Die Aufmerksamkeit für außermenschliches Leben steigt; auch in der Theologie. Yara Körnich und Simone Paganini über den Plant Turn.
Plant Studies sind eine junge interdisziplinäre Forschungsrichtung, die inzwischen auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften auf wachsendes Interesse stößt. Entgegen einer vor allem in der westeuropäischen Gesellschaft verbreiteten anthropozentrischen Sichtweise versuchen die Plant Studies, die außermenschliche Umwelt und insbesondere die Pflanzen mit neuen Augen zu sehen und sie als Agentin wahrzunehmen.
Pflanzen und Menschen: eine Umwelt
Nicht zuletzt die moderne Naturwissenschaft betont die überlebenswichtige Rolle der Pflanzen für den Menschen. Möglicherweise beschränkt sich unsere Wahrnehmung aber gerade deshalb auf deren Bedeutung für den Menschen. Diese Grundhaltung spiegelt sich in der Regel auch in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Betrachtung wider, wo Pflanzen gerne im Kontext von mehr oder weniger realistischen Metaphern verwendet werden und meist menschliche Eigenschaften aufweisen.
Als eigenständige Akteurinnen von Erzählungen sind Pflanzen zwar schon in der Antike nicht unbekannt – die einzige Fabel in der Bibel hat sogar Pflanzen und Sträucher als Protagonistinnen (die Jotam-Fabel in Ri 9,8-15) –, doch kommen die weit seltener vor als nichtmenschliche Tiere bzw. werden gerade nicht als Handlungsträgerinnen wahrgenommen. Insofern teilen sie das Schicksal der nichtmenschlichen Tiere, die in der Literatur nur dann eine gewisse Bedeutung erlangten, wenn sie mit dem Menschen interagierten oder ihm nützlich waren.
Ein (bibel)theologischer Plant Turn?
Während sich in der Theologie seit Jahren ein Animal Turn bemerkbar macht, scheint sich die Aufmerksamkeit für die Rolle der Pflanzen und Sträucher als aktive Akteurinnen dagegen in Grenzen zu halten. Und dennoch ist dies möglicherweise ein Aspekt, der in der aktuellen (kirchen- und umweltpolitischen) Situation unserer Gesellschaft zu denken geben könnte.
Jenseits der mehr oder weniger vagen Appelle (und offiziellen Schreiben) von Lehramt und den Vertreter:innen in der theologischen Wissenschaft ist es vielleicht an der Zeit, die revolutionäre und befreiende Kraft manch eines biblischen Textes wahrzunehmen. Diese wollten in ihrer Entstehungszeit wohl nicht unbedingt ein tieferes Umweltbewusstsein einfordern, sie gestehen der außermenschlichen Natur aber so selbstverständlich eine wichtige Rolle zu, dass vor diesem Hintergrund nicht nur die offensichtliche Ausbeutung, sondern auch die banale Missachtung der Natur als problematisch angesehen werden müssen. Dies ist insofern relevant, als gerade der biblische Androzentrismus und seine gesellschaftlichen Folgen für viele der heutigen Umweltprobleme mitverantwortlich sind. Neben den Animal Studies können und sollen daher auch die Plant Studies dazu beitragen, die stark anthropozentrische Hermeneutik der Auslegungsgeschichte zu relativieren und neu auszurichten.
Es ist unbestreitbar, dass die außermenschliche Natur vor mehr als 2500 Jahren, als die meisten Schriften der Hebräischen Bibel entstanden, vom Menschen selten als freundlich wahrgenommen wurde, sondern als eine durchaus bedrohliche Welt, die „beherrscht“ werden, also „untertan“ gemacht werden musste. Die beiden Schöpfungserzählungen am Anfang der Bibel stellen – zumindest in einer oberflächlichen, aber dennoch verbreiteten und schließlich in der Tradition fest verankerten Lesart – den Menschen in die Mitte bzw. an die Spitze der Schöpfung. Wird das Verhältnis zu den nichtmenschlichen Tieren, die am gleichen Tag und aus der gleichen Materie entstanden sind, komplexer und auch durchaus differenzierter dargestellt, kommt der Stellenwert der Pflanzen kaum in den Blick.
Ein (bibel)theologischer Plant Turn!
