Lyrik öffnet den Blick neu für die Dinge und was in ihnen durchscheint. Philippe Jaccottet war ein Meister dieser Kunst. Erich Garhammer würdigt den kürzlich verstorbenen Dichter.
Philippe Jaccottet wurde 1925 in Moudon (Westschweiz, Kanton Waadt) geboren. Schule und Universität besuchte er in Lausanne. Rom und Paris waren seine Stationen, bevor er 1953 nach Grignan (Südfrankreich) zog, wo er bis zu seinem Tod am 24. Februar 2021 mit der Malerin Anne-Marie Haesler lebte.
Philippe Jaccottet und das Fast
Ein Schlüsselwort in der Poesie von Jaccottet ist das „fast“. Jaccottet gebraucht es in „Die wenigen Geräusche“1 an den unterschiedlichsten, aber entscheidenden Stellen: „Oktober. Goldene Blätter steigen empor in den klaren Himmel; fast hörte man das Klingeln dieser goldenen Blätter über den Gärten.“
Fast könnte sich das Rascheln der Herbstblätter zum akustischen Eindruck des Klingelns verdichten, aber im letzten Moment bleibt dieses Klingeln doch unhörbar. Während man die Zeilen liest, kommt es zu einem Hörerlebnis. Dieses Hörbarmachen des Unhörbaren vermag die Poesie. Zugleich schafft sie hinter dem imaginierten Klang eine Distanz, einen Raum des Beinahe. Dies ist der Wirklichkeitsraum des „Fast“. „Warum dieses ,fast’, dieses vorsichtige Wort, das bei mir einen fast (schon wieder) automatischen Gebrauch bekommen hat? Mein Vorbehalt bestünde darin, dass die Bejahung zu ,schön’ sein könnte, die Verkündigung zu gewiss; und dies gerade im Verhältnis zur ,Wirklichkeit’ der gelebten Erfahrung. Wer weiß, ob wir diesem Gelübde gewachsen sein werden? Das Gelübde jedoch mache ich mir zu eigen.“ Dem Gelübde des Fast blieb Jaccottet treu.
die Bejahung [könnte] zu ,schön’ sein (…), die Verkündigung zu gewiss
Erschütternd für ihn sind die Unerschütterlichkeit und Gewissheiten eines Paul Claudel: den Nussgarten im Hohen Lied der Bibel deutet Claudel als Nussgarten der Dogmen der Kirche.
Jaccottet dazu: neulich sei er an einem Nussgarten vorbeigekommen. Selbst wenn er für die Dogmen der Kirche die gleiche Achtung hätte wie Claudel, um nichts in der Welt hätte er gewünscht, diese schönen Bäume verschwinden zu sehen zugunsten von Gedanken, und wären sie noch so ehrwürdig. Diese Bäume, ohne dass sie aufhören Bäume zu sein, strahlen über sich selber hinaus. Die Wirklichkeit ist diaphan für das Göttliche.
In diesem Plädoyer für den Vorbehalt gegen das zu Schöne und zu Sichere, das schnell in blinde Überaffirmation kippen kann, liegt Jaccottets Poetik in nuce geborgen: Auf den Pfaden des Fast, in denen Leben und Tod nur einen Hauch voneinander getrennt liegen, zeigt Jaccottet die Textur auf, die Natur, Kultur und Religion verbindet.
Die Wirklichkeit ist diaphan für das Göttliche.
„Das, was ein Gedicht zu bewirken vermag, ist ein Fast-Nichts“ so hat es Reiner Kunze in seiner Dankrede zur Verleihung des Hans-Martin-Schleyer-Preises formuliert. Mit diesem Fast-Nichts steht Kunze ganz in der Nähe von Jaccottet. Denn die Kraft der Poesie setzt auf Fragilität und Zartheit oder mit Peter Handke gesprochen: „Das Poetische: das Fastnichts, das die Welt umspannt.“
Höre-Schaue-Schweige: die Grundwörter seiner Lyrik
Peter Handke hat in seiner Laudatio auf Philippe Jaccottet bei der Verleihung des Petrarca-Preises 1988 festgestellt: „Als Hauptantrieb seiner poetischen Aktivität erscheint mir ein energisches Sich-nicht-Einmischen in den Gegenstand, ein entschlossenes In-Ruhe-Lassen (auch um die eigene »ewige Unruhe« zu stillen). Der Ausgangsort eines jeden seiner Texte ist das: »Höre! Schaue! Schweige!« Hör das Schrillen der Schwalben über den Häusern. Heb den Kopf zu ihrem Kurven im Himmel. Entsprich mit deinen Sätzen und Strophen dem Schweigen, das beides in dir erzeugt und das doch gerade der Anfang zu deinem Schreiben ist.“
Höre! Schaue! Schweige!
Wohl am intensivsten hat Philippe Jaccottet in den „Notizen aus der Tiefe“ (München 2009) Tod und Sterben meditiert. Seine Lyrik kann als „memento mori“ umschrieben werden. Bei einer Trauerfeier in Grignan hört er den Satz aus der Begräbnisliturgie: „Chorus angelorum te suscipiat, et cum Lazaro quondam paupere aeternam habeas requiem.“ (Der Chor der Engel möge dich empfangen und mit Lazarus, dem einst armen, mögest du ewige Ruhe haben) Wer Lazarus sei, wissen wir oder könnten wir wissen, wenn wir die Augen aufmachen, wir entdecken ihn immer, auch unter den Armen heute. Aber haben wir noch eine Vorstellung von den Engeln, die uns einmal empfangen werden?
Und dann eine Meditation über die Liebe: „Das Sterben kündigt sich dadurch an, dass Eros sich in Agape versammelt, nicht nur beim Sterbenden, sondern auch bei den Partnern. Wenn jemand gemeint hätte, Eros sei intensiver als Agape, so hat er sich getäuscht.“
Jaccottets Lyrik als „memento mori“
Die Kraft der Tradition hat der Lyriker und Poet Philippe Jaccottet so umschrieben: „In Wirklichkeit und dem entgegen, was viele heutigen Tages verkündigen, sind die Werke der Vergangenheit, die unsere Kultur ausmachen, nur in dem Maß vorhanden und mächtig, als sie, statt zu überschatten, uns erleuchten, statt eine Last zu sein, uns beflügeln.“
All das, was einem im Leben an Wesentlichem zustößt, all das, was einen im Innersten berührt, vermag keine Sprache mit größerer Genauigkeit auszudrücken als die Sprache der Poesie. Das Verstummen wäre ihr angemessener als jedes Wort. Jaccottet formuliert geradezu in der Tradition der negativen Theologie: „Hielte das Licht die Feder, / atmete die Luft selbst in den Worten, / so wäre es besser“, so in seinem letzten Buch „Die wenigen Geräusche“2. Hier plädiert ein Literat für die Selbstoffenbarung der Dinge, das menschliche Schreiben scheint nur ein störendes Dazwischen. Die Lyrik von Jaccottet stellt sich nicht vor die Phänomene, sie bringt sie vielmehr zum Leuchten. In seiner Lyrik leuchtet die Welt von innen her.
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Prof. em. Dr. Erich Garhammer, Universität Würzburg.
Von ihm erscheint demnächst: Meridiane aus Wörtern. Theo-poetisches ABC, Würzburg 2021.
Beitragsbild: Yoksel Zok auf Unsplash
Vgl. von Erich Garhammer u.a. auch: