In seinem Plädoyer wider das rechnende Denken rüttelt Jan Niklas Collet auf aus einer oberflächlichen Harmonie, zu der das Prinzip des Kapitalismus die Besitzenden geführt hat. Wo bleibt die Empörung über das Leiden und das Schweigen Gottes?
Risse im eisernen Vorhang, Zusammenbruch der Sowjetunion und damit Ende des Kalten Krieges. Das Jahr 1989 hat die Weltgeschichte geprägt. Vorbei die Aufteilung der Welt in zwei Blöcke. Vorbei die latente Gefahr eines Atomkrieges. Ich bin Jahrgang 1990, trotzdem kann ich die Zukunftshoffnung dieser Zeit nachempfinden: Jetzt bricht eine goldene Zeit des Friedens an. Diese Hoffnung ist 28 Jahre nach dem Fall der Mauer enttäuscht. Die goldene Zeit des Friedens ist ausgeblieben.
Das anthropologische Grundprinzip des Kapitalismus hat Wurzeln geschlagen
Die Grundprinzipien des Kapitalismus aber haben sich seither geradezu unhinterfragt durchgesetzt. Weit davon entfernt, bloß eine ökonomische Theorie zu sein, hat das anthropologische Grundprinzip des Kapitalismus in der bundesdeutschen Gesellschaft Wurzeln geschlagen: das rechnende Denken, das grundsätzlich in Kategorien der Nützlichkeit denkt. Seine Ausdrucksform ist die Bilanz, seine Methoden sind messen und wiegen. Ob der Kapitalismus das rechnende Denken erfunden hat oder nicht, sei dahingestellt, er hat es aber zu seinem leitenden Paradigma gemacht. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gilt der Kapitalismus als alternativlos. Es gibt keine wirksame Gegenerzählung mehr. Subversiv ist das rechnende Denken also nun weithin ohne Gegenwehr dabei, auch noch die letzten Lücken luftdicht zu verschließen. Vielleicht finden sich hier und da noch Hoffnungsschimmer der Zweckfreiheit, aber selbst diese werden von der spätkapitalistischen Verwertungslogik kolonialisiert und als Zeichen ihrer Humanität umgedeutet.
Meine Generation könnte ein Liedchen davon singen, wenn sie sich dessen nur bewusst würde. Wir „Kinder der 90er“ müssen Performerinnen und Performer sein. Aufsehenerregende Praktika, Auslandsaufenthalte und Mehrsprachigkeit? Wenn du das nicht mitbringst, brauchst du dich kaum zu bewerben. Wenn wir unseren Lebenslauf performen, müssen wir schnell vorgehen. Verliere keine Zeit auf deinem Weg auf den Arbeitsmarkt. Das Bildungssystem wird immer weiter durchökonomisiert, Bildung auf Ausbildung reduziert und damit zu einer bloßen Funktion des Bruttoinlandsprodukts degradiert. Am Ende weiß niemand mehr, was er oder sie eigentlich wirklich tun will, und dann wird diese Generation eben „Generation Y“ genannt, so als handele es sich um einen sie allein betreffenden Zusammenhang. Es handelt sich aber nicht um ein Problem der Post-Wende-Generation, sondern um eine gesamtgesellschaftliche Realität. Wie sonst sollte es zu erklären sein, dass in der die politische Debatte seit September 2015 bestimmenden Migrationspolitik quer durch alle Parteien die Frage diskutiert wird, wie viele (und welche) Geflüchtete sich dieses Land überhaupt noch leisten könne? Die Argumente bewegen sich zwischen „Das Boot ist voll“ und „Das Bott ist noch nicht voll“. Handelt es sich hier etwa um eine Rechenaufgabe? Es gibt kaum wahrnehmbare Debattenbeiträge, die diesen Diskursrahmen verlassen.
apathisch gegenüber dem Leiden
In deutschen Gefängnissen arbeiten Häftlinge (Männer wie Frauen) für deutsche Industrieunternehmen und verdienen dabei weit weniger als den Mindestlohn1. Als ich bei einem Besuch einer norddeutschen JVA einen der Verantwortlichen darauf ansprach, bemühte sich dieser gar nicht erst, das schönzureden. Die Gefängnisse seien froh über jede Beschäftigung, die sie Häftlingen anbieten könnten. Große Industriekonzerne könnten die Vergütung darum fast diktieren. Man sei froh, wenn man den Lohn der Häftlinge nicht vonseiten der JVA noch aufstocken müsse – das müsse man schließlich am Ende des Tages gegenüber den SteuerzahlerInnen rechtfertigen. Das Problem ist nicht eines der technischen oder ökonomischen Möglichkeiten. Wir SteuerzahlerInnen sind not amused, wenn Straftäter staatlich subventioniert werden, und es ist uns egal, wenn Straftäterinnen unter Bedingungen arbeiten, die wir für uns selbst für unannehmbar halten. Es handelt sich um eine Krise unserer Denkweise.
