gute Ausbildung führt also nicht in einen Automatismus in der adäquaten Berufsausübung, sondern vermittelt mir Kompetenzen, um auf jeden Menschen individuell eingehen zu können. In der neuen generalistischen Ausbildung erhält dieser Ansatz einen starken Schwerpunkt.
Das sind hohe Ansprüche, die Sie an sich selbst und an die Ausbildung formulieren. Die neue Ausbildungsstätte trägt den Namen der heiligen Hildegard. Die Zeit der Namenspatronin war auch eine der Veränderung, geprägt von einer Stimmung des Aufbruchs. Gesellschaftsstände von arm bis reich – von machtvoll und einflussreich bis mittel- und rechtelos. Städte wurden neu gegründet und wuchsen, der Handel blühte, in Ackerbau und Viehzucht wurden neue Methoden angewendet. Strukturen für gesundheitliche Versorgung waren kaum vorhanden, die Hygiene im Alltag hatte nur mäßig Bedeutung. Klöster waren Orte der Bildung, des Wissens und der Forschung. Dort waren Karrieren möglich, die in allen anderen gesellschaftlichen Strukturen undenkbar gewesen wären. Hildegard von Bingen war Benediktinerin, Äbtissin, natur- und heilkundige Universalgelehrte, Kirchenlehrerin, Dichterin und Komponistin und eine starke und respektierte Persönlichkeit und sie verfolgte bereits im Mittelalter einen ganzheitlichen Ansatz von Pflege und Heilung. Was macht für Sie eine umfassende, professionelle Pflege aus?
In meinem Beruf habe ich vier grundlegende Aufgaben: Gesundheit zu fördern, Krankheiten zu verhüten, Gesundheit wiederherzustellen sowie Leiden zu lindern und ein würdiges Sterben zu unterstützen. Grundsätzlich fokussiere ich mich dabei nicht auf die Krankheit, sondern auf die Gesundheit. Welche Fähigkeiten sind da und können erhalten werden, welche Aspekte sind eingeschränkt und was hilft dabei, das Wohlbefinden zu fördern und Lebensqualität zu ermöglichen?
Da spielt für mich tatsächlich das Verständnis von Hildegard von Bingen eine Rolle, auch wenn es schon 1000 Jahre alt ist. Ein Satz von ihr lautet: „Drei Pfade hat der Mensch in sich, in denen sich sein Leben tätigt: die Seele, den Leib und die Sinne. Nur wenn diese drei Aspekte der Lebensführung ausgewogen beachtet werden, bleibt der Mensch gesund.“ Pflegefachlich könnte man es so übersetzen: Seele, Geist und Körper beeinflussen sich also gegenseitig. Wenn es der Seele schlecht geht, leiden auch Geist und Körper. Wenn es dem Körper schlecht geht, haben es auch die Seele und der Geist schwer. Die Pflegeplanung erfasst die Gesamtheit des pflegebedürftigen Menschen und ermöglicht es, Maßnahmen auszuwählen, die dazu beitragen, dass sich alle drei Lebensaspekte zueinander in einer größeren Ausgewogenheit befinden.
Neben dem universalen Recht eines jeden auf Pflege, unterliegt auch die Ausübung von Pflege im Allgemeinen einem universalen Charakter: Jeder Mensch, egal ob professionell oder als Laie, pflegt oder wird gepflegt. In den Bereichen des Mangels brauchen oder geben wir Unterstützung und helfen. Ebenso wichtig sind die Bereiche der Fülle, in denen wir in Bezug auf Nahestehende, Angehörige oder den uns Anvertrauten jeweils Fürsorge, Nächstenliebe und Barmherzigkeit geben und empfangen.
Was heißt das für Sie konkret? Kann Ihnen eine Frau aus dem
Mittelalter für Ihren Alltag tatsächlich etwas geben?
„Jeder Mensch sollte seine Werke zunächst einmal in seinem Herzen erwägen, bevor er sie ausführt.“ Das ist auch ein Satz der heiligen Hildegard. Bei meiner Arbeit im Pflegeheim hat mich oft ein inneres Bild getragen – nämlich den zu Pflegenden so zu versorgen, als wäre es meine Oma oder mein Opa. Das „als wäre“ schafft dabei die notwendige und wichtige Distanz. Und trotzdem führt dieses innere Bild dazu, dass die Pflege auf Augenhöhe, mit Respekt und Hinwendung stattfindet und damit dem ethischen
Grundprinzip einer „würdevollen Pflege“ entspricht.
