Am gestrigen 12. September wurde der „Bericht zum Pilotprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Regina Heyder hat den Bericht gelesen, die Pressekonferenz verfolgt und ihre Beobachtungen und Einordnungen festgehalten.
„Wir suchen nach Worten und wissen, dass wir nicht die richtigen finden. Dass wir besser schweigen sollten, denn geredet wurde schon viel, und seit Jahren schon. Doch wir haben am Thema vorbeigeredet: Unzählige Entschuldigungen und Beteuerungen wurden vorgebracht, denen dann doch nicht jene Taten folgten, die den Missbrauchsbetroffenen zustehen.“
Renata Asal-Steger, Präsidentin der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) und damit eine der Auftraggeberinnen der Pilotstudie „zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts“, eröffnete so am gestrigen 12. September die Pressekonferenz anlässlich der Vorstellung dieser Studie.[1] Ende November 2021 hatten sich Schweizer Bischofskonferenz (SBK), RKZ und die Konferenz der Vereinigungen der Orden und weiterer Gemeinschaften des gottgeweihten Lebens (KOVOS) darauf verständigt, ein wissenschaftliches Projekt zu sexuellem Missbrauch durchführen zu lassen. Beauftragt wurde ein Forschungsteam der Universität Zürich unter Leitung der beiden Historikerinnen Prof.in Dr.in Monika Dommann und Prof.in Dr.in Marietta Meier. Damit waren wichtige Vorentscheidungen verbunden – zum einen ein geschichtswissenschaftlicher Zugang, zum anderen der umfassende Auftrag, sexuellen Missbrauch an Minderjährigen und Erwachsenen, begangen durch Kleriker und kirchliche Angestellte sowie Ordensleute, schweizweit untersuchen zu lassen. Eine weitere Besonderheit ist die konsequente Zusammenarbeit mit den beiden Schweizer Betroffenenorganisationen SAPEC für die Suisse romande und IG-MikU für die deutschsprachige Schweiz, die das Forschungsprojekt kontinuierlich begleiteten.[2]
Ergebnisse
In Zahlen lesen sich die Ergebnisse der Pilotstudie so: 1002 identifizierte Missbrauchsfälle seit der Mitte des 20. Jahrhunderts, 921 Betroffene, 510 Beschuldigte. 39% der Betroffenen sind weiblich, knapp 56 % männlich, bei 5 % ist das Geschlecht unbekannt. 74 % der Fälle beziehen sich auf den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen, 14 % und damit mindestens jeder siebte Fall auf sexuellen Missbrauch an Erwachsenen (bei weiteren 12 % war das Alter nicht eindeutig feststellbar).[3] Die Tatkontexte finden sich im Wesentlichen in drei verschiedenen sozialen Räumen: (1) Pastoral, (2) katholische Schulen, Heime und Anstalten sowie (3) Orden und ordensähnliche Gemeinschaften. Alle genannten Zahlen stellen nur die Spitze eines Eisbergs dar, da es Ziel der Pilotstudie war, grundsätzlich die Erforschbarkeit des sexuellen Missbrauchs in der Schweiz zu klären, also relevante Aktenbestände und die Zugänglichkeit zu eruieren, Fragestellungen für die Forschung zu generieren und Methoden zu identifizieren.
Insgesamt erhärten diese Ergebnisse auch für die Schweiz, was bereits aus anderen diözesanen und nationalen Studien über sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche bekannt ist. Dazu gehören Täterstrategien wie die Missbrauchsverbrechen an besonders vulnerablen Personen, etwa Heimkindern oder den Kindern von alleinerziehenden Müttern; Täterschutz, Bagatellisierungs- und Vertuschungsstrategien in den Bistümern wie etwa das Versetzen von Tätern; fehlendes Interesse, künftige Taten durch die Verurteilung von Tätern zu verhindern; die Kooperationsbereitschaft von Eliten wie Richtern und Ärzten, um Priestertäter möglichst milde zu behandeln[4]; die fragwürdige Rolle von Verantwortlichen und Gläubigen in Pfarreien und Kirchgemeinden, die sich für verurteilte Täter verwenden; die Wirksamkeit von Geschlechterstereotypen, die Frauen zu Opfern und Täterinnen zugleich machen;[5] die Einschüchterung, Diffamierung und Isolierung von Eltern – insbesondere Müttern –, die einen Missbrauch zur Anzeige bringen wollen; vielfache Empathielosigkeit gegenüber den Betroffenen sowohl im sozialen Nahfeld wie bei kirchlichen Instanzen.
