René Buchholz zur Aktualität Montaignes anläßlich einer neu erschienenen Biografie von Volker Reinhardt.
Im 16. Jahrhundert hatte Frankreich während der Religionskriege das Potential zu einem „failing state“ – noch bevor der moderne Flächenstaat geboren war. Dass sich im Namen der „wahren Religion“ Menschen einander umbrachten, Landschaften entvölkert wurden, erschütterte das Vertrauen in eben jene Religion, deren Priester die Liebe zum Nächsten predigten. Waren es überhaupt die kontroverstheologischen Fragen, welche die Gewaltausbrüche verursachten, oder wurden nicht eher tiefer liegende gesellschaftliche Konflikte des 16. Jahrhunderts religiös codiert?
„Ich sehe in aller Klarheit“, schreibt Michel de Montaigne (1533-1592) im zweiten Buch seiner Essais, „daß wir nur jene Pflichten der Frömmigkeit bereitwillig erfüllen, mit denen wir zugleich unseren Leidenschaften frönen können. Die Christen übertreffen alle andern an Feindeshaß. Unser Glaubenseifer tut Wunder, wenn er sich mit unserer Neigung zu Ehrgeiz und Habsucht, zu Verleumdung und Rachgier, zu Grausamkeit und Aufruhr verbündet. Die Gegenrichtung hin zu Mäßigung, Wohlwollen und Güte aber schlägt er, falls ihn nicht durch ein Wunder eine höchst seltsame Veranlagung hierzu bewegt, weder zu Fuß noch auf Flügeln ein. Unsere Religion ist geschaffen, die Laster auszurotten, doch sie beschirmt sie, zieht sie groß und spornt sie an.“ (Essais II,12 / Stilett, 212)
Montaigne blickt bereits auf einige Jahre zurück, in denen vor allem der Süden Frankreichs von Religionskriegen verwüstet wurde, in denen so mancher den eigenen Vorteil zu gewinnen suchte. Die Ermordung der Hugenottenführer in Paris und das Massaker an Protestanten in der „Bartholomäusnacht“ (23./24. August 1572) stießen den Vertreter der um Ausgleich bemühten katholischen Partei ab. Die Behauptung, die Christen überträfen alle an Feindeshass, konnte sich nicht nur auf Nachrichten berufen, sondern auch auf eigene Anschauung, denn das Schloss Montaigne lag inmitten des ‚Krisengebiets‘ und der Autor der Essais geriet mehrmals in Situationen, die das eigene Leben gefährdeten. „Ich lebe zu einer Zeit, in der es durch die Zügellosigkeit unsrer Bürgerkriege von unglaublichen Beispielen dieses Lasters der Grausamkeit nur so wimmelt, und man findet in der alten Geschichte keine ungeheuerlicheren, als wir sie Tag für Tag vor Augen sehn.“ (Essais II,11 / Stilett 215)
Religiöse Bürgerkriege
Volker Reinhardt, Historiker in Fribourg, wandte sich nach seiner Voltaire-Biografie (2022) Montaigne zu. Seine gut lesbare, auf einer souveränen Kenntnis der Quellen basierende Biographie situiert Leben und Schriften Montaignes in den Konflikten seiner Zeit: Bildung und Erziehung, die Freundschaft mit dem schon 1563 verstorbenen Etienne de la Boétie, Montaignes Rolle bei der Vermittlung der Bürgerkriegsparteien, sein Verhältnis zu Heinrich von Navarra, die Romreise und das Reisetagebuch (das die Leserschaft auch ausführlich über Montaignes Nierensteinleiden informiert), die Zeit als Bürgermeister von Bordeaux, seine Beziehung im fortgeschrittenen Alter zu Marie de Gournay, die 1596 nach Montaignes Tod eine Neuedition der Essais besorgte, und nicht zuletzt die Entstehung der Essais („Montaignes zweites Ich“, Reinhardt, 304), deren erster Band 1580 erscheint.