Das ist für mich allerdings nicht nur eine persönliche Frage. Bereits im Grundgesetz ist die Würde eines jeden Menschen als oberstes Grundrecht verankert, flankiert vom Prinzip der Gleichberechtigung. Für mich heißt das, dass jeder Mensch, der mir anvertraut ist, von mir dieselbe individuelle und gesamtheitliche pflegerische Versorgung erhält, unabhängig von Alter, Hautfarbe, kultureller Zugehörigkeit, Behinderung oder Krankheit, Geschlecht, sexueller Orientierung, Sprache oder spiritueller Überzeugung, rechtlichem, wirtschaftlichem oder sozialem Status. Gerade bei der Pflege von alten Menschen, wenn viele Fähigkeiten nachlassen, ist die Fähigkeit zur Reflexion unheimlich wichtig und erhält die Beziehungspflege eine große Bedeutung. Der International Concil of Nurses (ICN) benennt in seinem Ethikkodex Werte wie Respekt, Gerechtigkeit, Empathie, Verlässlichkeit, Fürsorge, Mitgefühl, Vertrauenswürdigkeit und Integrität.
Welche Möglichkeiten haben Sie im Pflegealltag, diese Werte zu leben und wo stoßen Sie an Grenzen?
Die Abrechnungssysteme der Kranken- und Pflegekassen kategorisieren Pflegebedürftige in Pflegeleistungen und Pflegegrade, was der ressourcenbezogenen und auch wirtschaftlichen Bewertung des Hilfebedarfes der pflegebedürftigen Person dient. In der häuslichen Pflege werden dann Unterstützungsbedarfe in sogenannte Leistungskomplexe wie „kleine oder große Körperpflege, Hilfe beim Ankleiden oder bei der Nahrungsaufnahme“ etc. einsortiert. Aber: ein pflegebedürftiger Mensch lässt sich in Bezug auf seinen Hilfebedarf nicht in ein Schema F pressen. Gerade in meiner Zeit in der häuslichen Pflege habe ich häufig die Situation erlebt, dass es gerade bei der straffen zeitlichen und leistungskatalogorientierten Gestaltung des Pflegealltags wichtig ist, mir den Auftrag als Pflegekraft bewusst zu machen. Es ist nicht nur wichtig, uns an der eingeplanten Zeit und Leistung zu orientieren.
Wir haben als Pflegefachkräfte sowohl dem fachlichen, universellen, rechtlichen als auch ethischen Anliegen des Pflegealltages zu entsprechen. Das soll uns keine Angst und keinen Druck machen oder überfordern. Wir sollen nicht perfektionistisch und übertrieben arbeiten, sondern zugewandt-professionell in den kleinen Details des Pflegealltags. Die Pflege ist ein verantwortungsvoller, bodenständiger, kreativer, sinnhafter, anspruchsvoller und wunderbarer Beruf, auf den wir stolz sein können.
Da höre ich doch auch wieder den Geist der heiligen Hildegard, der Visionärin und Pragmatikerin zugleich. Sie leistete einen leiblich wie seelsorgerischen Dienst, stand ihrem Kloster vor, organisierte, schrieb Bücher, malte und komponierte. Ich habe den Eindruck, die Heilige kann gerade auch für Frauen Vorbild sein, weil sie sich in einer „Männergesellschaft“ einen autarken und starken Wirkungsbereich aufbaute, ihre Berufung lebte. Bis heute sind ihre Lehren geschlechterunabhängig weltweit bekannt. Ihr Wirken und ihre Visionen beziehen sich universell auf den Menschen: den Menschen im Innern mit seinen gesund- oder krankmachenden Kräften, den Menschen im zwischenmenschlichen Bereich und den Menschen im Zusammenhang mit der Natur, dem Universum und dem Glauben.
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Text: Claudia Appelt, Pressesprecherin, im Gespräch mit Jana Wernitz, Pflegefachkraft und Recruiterin, beide Caritas Altenhilfe Berlin.
Bild: Jana Wernitz, Caritas Berlin