Spezifika der Situation in der Schweiz
Dennoch sind einige Spezifika für die Schweiz auszumachen. Hier ist an erster Stelle die duale Struktur zu nennen: Neben den kirchenrechtlichen Einheiten wie Pfarreien und Diözesen existieren in fast allen Kantonen mit Ausnahme des Wallis und des Tessin staatskirchenrechtliche Körperschaften, zuständig für Anstellung, Kündigung und Bezahlung der kirchlichen Mitarbeitenden (vgl. S. 39f). So sind die Kirchgemeinden die staatskirchenrechtliche Entsprechung zu den Pfarreien; die kantonalkirchlichen Organisationen sind in der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz der Schweiz (RKZ) zusammengeschlossen. Diese Struktur gibt den Kirchgemeinden und Katholik:innen vor Ort große Einflussmöglichkeiten bei der Auswahl ihres Personals. Die Pilotstudie berichtet von zwei Fällen, in denen die Anstellung eines Priesters verhindert wurde, obwohl nachdrückliche Empfehlungen des Bischofs vorlagen (vgl. S. 67 und 85).
Auch die Vielsprachigkeit der Schweiz hat Auswirkungen auf den Umgang mit sexuellem Missbrauch. Vertuschen durch (Selbst-)Versetzen war dann besonders effektiv, wenn dies über Sprachgrenzen hinweg geschah. Und während in der Suisse romande mit SAPEC seit 2010 und in der deutschsprachigen Schweiz mit IG-MikU seit 2021 zwei hochengagierte Betroffenenorganisationen existieren, die eine Anlaufstelle gründeten, die Erforschung von sexuellem Missbrauch immer wieder öffentlich einfordern und Betroffene unterstützen, fehlt ein solcher Zusammenschluss bislang im italienischsprachigen Tessin. Die Pilotstudie vermutet, dass auch deshalb die Zahl der im Tessin gemeldeten Fälle deutlich geringer ist (vgl. S. 36f).
Die römisch-katholische Kirche in der Schweiz ist (auch) eine Kirche von Migrant:innen: Nach den Zahlen des SPI hatten im Jahr 2021 insgesamt 39% der katholischen Wohnbevölkerung ab 15 Jahren einen Migrationshintergrund.[6] Ein Teil dieser Katholik:innen ist in den „ausländischen Missionen“ (muttersprachlichen Gemeinden) beheimatet, wobei der größte Anteil auf italienische Missionen entfällt. Allein im Bistum Basel bestehen 52 ausländische Missionen. Die Pilotstudie bemerkt zurecht, dass „gewisse strukturelle Merkmale“ der fremdsprachigen Missionen „das Potential für sexuellen Missbrauch tendenziell erhöhen, das Sprechen über denselben verhindern sowie Sanktionierung und Prävention erschweren“ (S. 48). Bedauerlicherweise hatten die Autor:innen der Pilotstudie kaum Zugang zu Betroffenen aus diesen Missionen oder zu entsprechendem Archivmaterial. Ähnliches gilt für die zahlreichen in der Schweiz aktiven Neuen Geistlichen Gemeinschaften und Bewegungen (NGGB).[7] Dieses Forschungsdesiderat soll in der bereits vereinbarten Nachfolgestudie bearbeitet werden.
Sehr vorsichtig und nur hypothetisch möchte ich an dieser Stelle weitere Eindrücke benennen, die Fragestellungen für künftige, vergleichende Untersuchungen darstellen könnten: Selbstverständlich sind auch in der Schweizer Pilotstudie Klerikalismus und Ko-Klerikalismus deutlich wahrnehmbar. Im Vergleich beispielsweise zu deutschen Diözesen scheinen diese Phänomene bei der Missbrauchsanbahnung jedoch etwas weniger gewichtig zu sein; beim nachsichtigen Umgang mit Tätern stellen sie einen systemischen Faktor dar. Immer wieder fällt jedoch die starke soziale Kohäsion auf, die die Aufklärung und Anzeige von sexuellem Missbrauch erschwert. Eine zweite Beobachtung gilt der Tabuisierung von Homosexualität, die in der Schweiz ebenfalls weniger ausgeprägt zu sein scheint. Möglicherweise spielt hier eine Rolle, dass homosexuelle Handlungen in der Schweiz ab 1942 weitgehend legal waren und damit ein anderes gesellschaftliches Umfeld existierte als in Deutschland.