In der biblischen Welt können Pflanzen nicht sprechen, nicht denken und haben kein Bewusstsein. Und doch sind die Beispiele, die auf eine „agency“ – also auf eine aktive Rolle und auf die Handlungsmacht – von Pflanzen hindeuten, auch in der Bibel nicht zu übersehen. Pflanzen sind zwar keine Akteurinnen in dem Sinn, dass sie eigenständig handeln würden. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um Elemente, die den Ursprung des Lebens repräsentieren und im Kontext der Erzählung nicht einfach eliminiert werden können. Pflanzen sind wesentliche Bestandteile der Erzählung, sie sind nicht austauschbar und ohne sie würden Geschichten wesentlich anders verlaufen. Und genau das ist entscheidend, um einem Element in der Erzählung das Prädikat „agency“ zu verleihen. Solche Elemente sind dann nicht mehr „Dinge“, die lediglich etwas anzeigen oder mit denen etwas geschieht, sie sind vielmehr ein unverzichtbarer Bestandteil der Erzählung, die ohne sie nicht möglich bzw. eine andere wäre. Insofern besitzen diese Elemente eine eigene Handlungsfähigkeit.
Der Begriff „agency“ impliziert aber auch ein Netzwerk von Agenten, die sich gegenseitig bedingen, in Beziehung stehen und sich beeinflussen. Die verschiedenen Handlungen sind nicht nur in einer Abfolge angeordnet, sie sind miteinander verzahnt und voneinander abhängig. In diesem Netzwerk können Pflanzen als nicht reduzierbare Faktoren beteiligt sein. In der Literaturwissenschaft stellt sich daher die Frage nach der Verflechtung von Pflanzen und anderen Akteurinnen in Texten. In diesem Sinne fragt auch die Exegese.
Kennt die Bibel eine Pflanzen-Agency?
Apokalyptische Darstellungen schildern eine überwuchernde Pflanzenwelt, die den zerstörten menschlichen Kulturraum zurückerobert. Die größte Befreiungstat Gottes für das Volk Israel – der Auszug aus der Sklaverei in Ägypten – beginnt mit einem ganz besonderen Dornbusch, der gar zur Manifestation der Gottheit selbst wird. Im Buch Jesaja (Jes 55,12) sind klatschende Bäume zu finden. Das vielleicht eindrucksvollste Beispiel für Pflanzen-Agency in der Hebräischen Bibel ist jedoch die Erzählung vom Sündenfall am Anfang des Buches Genesis.
Der Schauplatz ist zunächst ein Garten, in dem das Wasser den Pflanzen Leben gibt und die Pflanzen das Leben der Menschen ermöglichen. Die Geschichte entwickelt sich in einer Weise, die eine netzwerkartige Verbindung aller Beteiligten zeigt. Sie sind in verschiedenerlei Hinsicht voneinander abhängig. Die Handlung der Geschichte ist nur möglich, wenn alle Beteiligten ihr Rolle spielen. Besondere Bedeutung kommt dabei zwei Bäumen zu, die sogar Namen tragen: der „Baum des Lebens“ und der „Baum der Erkenntnis“. Der Name und die Position – in der Mitte des Gartens (Gen 2,9) – weisen auf die Bedeutung der beiden Pflanzen hin. Sie bringen die Frucht hervor, die der Frau zum Verhängnis wird, und werden als einzige Figuren in der Erzählung vom Sündenfall ausschließlich positiv charakterisiert. Als positiv „handelnde“ Elemente werden sie auch nicht wie die Schlange, die Frau und der Mann mit einem göttlichen Fluch belegt.
Die christliche Tradition hat diese Handlungsrolle des „Baumes des Lebens“ im Garten Eden durchaus wahrgenommen und weiterentwickelt. So meint der Dominikanerpater Jakobus de Voragine in seiner Legenda Aurea, das Holz des heilbringenden Kreuzes stamme durch eine äußerst komplizierte Verkettung von Ereignissen eben direkt vom Paradiesbaum, den sogar schon die Königin von Saba bei ihrem Besuch bei Salomo angebetet habe.
An dieser Stelle ließen sich noch weitere Beispiele anführen, um ebenso einfach wie eindrücklich die – allerdings oft verkannte – Botschaft des biblischen Textes zum Ausdruck zu bringen, die nämlich auch den Pflanzen zugesteht, Mitgestalterinnen von Welt zu sein. Eine konkrete Handlungsweise wird von den Texten nicht definiert, aber sie veranschaulichen eindrucksvoll, dass Mensch und außermenschliche Natur aufeinander bezogen und angewiesen sind. Diese Botschaft ist heute vielleicht aktueller denn je.
Yara Körnich hat zunächst ein Studium an der RWTH-Aachen Universität absolviert und macht aktuell ihr Referendariat mit den Unterrichtsfächern Biologie und katholische Religionslehre.
Simone Paganini ist – nach Stationen in Florenz, Rom, Innsbruck, Wien und München – derzeit Professor für Biblische Theologie an der RWTH-Aachen Universität.
Beitragsbild: Chris Abney, unsplash.com