Wie weit darf man vorangehen in der Erneuerung, ohne die Einheit der katholischen Kirche aufs Spiel zu setzen? Das ist die Gretchenfrage der kirchlichen Reformdebatte. Johannes Ludwig diskutiert den Begriff der Weltkirche.
Gegenüber progressiven Vorstößen in der innerdeutschen Debatte um die Reform der Kirche wird oftmals auf deren mangelnde Durchsetzbarkeit auf weltkirchlicher Ebene verwiesen. Was in der katholischen Kirche in Deutschland gefordert werde, so der Tenor, führe auf einen ‚deutschen Sonderweg‘ hinaus und riskiere die Spaltung der Kirche.
Korrigierend und eine Selbstreferentialität der Ortskirchen verhindernd kann die ‚Weltkirche‘ aber nur dann wirken, wenn sie als die wahrgenommen wird, die sie ist: vielfältig und uneindeutig.
„Noch nicht so weit“
Mancher Kritiker des Synodalen Wegs verweist in der Debatte auf die mangelnde Durchsetzbarkeit der Forderungen reformorientierter Kräfte auf weltkirchlicher Ebene. Zölibat, Ausschluss der Frauen vom Priestertum, Kirchenverfassung: Was in Deutschland infrage gestellt werde, sei weltweit unumstrittener Grundkonsens.
Dabei gibt es zwei Varianten der Argumentation. Einerseits wird vielfach ein Gegensatz zwischen den Positionierungen in Deutschland und anderen Ortskirchen heraufbeschworen. Während die ‚deutsche‘ Kirche zunehmend einen Sonderweg einschlage, verbürge die Bezugnahme auf weltkirchliche Positionen die Beständigkeit der Lehre. Der Synodale Weg drohe grundsätzlich, den Kern der katholischen Lehre hinter sich zu lassen.
Ein zweiter Argumentationsweg zielt zwar nicht darauf, die Reformdebatte gänzlich zu delegitimieren, soll sie aber immerhin ausbremsen. Die Reformforderungen seien zwar nicht von der Hand zu weisen, die Welt sei aber ‚noch nicht reif für allzu progressive Forderungen‘, so der Duktus dieser Stoßrichtung.
Das Zwei-Ebenen-Spiel
Diese beiden Argumentationswege, die meist gegen reformorientierte Stimmen gerichtet sind, entsprechen in der Grundkonstellation dem, was der Politikwissenschaftler Robert Putnam als Zwei-Ebenen-Spiel bezeichnet hat. Modelliert man die Debatte um die Reform der Kirche als Verhandlung, so wird suggeriert, die weitgehenden Forderungen bzw. Ergebnisse der reformorientierten Kräfte in Deutschland könnten auf welt- bzw. gesamtkirchlicher Ebene niemals Zustimmung finden. Dadurch wird vom sogenannten ‚Paradox der Schwäche‘ (Thomas Schelling) profitiert.
Der vermeintlich geringe Spielraum auf gesamtkirchlicher Ebene wird strategisch eingesetzt, um Reformforderungen auf nationaler Ebene einzugrenzen, wenn nicht gar im Keim zu ersticken. Eine solche Strategie kann allerdings nur deshalb effektiv sein, weil beide Ebenen nur unzureichend vernetzt sind. Die vermeintliche Unannehmbarkeit mancher Reformanliegen auf gesamtkirchlicher Ebene kann nur deshalb glaubhaft versichert werden, weil auf nationaler Ebene schlichtweg ein Informationsdefizit bzgl. der tatsächlichen gesamtkirchlichen Präferenzen besteht. Damit aber ist eine grundsätzliche Frage aufgeworfen: Wer oder was ist eigentlich mit ‚Weltkirche‘ gemeint?
Was ist Weltkirche?
Der Begriff ‚Weltkirche‘ wird in der innerdeutschen Reformdebatte in auffallender Undifferenziertheit verwendet. Die ‚Weltkirche‘, so scheint es, ist ein riesiges Phantasma, das nach Belieben für die jeweils eigene Agenda instrumentalisiert werden kann. Anstatt die Heterogenität weltkirchlicher Realitäten und Positionierungen anzuerkennen und die verschiedenen Stimmen in ihrer Differenziertheit wahrzunehmen, wird sie meist auf einen gemeinsamen Nenner heruntergebrochen: Sie ist erzkonservativ und noch lange nicht reif für weitreichende Reformen. Dies wirkt umso paradoxer, da gerade die innerdeutsche Reformdebatte eindrücklich vor Augen führen müsste, dass selbst innerhalb einer Ortskirche nicht von einer einheitlichen Positionierung gesprochen werden kann. Warum aber sollte man davon ausgehen, dass die ‚Weltkirche‘ einer bestimmten Positionierung zugerechnet werden kann, wenn dies nicht einmal für den deutschen Kontext gilt?