Aktenlage und Quellen
Eine der Leitfragen der Pilotstudie war jene nach der Aktenlage – sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen, weshalb Täter:innen kein Interesse daran haben, Spuren ihrer Taten zu hinterlassen. Häufig sind es die Betroffenen, die mit ihrer Meldung die Produktion von Akten überhaupt erst auslösen. In der Schweiz geschieht diese Meldung in der jüngeren Vergangenheit meist bei den diözesanen „Fachgremien Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld“, die seit 2002 eingerichtet wurden, und deren Akten das Forschungsteam einsehen konnte. Wenn Meldungen bei Diözesen erfolgten, war in der Vergangenheit nicht garantiert, dass diözesane Untersuchungen stattfanden und/oder Akten sachgerecht archiviert wurden.[8]
Historiker:innen müssen dieser besonderen Quellenlage Rechnung tragen, indem sie weitere (staatliche) Archive konsultieren oder „andere“ Quellen aufspüren wie etwa Medienberichte oder in Privatarchiven überlieferte Briefe und Tagebücher. Eine weitere Strategie ist die Generierung neuer Quellen etwa durch leitfadengestützte Oral History-Interviews, Telefongespräche und die Aufnahme schriftlicher Berichte von Betroffenen und Zeitzeug:innen. Lange wurde die Auswertung solcher Ego-Dokumente in der Geschichtswissenschaft skeptisch gesehen, doch für die Forschung zu Missbrauch ist sie unerlässlich. Sie erhellt nicht nur die Taten an sich, sondern auch die damit einhergehenden Emotionen und lebenslangen Folgen für die Betroffenen. Es ist ein besonderes Verdienst der Schweizer Pilotstudie, diese Quellengattungen selbstverständlich zu integrieren und die Gespräche sensibel geführt zu haben. „Wir erhielten durchwegs positive Rückmeldungen von Betroffenen, die von empathischen und kompetenten Mitarbeitenden des Forschungsteams angehört wurden“, schreibt die IG-MikU auf ihrer Homepage.[9]
Ausgangspunkt jeder historischen Forschung zu sexuellem Missbrauch sind jedoch die Personalakten, die in Diözesanarchiven und – bei Klerikern – im bischöflichen Geheimarchiv vorhanden sind. Der Umgang mit Strafakten aus Sittlichkeitsverfahren ist kirchenrechtlich normiert: Can. 489 § 2 CIC/1983 sieht vor, dass sie nach dem Tod des Angeklagten oder zehn Jahre nach dem Urteilsspruch zu vernichten sind, wobei „ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils“ aufzubewahren ist. Bei Historiker:innen genießt diese Vorschrift aufgrund der angeordneten Vernichtung zurecht keinen guten Ruf (vgl. S. 110). Faktisch hat sie jedoch zur Folge, dass die Datengrundlage zu Missbrauchsfällen in der römisch-katholischen Kirche besser ist als in vergleichbaren Institutionen. Nach dem deutschen Bundesbeamtengesetz § 113 sind Personalakten fünf Jahre nach Abschluss aufzubewahren, um dann vernichtet zu werden; ähnliches gilt für die Schweiz. Tatsächlich haben sich glücklicherweise nicht alle Bistümer an die Norm von can. 489 § 2 gehalten: Während in Sitten bis 1995 die Akten des Geheimarchivs regelmäßig überprüft und Tatstandsberichte zu den vernichteten Akten angefertigt wurden, sind im Bistum Basel noch Akten aus den 1930er Jahren vorhanden. Im Bistum Chur, wo der heutige Bischof Bonnemain seit 1982 als (Vize-)Offizial wirkte, ist die Aktenlage ungewöhnlich dicht. Problematischer als eine Vernichtung mit Tatstandsbericht ist, dass oft überhaupt keine Akten angefertigt wurden oder sie nie vorschriftsmäßig archiviert wurden. Ausgerechnet Bischof Eugenio Corecco von Lugano, der selbst zweieinhalb Jahrzehnte kanonisches Recht in Freiburg im Üechtland gelehrt hatte, hinterließ die Anweisung, nach seinem Tod „das zu verbrennen, was sich in [den] Schubladen [des Bischofs] über die Priester befand […]“ (S. 36). Neben dem Geheimarchiv existierte also noch ein weiteres „Privatarchiv“ des Bischofs; der Umfang der vernichteten Bestände ließ sich nicht eruieren.
