Es ist nicht schwer, Sex in Zeiten der Kapitalisierung des Begehrens zu kritisieren, und auch nicht, ihm mit schönen Worten oder unschönen Verboten zu kommen. Es führt aber nicht weiter. Das meint jedenfalls Theresia Heimerl, die Tinder jenen vorstellt, die es noch nicht kennen sollten.
„Sie stand einfach eines Tages vor meiner Tür und wollte Sex“ lautet die lapidare Erklärung des männlichen Hauptcharakters Jay für seine sehr expliziten Begegnungen mit einer ihm Unbekannten im Film Intimacy aus 2001, unter Theologen gerne als gelungenes Beispiel für die Risiken und Abgründe postmoderner Sexualität zitiert. Heute bräuchte Claire nicht mehr an der Tür eines wildfremden Mannes zu läuten.
…. mittels geübter Wischbewegung.
Sie bräuchte sich mit ihm nur über Tinder zu verabreden. Tinder, eine 2012 gegründete DatingApp, macht mühsame Aufrissversuche in Bars und an anderen öffentlichen Balzplätzen obsolet. „Eine Frau für schnellen, unkomplizierten Sex zu finden, ist auf Tinder so einfach, wie sich online eine Pizza zu ordern“, fasst ein 24-Jähriger Ziel und Zweck dieser App zusammen. Geschlecht, Alter, Kurzbeschreibung und Foto und umgehend erhält man oder frau vice versa Bilder von InteressentInnen, die in buchstäblich greifbarer Nähe sind, und schon, nachdem die Auswahl mittels geübter Wischbewegung am Smartphone getroffen wurde und Tinder „It’s a match“ verkündet hat, steht einem expliziten Chat und leibhaftigen Treffen zum Zweck des erotischen Austausches von Körperflüssigkeiten (oder Handschellen oder was immer das Match ausmacht) nichts mehr im Wege.
Außer vielleicht antiquierte Vorstellungen von Romantik und Scham. Beides sind aber schlicht und einfach Kategorien, die in der Tinder-Logik nicht vorkommen. Tinder ist brutal ehrlich und tut erst gar nicht so, wie manch andere online-Dating-Agentur, als würde es den Traumprinzen fürs Leben vermitteln oder als ginge es um große Gefühle. Der Mensch ist ein homo sexualis und kommt seinen Trieben nach, also kann er das gleich auf die kommerziell einträglichste und effizienteste Art tun.
… schnörkellose Umsetzung einer Kapitalisierung des Begehrens.
Tinder ist die schnörkellose Umsetzung einer Kapitalisierung des Begehrens in enger Verwandtschaft zu dem, was die israelische Soziologin Eva Illouz als „Kapitalisierung der Gefühle“ bezeichnet. Bei Tinder hat der Kapitalismus seine romantische Maske abgenommen und verkauft genau das, was seine ontologische Grundlage ausmacht: Begierde und deren potentielle, dafür aber umgehende Befriedigung.
Unmoralisch? Nein, postmoralisch. Moral im klassisch katholischen Sinn ist für die Generation der HauptnutzerInnen von Tinder, die 18 – 24 Jährigen, ein nicht minder abstrakter Begriff als Metaphysik. Wer Sex wie Pizza bestellt, bricht nicht bewusst Normen, er oder sie steigert die Lust nicht durch das Übertreten ihres Verbotes, man konsumiert eben, wie man Pizza konsumiert, nur dass hier zwei sich auf die gleichen favorisierten Zutaten der Bestellung einigen. Angesichts der jüngst in Köln zutage getretenen Alternative jener, die kein Geld oder die entsprechende App haben und sich ohne Zustimmung einfach die Pizza nehmen, scheinen auch vorschnelle Verdikte unangebracht.
Unmoralisch? Nein, postmoralisch.
Vielleicht ist Tinder ja der notwendige Verfremdungseffekt für die Theologie, um über Sexualität in der Welt von heute, sprich 2016, nüchtern, aber nicht unengagiert nachzudenken. Die traditionelle Rede von Sünde funktioniert in der westlichen Gesellschaft bestenfalls noch als ironisches Zitat in Werbespots, ansonsten ist sie für die Generation unter 30 entweder gänzlich unverständlich oder aber für die historisch Interessierten Signum einer historischen Epoche, die glücklicherweise überwunden wurde. Nicht minder fremd ist mittlerweile jedoch die in katholischen Kreisen noch weit verbreitete Reaktion auf diese dunkle Zeit der Verbote, nämlich die Suche nach einer befreiten Erotik als Teil einer Neudefinition konfessioneller Identität und Vergangenheitsbewältigung.