Diese Essentialisierung der ‚Weltkirche‘ führt nicht nur dazu, dass die Vielfalt ausgeblendet wird und differenzierte Stimmen verstummen. ‚Weltkirche‘ ist kein Unisono, sondern vielmehr ein Stimmengewirr, das eine Verallgemeinerung a priori unmöglich macht. Die Essentialisierung mündet vielfach gar in bestimmte Formen des Othering. ‚Unser‘ deutscher Reformfortschritt, findet weltweit noch keine Zustimmung: Die ‚Weltkirche‘ ist noch nicht reif für ‚unsere‘ Ideen. Deutlicher ließe sich kaum zeigen, dass diese Argumentationen neokolonialen Denk- und Deutungsmustern entsprechen. Besonders eindrücklich wird dies anhand des Diskurses über das Christentum in ‚Afrika‘.
Es ist frappierend, dass ein Kontinent mit 54 Nationen und von der dreifachen Größe Europas so behandelt wird, als bilde er eine territoriale, gesellschaftliche und auch kirchenpolitische Einheit. ‚Afrika‘, so könnte man den Eindruck gewinnen, gilt in Reformdiskursen vielfach als Inbegriff eines Christentums, das auf den gemeinsamen Nenner des konservativen Katholizismus gebracht werden könne und kirchenpolitisch mit einer Stimme spreche. Die Reduktion der Vielfalt und Vielstimmigkeit in Bezug auf die Zukunftsentwürfe der Kirche mündet in die vollständige Entmündigung der Menschen. ‚Afrika‘ hat gefälligst das zu sein, was man sich bei ‚uns‘ darunter vorstellt. Das können wahlweise ein ‚rückständiger Kontinent‘ oder ‚exotisch anmutende, aber erzkonservative Formen der Spiritualität‘ sein.
Kirche der unterschiedlichen Geschwindigkeiten
Was aber impliziert diese Vielfalt auf gesamtkirchlicher Ebene nun für den Synodalen Weg in Deutschland? So falsch es ist, der ‚Weltkirche‘ einseitig konservative und den Anliegen des Synodalen Weges diametral zuwiderlaufende Zielvorstellungen unterzuschieben, so falsch wäre es auch, Reformforderungen als durch weltkirchliche Positionen gedeckt darzustellen. Ein Blick auf die kirchenpolitischen Ereignisse der letzten Zeit führt die Differenziertheit weltkirchlicher Stimmen eindrucksvoll vor Augen: Da ist einerseits der Vorsitzende der polnischen Bischofskonferenz, der seinen deutschen Amtskollegen in einem offenen Brief angesichts vermeintlich allzu progressiver Forderungen zur Katholizität anmahnen will. Auf der anderen Seite sind da aber auch internationale Beobachterinnen und Beobachter des Synodalen Weges, die im Gegenteil darauf verweisen, dass der deutsche Reformprozess Anliegen aufnehme, die in ihren Ortskirchen ebenso dringlich seien wie in Deutschland.
So wenig bei nationalen Reformprozessen die Kontexte und Herausforderungen anderer Ortskirchen außer Acht gelassen werden dürfen, so wenig darf die Sorge um die Einheit der Kirche mit deren Einheitlichkeit verwechselt werden. Die oftmals großen Differenzen zwischen und innerhalb ortskirchlicher Strukturen machen eines allzu deutlich. Die Kirche war und ist – was ihre Strukturen anbelangt – immer eine Kirche der unterschiedlichen Geschwindigkeiten gewesen.
Und zeigt nicht gerade der Synodale Weg auf, dass einzelne Ortskirchen, wenn sie ihrer Sendung nicht hinterherhinken wollen, mutig voranschreiten müssen? Anstoß des Synodalen Weges war schließlich nicht etwa der Impetus, in einer Blaupause utopische Reformforderungen in die Tat umzusetzen, sondern der Wille zur systemischen Aufarbeitung der Verbrechen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche. Wer dieses Anliegen mit Verweis auf die vermeintlich geschlossene Opposition der ‚Weltkirche‘ zu delegitimieren versucht, macht sich nicht nur eines ‚Whataboutism‘, sondern auch der Beihilfe zur Vertuschung schuldig.
„Der Weg entsteht beim Gehen“
Dass der Synodale Weg als solcher nicht infrage gestellt werden darf, bedeutet freilich noch nicht, dass auch sein Ergebnis schon im Voraus feststünde. Vielmehr muss die oberste Devise bleiben: „Der Weg entsteht beim Gehen!“ Dabei gilt es, die vielfältigen Stimmen aus der Weltkirche vorurteilsfrei wahrzunehmen, zu unterscheiden und sich nötigenfalls auch korrigieren zu lassen.
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Dr. Johannes Ludwig war als Wissenschaftlicher Assistent an der Universität Fribourg tätig und hat dort ein Werk zum Thema ‚Macht und Kirche‘ verfasst (System Kirche. Machtausübung zwischen Idee, Interesse und Institution, Studien zur theologischen Ethik 162, Verlag Schwabe und Echter, 2022, erscheint in Kürze). Er ist heute tätig als Referent für Globale Vernetzung und Solidarität in der Diözese Limburg.
Bild: Rudolph Duba – pixelio.de