Aus der Geschichte können Lehren gezogen werden: Auf der Pressekonferenz teilte Bischof Joseph Bonnemain mit, dass noch vor der Veröffentlichung der Pilotstudie alle sechs Bistümer der Schweiz eine Selbstverpflichtungserklärung unterzeichnet haben, entgegen can. 489 § 2 in Zukunft keine Akten mehr zu vernichten, die sich auf sexuellen Missbrauch beziehen. Staatskirchenrechtliche Körperschaften und Orden schließen sich derzeit dieser Selbstverpflichtungserklärung an.
Öffentlichkeit und Medien
Medien übernehmen bei der Aufdeckung und Aufarbeitung von Missbrauch eine unhintergehbare Funktion. Sie verstehen sich als moralische Instanzen, die Missbrauchsfälle ans Licht bringen und immer wieder insbesondere das Handeln von kirchlichen Verantwortungsträgern kritisch beleuchten. Deshalb ist es konsequent, dass die Pilotstudie ausdrücklich die Berichterstattung in Medien als relevanten Quellenbestand nennt.
Erst durch die von Medien hergestellte Öffentlichkeit realisieren Betroffene, dass sie keineswegs „Einzelfälle“ sind. Gleichzeitig gilt, dass die Thematik des sexuellen Missbrauchs spezifischen Aufmerksamkeitskonjunkturen und -ökonomien folgt, die in jeder Organisation anders verlaufen. So wurde im deutschsprachigen Raum kaum wahrgenommen, dass in der ersten Septemberwoche 2023 die Anhörungen des Untersuchungsausschusses der französischen Nationalversammlung zu Missständen und sexueller Gewalt im französischen Spitzensport begannen.[10] Auch der Anfang September 2023 veröffentlichte Aufruf der Schweizer Abtei Hauterive, der Übergriffe eines Gastbruders gegenüber weiblichen Gästen der Abtei in den 1980er und 1990er Jahren publik macht, wurde in Deutschland kaum wahrgenommen.
Ein Beispiel soll diese Bedeutung der Medien illustrieren: In der Schweiz erschien im Vorfeld der Pilotstudie eine „Aufarbeitung in sieben Kapiteln“ zur Geschichte einer Betroffenen, die unter dem Pseudonym Denise Nussbaumer bekannt wurde.[11] Die Journalist:innen Natalia Widla und Otto Hostettler publizierten ihre Reportage in der zu Ringier und Springer gehörenden Zeitschrift „Beobachter“. Sie wurde rasch von kath.ch aufgegriffen und um weitere Hintergründe ergänzt. Denise Nussbaumer wurde als minderjährige Ministrantin in den 1990er Jahren von einem Vertretungspriester aus Nigeria missbraucht. Sie war damals zwischen 14 und 17 Jahren alt und hielt die Taten in ihrem Tagebuch fest. Nachdem sie 2018 wieder auf diese Tagebucheinträge gestoßen war, hatte sie mehrfach Kontakt mit der Anlaufstelle des Bistums Basel, doch erst als der Priester 2019 erneut Kontakt zu ihr suchte, erstattete sie eine offizielle Meldung. Die Genugtuungskommission legte eine Entschädigung von 15.000 Schweizer Franken fest. Strafrechtlich sind die Taten verjährt, doch Bischof Felix Gmür leitete die vorgeschriebene kanonische Voruntersuchung ein. Der beschuldigte Priester gab eine „beeidete Unschuldsbeteuerung“ ab; das Verdikt der Voruntersuchung über Nussbaumer lautet: „Im Rahmen der Voruntersuchung konnte nicht vollständig ausgeschlossen werden, dass es sich bei den Vorwürfen des mutmasslichen Opfers um eine Verleumdung handelt.