Sexualität ist heute selbstverständlicher Teil des Selbst, der ebenso optimal präsentiert werden will wie alles andere, ja letztlich die Präsentation des Selbst weit über die direkte Paarungsanbahnung à la Tinder hinaus bestimmt. Sexuelle Attraktivität ist Teil des eigenen Marktwertes – und sich bestmöglich verkaufen zu können für die genannte Generation überlebensnotwendig, paradoxerweise gerade deshalb, weil der klassische Kapitalismus mit seinem Credo von der immer wachsenden Wirtschaft sich seinem Ende nähert: Wenn die Arbeitsplätze knapp werden und auf einen durchschnittlich bezahlten Job für Akademiker weit über 100 BewerberInnen kommen, wird der Marktwert zur Überlebensfrage und sexuelle Attraktivität zum integralen Bestandteil dieses Marktwertes.
Das Private wird (wieder) öffentlich, weil das wirtschaftliche Überleben es erfordert.
Das Private wird (wieder) öffentlich, nicht, weil totalitäre Regime es verlangten, sondern weil das wirtschaftliche Überleben es erfordert. Warum sollte, wer von klein auf gelernt hat, sich in allen Foren der virtuellen Welt bestmöglich und möglichst sexy zu präsentieren, er dieses Weltdeutungsmodell nicht auch für die eigene Triebbefriedigung anwenden? Zumal Sex via Tinder ja all jener lästigen Nebenwirkungen wie Beziehung oder emotionale Verpflichtung, die der Arbeitssuche in der globalisierten Welt hinderlich sind, entbehrt. Sex unter den Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts ist erstens genauso ein Spiegel seiner realen und ideologischen Umwelt wie in früheren Epochen und zweitens genauso ambivalent und schwer in den Anspruch eines geglückten Lebens integrierbar wie immer.
Tinder-Sex ist in gewisser Weise endlich die Umsetzung dessen, was der (ost)deutsche Religionshistoriker Kurt Rudolph als theoretische Variante der spätantiken Gnosis ausmachte: amoralischer Libertinismus. Sexualität ist Lockmittel und Produkt dieser Welt, also kann man und frau entweder sich radikal dessen enthalten oder aber der Welt geben, was der Welt ist, ohne sich emotional in diese Welt zu verstricken. Wenn die Pizza konsumiert ist, entsorgt man den Karton und das war’s.
Den spätkapitalistischen PizzaSex zu kritisieren ist leicht, ihm schöne Worte oder unschöne Verbote entgegenzustellen ebenso.
Man muss der christlichen Theologie zu Gute halten, dass sie es sich nie ganz so einfach machen wollte und sich zumindest immer um die Integration der Sexualität in die Anthropologie bemüht hat. Die althergebrachten Strategien (Verbote, Normen) wirken seit geraumer Zeit nicht mehr, die vollständige Hereinnahme in die Zivilisation oder gar Theologie unter dem Schlagwort der freundlichen Ganzheitlichkeit scheint auch nicht zu funktionieren. Den spätkapitalistischen PizzaSex zu kritisieren ist leicht, ihm schöne Worte oder unschöne Verbote entgegenzustellen ebenso.
Was ist Sexualität, wenn sie weder Sünde noch bloßes Konsumgut sein soll?
Sexualität unter den Bedingungen, unter denen sie zur Pizzabestellung oder gar gewaltsamem Pizza-Diebstall wird, theologisch zu denken, wird bedeutend schwieriger und erfordert den Mut zum Hinschauen, zum Gespräch und zum Abschied von vorgestrigen und gestrigen Denkmustern gleichermaßen. Die Frage, was Sexualität heute sein kann, wenn sie weder per se Sünde noch bloßes Konsumgut sein soll, ist es jedenfalls wert, weitergedacht zu werden.
Aus der österreichischen Theologie und ihrem kulinarischen Umfeld kommend bleibt die berechtigte Hoffnung, dass auch Tinder-NutzerInnen irgendwann draufkommen, dass Pizza als einziges Nahrungsmittel auf Dauer ziemlich fad schmeckt. Man kann auch mit Genuss, ja fast sündhaft gut essen.
Den Denkanstoß zu diesem Beitrag sowie das direkte Zitat lieferte ein Artikel im österreichischen Nachrichtenmagazin Profil vom 21.12.2015 http://www.profil.at/gesellschaft/love-tinder-ueber-rueckkehr-sozialdarwinismus-6173307
(Theresia Heimerl Bild: Cisco Ripac / pixelio.de)