Die Begleitung und Unterstützung von Angehörigen schwer kranker Menschen ist weithin ausbaufähig. Urs Winter-Pfändler skizziert das Missverhältnis zwischen drängenden Herausforderungen und tatsächlicher öffentlicher Wahrnehmung. Für die Kirchen öffnet sich hier ein weites Feld.
„Ich wollte nur noch, dass es vorbei ist. Ich war todmüde und, um ehrlich zu sein, hatte ich einfach genug. Es ist verdammt anstrengend, was ich tagtäglich tue: Waschen, Medikamente, das Haus, Arztbesuche und beim Duschen helfen. Aber dann bekam ich ein schlechtes Gewissen; ich sollte nicht so denken.“[1]
Die Begleitung und Betreuung eines schwer kranken Menschen ist oft anstrengend und kräftezehrend. Dies legen auch aktuelle Daten aus Dänemark nahe: So weisen ein Drittel aller Pflegenden von schwer kranken Menschen psychisch auffällige Symptome auf, am häufigsten depressive Verstimmung.[2] Und eine englische Studie doppelt nach: Jeder zehnte Pflegende beantwortet die Frage, ob er im Nachhinein nochmals bereit wäre, seinen Angehörigen am Lebensende zu pflegen mit „(eher) nein“.[3]
Die Begleitung und Betreuung eines schwer kranken Menschen ist oft anstrengend und kräftezehrend.
Diese Resultate haben wohl zum einen mit den sich verändernden familiären Strukturen zu tun: die wachsende Mobilität (der Sohn wohnt und arbeitet in Genf, die Eltern sind in der Deutschschweiz zu Hause), aber auch die Zunahme an Einpersonenhaushalten und Patchwork-Familien führen dazu, dass das familiäre Unterstützungsnetz grobmaschiger wird und die Aufgaben auf immer weniger Schultern verteilt werden müssen.
Zum anderen verändert sich die letzte Lebensphase selbst dank den medizinischen Fortschritten: Während Todesfälle aufgrund von Infektionen massiv eingedämmt werden konnten, leiden heute viele Menschen an längerdauernden chronischen Krankheiten (z.B. Demenz) und die Pflege- und Betreuungszeit dauert oft nicht Wochen- oder Monate, sondern mehrere Jahre.[4]
Die öffentliche Wahrnehmung der Betreuungs- und Pflegeleistungen am Lebensende hinkt hinterher.
Schliesslich hinkt auch die öffentliche Anerkennung der Betreuungs- und Pflegeleistung am Lebensende (geleistet zumeist durch Frauen) der Realität hinterher. Während Themen wie Übergewicht, Sportanimation, Tabak- und Alkoholprävention die öffentliche Public-Health-Diskussion prägen, kommen Menschen am Lebensende, ihr Umfeld und ihre Fragen nur spärlich in den Fokus einer breiten öffentlichen Debatte.[5]
Dabei werden (pflegende) Angehörige in Zukunft immer wichtiger: Denn ohne sie wird es kaum möglich sein, dem Wunsche der meisten von uns allen, zu Hause sterben zu können, Rechnung zu tragen. Und ohne sie wird das Gesundheitssystem zukünftig angesichts der älter werdenden Bevölkerung sowohl finanziell als auch personalmässig wohl definitiv an seine Grenzen stossen.[6]
Dabei werden (pflegende) Angehörige in Zukunft immer wichtiger.
Ein vermehrtes Ernst- und Wahrnehmen der Bedürfnisse von (pflegenden) Angehörigen ist daher angezeigt: Sei dies auf der individuellen Ebene durch genügend Informations-, Beratungs- und Ausbildungsangebote, wie sie beispielsweise das Rote Kreuz oder die Pro Senectute in der Schweiz anbieten. Genauso wichtig sind jedoch auch der Ausbau von Entlastungsstrukturen für Angehörige (z.B. die Unterstützung durch Freiwilligennetzwerke oder das Angebot von Ferienbetten in Pflegeeinrichtungen) als auch gesetzliche Regelungen, welche die Verträglichkeit zwischen Erwerbs- und Betreuungsarbeit (Work-Care-Modelle) verbessern.[7]
Aufgabe und Chance für die Kirchen
Gerade beim Aufbau, der Begleitung sowie der Weiterentwicklung von Freiwilligendiensten können die Kirchen ihre jahrzehntelange Erfahrung und ihr bestehendes Angebot von freiwillig Engagierten (z.B. Besuchs- und Hospizgruppen) einbringen. Zudem sind kirchliche Mitarbeitende in der Betreuung und Begleitung von individuellen familiären Schicksalen und (aber nicht nur) bei religiös-spirituellen Fragen wichtige Ansprechpartner.
Dr. Dr. Urs Winter-Pfändler, Ökumenische Fachstelle Begleitung in der letzten Lebensphase (BILL), St. Gallen, Schweiz
Bibliographische Angabe: Winter-Pfändler, Urs (2016). Nahe sein bis zuletzt. Ein Ratgeber für (pflegende) Angehörige und Freunde. St. Gallen: Edition SPI. ISBN: 978-3-906018-13-3.
weitere Informationen: www.bill-sg.ch, www.nahe-sein.ch
[1] Winter-Pfändler, Urs (2016). Nahe sein bis zuletzt. Ein Ratgeber für (pflegende) Angehörige und Freunde. St. Gallen: Edition SPI, S. 80.
[2] Nielsen, M. K., et al. (2016). Psychological distress, health, and socio-economic factors in caregivers of terminally ill patients: a nationwide population-based cohort study. Support Care Cancer, 24(7), 3057-3067, p, 3057.
[3] Johnson MJ, Allgar V, Macleod U, Jones A, Oliver S, et al. (2016). Family Caregivers Who Would Be Unwilling to Provide Care at the End of Life Again: Findings from the Health Survey for England Population Survey. PLoS ONE 11(1): e0146960. doi: 10.1371/journal.pone.0146960..
[4] Alsheimer, M., & Augustyn, B. (2006). Sterben, Tod und Trauer: gesellschaftliche Herausforderungen . Fünf dramatische Veränderungen und ihre Konsequenzen, Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGfPM), S. 9-14.
[5] Karapliagou, A. and A. Kellehear (2016). The forgotten people in British public health: a national neglect of the dying, bereaved and caregivers. BMJ Support Palliat Care, 6, 153-159.
[6] Schweizerische Eidgenossenschaft (2014). Medienmitteilung. Der Bund will betreuende und pflegende Angehörige besser unterstützen.
[7] Schweizerische Eidgenossenschaft (2014). Medienmitteilung. Der Bund will betreuende und pflegende Angehörige besser unterstützen.