“ Tagebucheinträge, E-Mail-Korrespondenz mit dem Bistum und ein von Denise Nussbaumer verfasster Bericht wurden bei dieser „Urteilsfindung“ nicht berücksichtigt, weil Denise Nussbaumer die Schriftstücke trotz der (nicht kirchenrechtskonformen) Aufforderung des Bistums nicht unterzeichnet hatte bzw. nicht unterzeichnen konnte – im März 2020, mitten im ersten Corona-Lockdown. Stattdessen erhielt der Priester in Nigeria vom Bistum Basel die Tagebuchauszüge Nussbaumers und sämtliche Kontaktdaten der Betroffenen – und ein striktes Betätigungsverbot im Bistum. Erst am 4. Juli 2023, mit drei Jahren Verspätung, leitete das Bistum die Ergebnisse der Voruntersuchung vorschriftsgemäß an das römische Dikasterium für die Glaubenslehre weiter. Bereits einen Tag nach dem Artikel im Beobachter räumte das Bistum in einer Stellungnahme mehrere Fehler ein, ohne eine einzige Aussage zu dementieren. Ausdrücklich ist die Rede davon, dass das „Recht der betroffenen Person auf einen würdigen Umgang und ein kirchenrechtlich konformes Verfahren“ nicht gewahrt wurde.[12] Ohne Öffentlichkeit wäre es nie zu diesem Eingeständnis gekommen.
Denise Nussbaumers Geschichte, das zeigt die Pilotstudie, ist auf erschreckende Weise exemplarisch für den Umgang mit Missbrauchsfällen. Immer wieder wird die Verantwortung auf Betroffene abgewälzt, wenn es darum geht, eine Voruntersuchung einzuleiten oder fortzuführen. Regelmäßig „zählt Priesterwort mehr“, insbesondere dann, wenn die Betroffenen oder Zeuginnen weiblich sind. Und immer wieder unterbleibt die seit 2001 durch das Motu proprio Sacramentorum Sanctitatis Tutela vorgeschriebene Meldung von Missbrauchsfällen an die Glaubenskongregation bzw. das heutige Dikasterium für die Glaubenslehre. Die Pilotstudie selbst nennt zwei Fälle, wobei jener von Denise Nussbaumer nicht inkludiert zu sein scheint. So hatte der damalige Basler Bischof Kurt Koch einen Anfang der 2000er Jahre beschuldigten Priester weder bei der Staatsanwaltschaft gemeldet noch eine kanonische Voruntersuchung durchgeführt oder den Verdachtsfall nach Rom weitergeleitet. Auffallend ist der undurchsichtige Lebenslauf des aus Rumänien stammenden Priesters, der sich nach den ersten Vorwürfen aus dem Bistum Basel ex- und wieder in ein rumänisches Bistum inkardinieren ließ, aber weiterhin in der Schweiz seinen Wohnsitz hatte. Bischof Ivo Fürer von Sankt Gallen unterließ zur selben Zeit eine kanonische Voruntersuchung, obwohl sie explizit vom nationalen Fachgremium der SBK und jenem des Bistums St. Gallen empfohlen worden war. Er folgte allen Entlastungs- und Bagatellisierungsversuchen des Beschuldigten, während er die Aussagen der betroffenen Heimkinder und von zwei Zeuginnen durch Nach- und Rückfragen, etwa nach der Glaubwürdigkeit der beiden Frauen, zu schwächen suchte. Unter seinem Nachfolger Markus Büchel wurde der Täter zwar in ein Kloster versetzt, ist aber bis heute in der Seelsorge tätig – ohne kirchenrechtliche Voruntersuchung und ohne Verurteilung.