Montaigne in den Konflikten seiner Zeit
Der Autor der „Essais“, der keineswegs dem alten Geburtsadel angehörte, sondern der Entwicklung von Eyquem – dem Namen seiner Geburt – zu Montaigne ein wenig nachhelfen musste (vgl. Reinhardt 29-38), führte ein Leben, das zwischen der Wahrnehmung politischer Ämter und Rückzug in einen privaten Bereich mit intensiver Selbstbeobachtung schwankte. Das führte schon bei Blaise Pascal zu dem Fehlschluss, die „Essais“ als eitle Ergüsse einer narzisstischen Person abzuwerten, anstatt die vielen Masken, Anspielungen und Fiktionen, zu analysieren, von denen die Essais voll sind. Als bloße Selbstbespiegelungen eines Gecken wären sie schwerlich 1676 indiziert worden, während bei der Ankunft Montaignes in Rom 1580 zwar unter anderem auch der erste Band der Essais konfisziert und geprüft wurde, der Text aber die Zensur ohne Eingriffe in den Text passieren konnte (Tagebuch 145f, 196; Reinhardt, 181-186).
Änderungen wurden an wenigen Stellen empfohlen, nicht angeordnet, so im Essai über die Grausamkeit, wo Montaigne die barbarische Justiz christlicher Nationen kritisiert: „Die Wilden, welche die Leichen ihrer Verstorbenen braten und verspeisen, sind mir weniger zuwider als jene unter uns, die Menschen grausam verfolgen und lebendigen Leibes foltern. Selbst den von der Justiz verfügten Hinrichtungen, so rechtens sie sein mögen, kann ich nicht festen Blickes zusehn.“ (Essais II,11 / Stilett 214) Das Motiv der kannibalischen Bräuche hatte Montaigne bereits zu einem Essai im ersten Band ausgebaut, dem Max Horkheimer bescheinigte, er gehöre „zu den schönsten des Werkes“ (Horkheimer, 257, Anm. 60; Essais I,32 / Stilett 109-115).
In den Bürgerkriegen feiert die Grausamkeit ihre Exzesse. Die Ursachen der Konflikte werden freilich weder von Montaigne noch von seinem Biografen aufgedeckt: die Auseinandersetzung des aufstrebenden Bürgertums mit dem alten Adel sowie den verarmten Schichten einerseits und die Konkurrenz innerhalb der Aristokratie andererseits. Die wachsenden Spannungen entladen sich ab 1562 als Konflikt zwischen den Konfessionen. Max Horkheimer, dessen großen Montaigne-Essay man in Reinhardts Bibliografie vermisst, hatte dies genauer thematisiert (vgl. Horkheimer, 237-239). Montaigne ahnt, dass die Religion allein nicht den Bürgerkrieg auslöste, sucht aber die Ursachen eher in der condition humaine als in der Konflikte generierenden Verfassung der Gesellschaft, die seine Skepsis nicht zur Disposition stellt. Stabilität ist angesichts des Krieges wichtiger; Montaigne ist gewiss kein Revolutionär.
Gibt es aber etwas in der Religion, das ihrem Missbrauch zuarbeitet? Es ist, kurz gesagt, die Tendenz, problematische, d.h. von unserer Vernunft als keineswegs evident einsehbare Geltungsansprüche apodiktisch zu formulieren. Die Grenzen unserer Vernunft, von denen Montaigne in seinen Essais oft spricht, rechtfertigen es nicht, das aufgegebene Terrain mit der Glaubensgewissheit zu besetzen. Immerhin: Unsere Erkenntnisse und Methoden lassen sich durchaus verbessern, die Vernunft verbindet uns mit anderen Vernunftwesen; wohl aber verbietet es sich, angesichts „meiner Unwissenheit über das große Ganze“ (Essais III,13 / Stilett 541) die eigene Auffassung absolut zu setzen.
Gibt es aber etwas in der Religion, das ihrem Missbrauch zuarbeitet?