Das rechnende Denken, das alles verzweckt und funktionalisiert auf seine unmittelbare Nützlichkeit hin, hat sich wie Raureif über das Weltbild großer Teile der Gesellschaft gelegt. Wenn es kalt wird und der Raureif gefriert, erstarrt die Gesellschaft. Sie wird apathisch gegenüber dem Leiden. Während in Deutschland über die Steuerung der Migrationsbewegungen diskutiert wird, wächst die Zahl der Mittelmeertoten fast nicht mehr unbemerkt an. Dabei sind die Mittelmeertoten keine Unglücksfälle, sondern einkalkulierte Kollateralschäden. Wir haben uns so sehr an das einkalkulierte Leiden der anonymisierten Anderen gewöhnt, dass wir es als Kollateralschaden hinnehmen. Nach dem angeblich friedlichen Sieg des Kapitalismus ist das goldene Zeitalter ausgeblieben – aber wir haben uns abgewöhnt, uns daran zu stören. Die Störung nützt uns nämlich nichts.
Bruch mit dem rechnenden Denken
Im Matthäusevangelium erzählt Jesus von den Vögeln des Himmels, die nicht arbeiten und doch satt werden, und den Lilien auf dem Felde, die nicht spinnen und doch prächtiger gekleidet sind als Salomo (vgl. Mt 6,26-30). Diese Worte Jesu sind nur vordergründig harmonischer Zuspruch der fürsorgenden Nähe Gottes. Tatsächlich fordern sie heute von uns den Bruch mit dem rechnenden Denken, in dem selbst das Leiden noch kalkuliert wird und die Anwesenheit Gottes einfach in Sätzen festgestellt wird, die mit der Wirklichkeit – wenn wir sie mit ehrlichen Augen sehen – nicht übereinstimmen. Die Worte Jesu legen den Finger in die Wunde. Denn wer lebt eigentlich so? „Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht: Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.“ (Mt 6,31-33)
Ist es nicht wahr, dass wir in Deutschland, in Europa, in den Kirchen, so sehr mit uns selber beschäftigt sind, dass wir die Schreie der Anderen nicht mehr hören? Es gibt diese Schreie aber. Wenn wir uns weigern, sie zu hören, nehmen wir sie billigend in Kauf. Es handelt sich nicht nur um ein moralisches Problem, sondern um unsere grundlegende Perspektive, um unseren Standort in den Verhältnissen einer von der Marktlogik beherrschten Gesellschaft. Es ist nicht damit getan, Care-Pakete zu schüren und zu Weihnachten ein Aktion-Mensch-Los zu verschenken. Wir Theologinnen und Theologen sollten es uns zur Aufgabe machen, dieses rechnende Denken zu durchbrechen und mit unserer Theologie die Brüche offenzulegen, die sich nicht hermetisch abriegeln lassen. Welche Option treffen wir? Gott ist nicht da, er schweigt. Sind wir zu feige für diesen Gedanken?
„aus Liebe zur Menschheit will ich keine Harmonie“
In seinem Roman „Die Brüder Karamsow“ lässt Fjodor Dostojewski einen der Brüder eine Geschichte über einen alten General und Gutsbesitzer erzählen. Der General, ein Hundenarr, veranstaltete gern Hunderennen. Eines Tages, erzählt Iwan Karamasow seinem Bruder Aljoscha, wirft ein Kind aus dem Gesinde des Gutsherrn einen Stein und trifft seinen Lieblingshund am Bein, woraufhin dieser hinkt. Der Gutsbesitzer ist kreativ und ersinnt eine besondere Bestrafung für den Übeltäter. Er lässt das ganze Gesinde versammeln, das Kind in die Mitte stellen und sich ausziehen. Dann befiehlt er dem Jungen davonzulaufen und hetzt die Hunde hinterher, die den Jungen vor den Augen des Gesindes inklusive der eigenen Mutter zerfleischen.2 „Wenn alle leiden sollen, um mit ihrem Leiden die ewige Harmonie zu erkaufen, was haben die Kinder damit zu tun?“, fragt Iwan seinen Bruder. „Bitte, sag‘ es mir! Es ist unbegreiflich, weshalb auch sie leiden und die Harmonie mit ihren Leiden erkaufen sollen.“ Und er beschließt, keine Harmonie zu wollen, „aus Liebe zur Menschheit will ich keine Harmonie. Lieber bleibe ich bei meinem ungerächten Leid und meinem ungestillten Zorn, mag ich auch im Unrecht sein.“3 Eine nachträglich hergestellte Gerechtigkeit lehnt Iwan Karamosow ab: Er will keinen Gott, der am Ende des Tages eine Harmonie herstellt, die das Leiden der Opfer trotzdem nicht ungeschehen macht.
Ich gestehe es unumwunden: eine solche Haltung ist mir näher als unser sorglos gesungenes Halleluja. Wer empört sich heute eigentlich noch in dieser Art über das Leiden der Menschen? Gibt es irgendwo noch einen Iwan Karamasow, der lieber nicht an Gott glauben will, um die Menschen noch lieben zu können? Die Mittelmeertoten etwa, oder die Opfer des Völkermordes in Darfur, der dort seit 2003 ohne nennenswerte Konsequenzen für Regierung und Milizen verübt wird?
In Sonntagspredigten höre ich ständig, das Entscheidende sei, dass Gott immer da ist. So etwas kann unwidersprochen nur dort gesagt werden, wo die Abwesenheit Gottes nicht mehr stört. Das ist Atheismus. Nein, das Entscheidende ist, dass Gott so entschieden schweigt. Wir aber singen unser Halleluja so laut, dass wir sein Schweigen nicht mehr hören.
Text: Jan Niklas Collet, Student der katholischen Theologie in Münster.
Bild: S. Hofschlaeger / pixelio.de