Die schweizweiten Dimensionen dieser Vertuschungspraxis wurden ansatzweise am 10. September sichtbar, als bekannt wurde, dass der Churer Bischof Joseph Bonnemain seit Juni 2023 gegen sechs seiner Mitbrüder (zwei Diözesanbischöfe, einen Weihbischof, einen emeritierten Weihbischof, einen damaligen Weihbischof und heute in Skandinavien wirkenden Diözesanbischof und einen ehemaligen Offizial, der später Nuntius wurde) im Auftrag des Dikasteriums für die Bischöfe eine kirchenrechtliche Voruntersuchung durchführt. Informant des Nuntius auf Grundlage von Vos estis Lux mundi (2019) war Nicolas Betticher, früher Generalvikar des Bistums Lausanne, Genf und Freiburg, heute Pfarrer in Bern.[13]
Missbrauchsfälle wurden also nicht nur vor der Öffentlichkeit verborgen, sondern auch vor den zuständigen Stellen in Rom. Die Pilotstudie dokumentiert eines von vielen möglichen Legitimationsmustern, geäußert im Brief eines Domkapitulars an einen inhaftierten Priester: „Der Fall müsste nach Kirchenrecht nach Rom berichtet werden. Wir tun das gewöhnlich nicht, damit die Priester nach Verbüssung der Strafe leichter wieder irgendwo verwendet werden können.“ (S. 86). Schon zu Beginn der 1960er Jahre war das Bistum Basel also routinemäßig mehr um seine Handlungsmöglichkeiten und den Einsatz der Priester besorgt als um den Schutz potenzieller Opfer.
Was in der Schweiz anders ist
Ich schreibe diesen Beitrag aus der Perspektive einer in Deutschland lebenden Theologin. Ich kann nicht mehr zählen, wie viele Pressekonferenzen zur Veröffentlichung von Missbrauchsstudien ich bereits verfolgt habe. Jene am 12. September 2023 war anders.[14] Neben den drei Auftraggeberinnen RKZ, SBK und KOVOS haben mit Jacques Nuoffer und Vreni Peterer auch Vertreter:innen von SAPEC und IG-MikU das Wort ergriffen. Das entspricht nicht nur der engen Zusammenarbeit von Forschenden und SAPEC/IG-MikU, sondern auch der wissenschaftlichen Entscheidung, Oral History-Interviews und vergleichbaren Quellengattungen ein großes Gewicht einzuräumen. Es wäre wünschenswert, dass die Folgestudie die entsprechenden methodischen Überlegungen ausführt und in den speziellen Kontext der historischen Missbrauchsforschung stellt – auch deshalb, weil Oral History immer noch um Anerkennung ringen muss, aber schlicht unhintergehbar ist.
Mit seinen Empfehlungen und Forderungen an die katholische Kirche in der Schweiz hat sich das Forschungsteam durchaus aus dem Fenster gelehnt. Sie reichen von der Einrichtung einer schweizweiten unabhängigen Anlaufstelle über die Aussetzung von can. 489 § 2 bis hin zur Zugänglichkeit der Archive bei Nuntiatur und Dikasterium für die Glaubenslehre (S. 113–115).
Die Spitzen von SBK, RKZ und KOVOS kannten die Studienergebnisse bereits vor der Veröffentlichung und konnten deshalb zur Pressekonferenz mit konkreten, überprüfbaren Versprechen aufwarten. Dazu gehören etwa die Schaffung einer Anlaufstelle und die bereits genannte Selbstverpflichtung, keine Akten mehr zu vernichten, aber auch die Zusage, Geschlechterverhältnisse zu verändern. Die angestrebte Kulturveränderung wird sich am Statement von Joseph Bonnemain messen müssen: „Nur eine gewaltfreie Kirche hat eine Daseinsberechtigung.“
Dr. Regina Heyder ist Theologin mit Schwerpunkt Kirchengeschichte und Dozentin des Theologisch-Pastoralen Instituts in Mainz. Sie publiziert zu Missbrauch an erwachsenen Frauen und zur Geschichte von Frauen im Christentum. Ehrenamtlich ist sie Vorsitzende der Theologischen Kommission des KDFB und Mitglied des ZdK.
Link zu ihren Publikationen
Fotografin: Ruth Lehnen.
[1] Vgl. Vanessa Bignasca/Lucas Federer/Magda Kaspar/Lorraine Odier unter Mitarbeit von Janaina Rüegg und Elia Stucki; unter Leitung von Monika Dommann und Marietta Meier, Pilotprojekt zur Geschichte sexuellen Missbrauchs im Umfeld der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz seit Mitte des 20. Jahrhunderts, Bern 2023. Alle Seitenzahlen im Text beziehen sich auf diese Studie. Sie ist abrufbar unter https://missbrauchkirchlichesumfeld.ch/schlussbericht/. Schon vor der Veröffentlichung hatten SBK, RKZ und KOVOS bekannt gegeben, dass sich an die Pilotstudie ein weiteres Forschungsprojekt (Laufzeit 2024–2026) anschließen soll, das ebenfalls an der Universität Zürich angesiedelt ist.