Montaignes epistemologische Bescheidenheit geht nicht in Vernunftfeindschaft über: Soweit Vernunft sich an der Empirie orientiert, eignet ihr nicht nur ein größerer Nutzen, sie ist auch besser vor Irrtum und Einbildungen geschützt. Auf die empirische Welt verweist schon die spezifische Verfassung unserer Erkenntnis, die bei den Sinnen anhebt; „sie sind unsere Herren. … Unser Wissen beginnt mit ihnen und hört mit ihnen auf.“ (Essais II,12 / Stilett 293) Wo wir keine sichere Erkenntnis gewinnen können, ist es besser, sich eines Urteils zu enthalten. „Warum verdrängen wir, wieviel Widersprüche sich in unseren Urteilen finden? Und wieviel Dinge uns gestern als Glaubensartikel dienten, die wir heute als Märchen abtun?“ (Essais I,27 / Stilett 98)
Unseren Glauben gewinnen wir weder über eine Wette, wie später bei Pascal, noch durch einen Sprung oder eine Entscheidung wie bei Kierkegaard. Der Dramatisierung Kierkegaards steht Montaignes nüchterne Einsicht gegenüber, dass der Glaube eher durch Sozialisation entsteht: Wir nehmen die Religion an
„entweder weil wir sie im Lande unsrer Geburt als üblich vorfanden oder weil wir ihre Altehrwürdigkeit und das Ansehn der Männer achten, die sich zu ihr bekannten, oder weil wir die Strafen fürchten, die sie den Ungläubigen androht, oder weil wir ihren Versprechen trauen. … Ein anderer Himmelsstrich, andre Glaubenszeugen, ähnliche Verheißungen und Drohungen könnten uns auf dieselbe Weise einen entgegengesetzten Glauben einpflanzen. Christen sind wir im gleichen Sinne wie wir Périgorden oder Deutsche sind.“ (Essays II,12 / Stilett 220)
Nüchterne Einsicht: Glaube entsteht durch Sozialisation
Für Montaigne folgen aus dieser Einsicht erstens eine große Zurückhaltung gegenüber allen – auch theologischen – Prätentionen, sich der Wahrheit sicher zu sein, was doch leicht wahnhafte Züge annimmt (vgl. Reinhardt, 262-272) und zweitens die Forderung zur Toleranz angesichts unserer beschränkten Vernunftkräfte. Jede(r) mag in der Religion/Konfession verbleiben, in der er/sie sozialisiert wurde, freilich ohne andere mit abweichenden Auffassungen jegliche Wahrheit abzusprechen und sie nur für sich zu reklamieren.
Wie leicht solche Unbescheidenheit in offene Repression übergeht, stand Montaigne deutlich vor Augen. Es mochten wohl diese Überlegungen sein, die Pascals Reserven gegenüber Montaigne verstärkten und auch für heutige Theolog*innen, die eher den Sprungcharakter des Glaubens betonen, eine Provokation darstellen.
Von höchster Aktualität
Sind das alles nur Probleme des 16. Jahrhunderts? Wohl kaum. Unschwer lassen sich im Zeitalter des Fundamentalismus und irritationsfest vorgetragener Meinungen, die oft aggressiv exkludieren, was sie infrage stellen könnte, Bezüge zur Gegenwart herstellen. „Für das 21. Jahrhundert“, konstatiert Volker Reinhardt am Ende seiner Biografie, „mit seinem Hang zu unduldsamer Korrektheit und Ausblendung unliebsamer Meinungen ist Montaigne von höchster Aktualität.“ (Reinhardt, 305)
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Dr. René Buchholz ist Mitarbeiter in der kirchlichen Erwachsenenbildung der Erzdiözese Köln und Apl. Professor für Fundamentaltheologie an der Katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn.
Max Horkheimer: Montaigne und die Funktion der Skepsis (1938), in: ders., Gesammelte Schriften, Band 4 (Schriften 1936-1941), hrsg. von Alfred Schmidt, Frankfurt M. (Fischer) 1988, 236-294.
Michel de Montaigne: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, Frankfurt/M. (Eichborn) 1998.
Tagebuch der Reise nach Italien über die Schweiz und Deutschland von 1580 bis 1581. Übersetzt, hrsg. und mit einem Essay versehen von Hans Stilett, Frankfurt/M. – Berlin (Eichborn) 2002.
Volker Reinhardt: Montaigne. Philosophie in Zeiten des Krieges. Eine Biographie, München (Beck) 2023.