Wie wichtig ist Seelsorgerinnen und Seelsorgern die Pflege einer geistigen Auseinandersetzung mit theologischen und weltlichen Themen der Zeit? Francesco Papagni plädiert für mehr Neugierde und eine intellektuelle Kultur in den Bistümern der Deutschschweiz.
Im Bistum Chur ist in der letzten Zeit viel über die Bischofswahl diskutiert worden. Grundsätzliche Fragen haben es gegenüber Ereignissen tendenziell schwerer, Aufmerksamkeit zu finden. Eine solche grundsätzliche Frage ist diejenige nach der intellektuellen Kultur in den Deutschschweizer Bistümern.
Nun würden viele dieses Thema als weniger wichtig einschätzen. Das wäre ein Fehler. Die katholische Kirche lebte lange in einer Welt, in der der Pfarrer zusammen mit dem Arzt und dem Lehrer zu den Gebildeten im Ort gehörte. Ein gewisser struktureller Vorteil war somit gegeben.
Rund die Hälfte der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter verfügt über Tertiärbildung.
Im 21. Jahrhundert leben wir in der westlichen Welt und namentlich in Mitteleuropa in einer Wissensgesellschaft. Die Situation in den Schweizer Grossstädten sieht heute so aus, dass rund die Hälfte der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter über Tertiärbildung verfügt. Tertiärbildung meint Hochschulabschluss oder Abschluss einer höheren Fachschule. Das kirchliche Personal verfügt fast durchwegs über Tertiärbildung. Wissensgesellschaft heisst aber mehr als Abschlüsse, es heisst, dass Wissen zur zentralen gesellschaftlichen und kulturellen Ressource geworden ist.
Intellektuelle Trägheit in den Bistümern der Deutschschweiz
Ich persönlich habe den Eindruck, dass in der katholischen Kirche der Deutschschweiz Selbstgenügsamkeit herrscht: man hat mal ein Theologie- oder Religionspädagogikstudium abgeschlossen und ist damit qualifiziert. Dazu eine kleine Anekdote: Vor Jahren sassen im Seminar St. Beat/Luzern zwei Theologiestudenten und ein Freund von mir zusammen. Das Tischgespräch kam auf theologische Themen und mein Freund empfahl den beiden ein Buch zum Thema. Die Studenten sahen sich an, sahen ihn an und entgegneten: „Wieso sollen wir dieses Buch lesen? Wir gehen in den kirchlichen Dienst.“
Vielerorts herrscht intellektuelle Trägheit.
Ich will in diesem Artikel die These aufstellen, dass die Haltung, die hier an den Tag kommt, kein Einzelfall ist. Vielerorts herrscht intellektuelle Trägheit, das merkt man an vielen Predigten und generell im kirchlichen Milieu. Wie kann aber die Kirche für urbane Menschen attraktiv bleiben oder wieder werden, wenn diese Kultur der Selbstgenügsamkeit nicht in eine der intellektuellen Neugier verwandelt wird?
Auseinandersetzung mit der komplexen Welt von heute
Nun höre ich schon den Einwand, intellektuelle Neugierde sei ja wünschbar, aber liturgische Bildung und seelsorgerliches Fingerspitzengefühl seien in der pastoralen Praxis viel wichtiger. Mein Plädoyer für eine intellektuelle Kultur in der Kirche ist ein Plädoyer für einen höheren Stellenwert von Bildung überhaupt und dazu gehören selbstverständlich musische, liturgische und spirituelle Bildung.
Es ist unerlässlich, dass das kirchliche Personal sich mit der säkularen Welt auseinandersetzt.
Wenn die Kirche in der komplexen Situation der Spätmoderne eine Rolle spielen will, ist es unerlässlich, dass sie – und das heisst ihr Personal – sich mit der säkularen Welt auseinandersetzt.
Das Volk Gottes braucht Menschen im kirchlichen Dienst, die abends ins Theater gehen, Belletristik und Sachbücher lesen und im Freundeskreis diskutieren. Das Volk Gottes braucht Menschen im kirchlichen Dienst, die neugierig auf das zeitgenössische jüdische Denken sind. Das Volk Gottes braucht Menschen im kirchlichen Dienst, die liturgiewissenschaftliche Fragen in Bezug auf die Feier des Gottesdienstes nicht als Rubrizistik abtun.
Wie soll glaubwürdig ein Gespräch mit Menschen von heute gelingen?
Damit dies nicht fromme Wünsche bleiben, ist es nötig, dass die Bischöfe das Thema Bildung bzw. Weiterbildung nicht als Auch-noch-Thema behandeln. Verbesserungen in diesem Feld können nur dann erzielt werden, wenn sie von oben gewollt und gefördert werden. Und es muss ein allgemeines Bewusstsein entstehen, dass die Auseinandersetzung mit der oftmals irritierenden säkularen Welt von einem katholischen Standpunkt aus zum kirchlichen Dienst gehört. Woher sollen denn die guten Ideen für die Predigt kommen, wenn nicht aus dieser Auseinandersetzung? Und wie soll glaubwürdig ein Gespräch mit Menschen von heute gelingen, wenn Männer und Frauen im kirchlichen Dienst zum Beispiel auf Fragen nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen nicht befriedigend eingehen können?
Eine kirchliche Kultur der Neugierde und der Selbstkritik
Die Kirche muss sich ins Verhältnis zur zeitgenössischen Welt setzen, weil sie das Evangelium in diese Welt hinein zu verkündigen hat. Und sie muss sich bewusst werden, dass sie vieles war und ist – sie war und ist auch ein Thinktank mit ihren vielen Universitäten und Akademien, mit ihren Zeitschriften, ihren Verlagen, ihren Tagungen. Aber nimmt dies hierzulande jemand wahr? Abonniert das hiesige kirchliche Personal irgendeine Fachzeitschrift? Meine Erfahrung als kirchennaher Laie lehrt: meistens nein. Und das ist nicht verwunderlich, denn das hiesige kirchliche Milieu erwartet solches nicht und lädt nicht dazu ein.
Dass eine Kultur der Neugierde entsteht…
Wenn die Kirche in der komplexen Welt der westlichen Spätmoderne ihren Ort und ihre Rolle beibehalten oder besser wiederfinden will, ist es unumgänglich, dass in ihr eine Kultur der Neugierde, der (Weiter-)Bildung und auch der Selbstkritik entsteht, sodass die Kirche als eine kompetente Stimme im Stimmengewirr unserer Gesellschaften wahrgenommen wird – eine Stimme, die auch von Nichtgläubigen gehört und geschätzt wird.
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Francesco Papagni ist momentan wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Kirchen- und Staatskirchenrecht der Universität Luzern. Er wohnt in Zürich.
Bild: Franziska Loretan-Saladin
Vom Autor auf feinschwarz.net erschienen:
Gegen den Hass: eine Auseinandersetzung mit dem Buch von Carolin Emcke