[2] Vgl. die Websites der beiden Organisationen: https://www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch/verein_igmiku/organisation; https://groupe-sapec.ch/.
[3] Es ist davon auszugehen, dass sich mit der Untersuchung des sexuellen Missbrauchs auch an Erwachsenen der Anteil der weiblichen Betroffenen an der Gesamtzahl der Betroffenen erhöht.
[4] Vgl. z. B. eine Urteilsbegründung des Kantonsgerichts Graubünden im Jahr 1989: „Einer der vierzehn Fälle lag so, dass das Gericht Wohlwollen gegenüber dem Angeklagten brauchte, um keine beischlafs-ähnliche Handlung, das heisst keinen homosexuellen Geschlechtsverkehr anzunehmen“ (S. 59).
[5] Vgl. das von Peter von Sury im Namen von KOVOS abgegebene Statement: „In dem Zusammenhang kommt die Studie auf einen heiklen Sachverhalt zu sprechen. Es geht um das asymmetrische Verhältnis, das seit Jahrhunderten die Beziehungen zwischen Frauen- und Männerorden kennzeichnet, aufgrund der einseitig zugeteilten amtlichen, hierarchischen und geistlichen Vollmachten, welche die Priesterweihe voraussetzen, d.h. den Männern vorbehalten sind. Das führte laut der Studie dazu, dass in dem typisch katholischen Kontext die misshandelnden Ordensfrauen ihrerseits sehr oft Opfer eines Systems waren, das geprägt war von einem überfordernden Armutsideal und von einer strikt patriarchalen Ordnung.“ (https://www.kath.ch/medienspiegel/statement-der-kovos-betreffend-den-bericht-zum-pilotprojekt-zur-geschichte-des-sexuellen-missbrauchs-im-umfeld-der-roemisch-katholischen-kirche-in-der-schweiz-seit-mitte-des-20-jahrhunderts/).
[6] Vgl. SPI, Religionszugehörigkeit und Migrationshintergrund, https://kirchenstatistik.spi-sg.ch/religionszugehoerigkeit-und-migrationshintergrund/.
[7] Vgl. S. 74f. Für das Nachbarland Frankreich sind Fälle spirituellen und sexuellen Missbrauchs in den NGGB gut dokumentiert; vgl. z. B. Céline Hoyeau, Der Verrat der Seelenführer. Macht und Missbrauch in Neuen Geistlichen Gemeinschaften, aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Nolte, hg. von Hildegund Keul. Freiburg 2023.
[8] Leimgruber, Ute, „Quod non est in actis, non est in mundo” – Über die Problematik ordnungsgemäßer Dokumentation im Fall von Missbrauch an erwachsenen Frauen in: Anja Middelbeck-Varwick/ Doris Reisinger (Hg.), Kirchliche Macht und kindliche Ohnmacht. Konturen, Kontexte und Quellen theologischer Missbrauchsforschung, Münster 2023.
[9] Vgl. https://www.ig-gegen-missbrauch-kirche.ch/verein_igmiku.
[10] Den „Schweigebruch“ hat die französische Eiskunstläuferin Sarah Abitbol (geb. 1970) vollzogen, die Anfang 2020 in ihrem Buch „Un si longue silence“ die Vergewaltigung durch ihren ehemaligen Trainer öffentlich machte.
[11] Vgl. Widla/Hofstettler, Wie Bischof Gmür einen Priester schützt, in: Beobachter vom 17. August 2023 (https://www.beobachter.ch/gesellschaft/wie-bischof-gmur-einen-priester-schutzt-620800).
[12] Vgl. https://www.bistum-basel.ch/fileadmin/user_upload/2023-08-18_Stellungnahme_Bericht_Beobachter_DE_01.pdf.
[13] Vgl. SBK, Medienmitteilung: Vorwürfe gegen Mitglieder der SBK (10.09.2023) https://www.bischoefe.ch/kirchenrechtliche-ermittlungen-zum-verdacht-auf-sexuelle-uebergriffe-und-deren-vertuschung-durch-mitglieder-der-schweizer-bischofskonferenz/)
[14] Die Pressekonferenz ist abrufbar unter https://www.youtube.com/watch?v=AUy3aBeS3tA.