Religionspädagogik und religiöse Bildung verortet Jan-Hendrik Herbst im Spannungsfeld von affirmativer Anpassung an die soziale Realität und ihrer kritischen Reflexion wie Transformation. Exemplarisch diskutiert er diese Spannung anhand der Themen „Verschwörungserzählung“ und „Verkehrserziehung“.
Wie ist der Religionsunterricht aus der Perspektive von politischer Theologie und politischer Religionspädagogik zu denken?[1] Ein frühes Substrat einer weiterhin gültigen Antwort findet sich im Synodenbeschluss „Der Religionsunterricht in der Schule“ (1974), der im hermeneutischen Kontext mit dem politisch-theologischen Grunddokument „Unsere Hoffnung“[2] steht.[3]
„Es muß […] Religionsunterricht in der Schule geben, […] weil die Schule sich nicht zufrieden geben kann mit der Anpassung des Schülers an die verwaltete Welt und weil der Religionsunterricht auf die Relativierung unberechtigter Absolutheitsansprüche angelegt ist, auf Proteste gegen Unstimmigkeiten und auf verändernde Taten.“[4]
Religionsunterricht als
Ideologie- und Gesellschaftskritik
In dem zitierten, dem sog. gesellschaftlichen Argument wird religiöse Bildung als grundlegend kritisch bestimmt und damit eine Grundannahme der Metz‘schen Theologie geteilt: Der „Zauberkreis des herrschenden Bewusstseins“ ist theologisch zu distanzieren, weil gegenwärtige „Plausibilitätsstrukturen einer Gesellschaft durchaus ‚Verblendungszusammenhänge‘ sein können“.[5] Mit dem Bezug auf die „verwaltete Welt“, einer gesellschaftskritischen Zeitdiagnose der frühen Kritischen Theorie, wird die Kritik genauer bestimmt: Religiöse Bildung sollte den Anpassungszwang von Schüler:innen an eine fordistische Gesellschaft problematisieren, die durch eine starke soziale Konformität, die Unterordnung gegenüber gesellschaftlichen Autoritäten und die Bedeutung von Pflichtwerten wie Pünktlichkeit gekennzeichnet ist. Demgegenüber werden Werte wie Kreativität, freier Meinungsaustausch und Spontanität stark gemacht, aber auch Kritikvermögen, Widerstandsfähigkeit und Nonkonformität.[6] Die Kriterien der grundlegenden Kritik werden angedeutet: Problematisch seien „unberechtigte[…] Absolutheitsansprüche“ und „Unstimmigkeiten“. Diese Formulierungen weisen darauf hin, dass im Religionsunterricht – in der Tradition theologischer Götzenkritik – sozial hergestellte Absolutheitsansprüche relativiert und dekonstruiert werden sollten, z. B. im Kontext der genannten Gesellschaftsdiagnose: Autoritarismus, Nationalismus oder Konsumismus.[7]
Die Perspektive, dass der Religionsunterricht grundlegende Ideologie- und Gesellschaftskritik leisten sollte, ist in den letzten Dekaden weniger präsent gewesen. Vielmehr seien einerseits performative, ästhetische sowie erfahrungshermeneutische Ansätze fokussiert worden und andererseits gäbe es die Tendenz zu einer Rekatechetisierung religiöser Bildung.[8] Aus international-vergleichender Perspektive lassen sich aber verschiedene Denkmodelle rekonstruieren, von denen das hier näher betrachtete kritisch-politische Denkmodell religiöse Bildung nicht auf binnenkirchliche Themen und spirituelle Fragen beschränkt. Länderübergreifend können diesbezüglich zwei Kristallisationspunkte besonders hervorgehoben werden: Erstens der angeführte Synodenbeschluss, der als „eine Art ‚Magna Charta‘ des katholischen Religionsunterrichts“ gilt:[9] Er ist Kulminationspunkt und historische Scheidewand der religionspädagogischen Entwicklungen und Debatten der 1960er und 1970er Jahre, da er grundlegende Weichenstellungen für die Zukunft legte.[10] Und er wurde – mit dem angeführten gesellschaftlichen Argument – international rezipiert, beispielsweise in Spanien und Italien sowie in Osteuropa nach dem Zerfall der Sowjetunion.[11] Ein zweites wirkmächtiges Fallbeispiel auf internationaler Ebene, das ebenfalls eine kritisch-politische Vorstellung von religiöser Bildung artikuliert, ist das Dokument ‚De iustitia in mundo‘ der römischen Bischofssynode von 1971.[12]
Allerdings ist diese Vorstellung von religiöser Bildung nicht unumstritten und es gibt ernstzunehmende Kritikpunkte an ihr.[13] Die Kritik hat dabei zumeist zwei Ansatzpunkte: Entweder sie delegitimiert die Unterscheidung „affirmativ-kritisch“ und stellt ihr andere Differenzierungen gegenüber, z.B. „professionell-ideologisch“.[14] Oder sie ergreift explizit Partei für einen affirmativen Ansatz, der die Bedeutung von gesellschaftlicher Anpassung hervorhebt und die sozialdesintegrativen Effekte von Kritik und Nonkonformismus problematisiert. Exemplarisch gehe ich nun auf eine aktuelle Kritik im zweiten Sinne ein, die eine grundlegend kritische Bildung allgemein – religiös und nicht-religiös – betrifft. Gegenüber diesen Einwänden verteidige ich im zweiten Schritt die Stichhaltigkeit kritischer Bildung in der aktuellen Weltsituation unter bestimmten Vorannahmen. Drittens zeige ich an einer historischen Debatte politischer Religionspädagogik, dass und wie die hier verhandelten Fragen auch für den Religionsunterricht relevant sind.
1. Politikwissenschaftliche Kritik eines grundlegend
kritischen (Religions-)Unterrichts
Nachdem Trump 2017 zum ersten Mal US-Präsident geworden war, gab es in der ZEIT eine Debatte darüber, wie bestimmte Bildungsvorstellungen mit dem Erfolg einer autoritären Rechten in liberalen Demokratien zusammenhängen. Dabei debattierte der in den USA lehrende Politikwissenschaftler Yascha Mounk mit dem Philosophen und Journalisten Maximilian Probst. Mounk moniert in seinem Beitrag „Rechtspopulismus: Anti. Autoritär.“[15] das Ideal einer grundlegend kritischen, einer ideologie- und gesellschaftskritischen Bildung, nach dem Motto: „Alle hinterfragen alles.“[16] Dieses sei in Deutschland besonders durch die Frankfurter Schule geprägt worden: Schulische Bildung in Deutschland sollte auf Kritik und Mündigkeit ausgerichtet werden, um Lehren aus dem Nationalsozialismus zu ziehen und einer unhinterfragten Autoritätsunterordnung vieler Menschen entgegenzuwirken.[17] Mounk problematisiert eine interessante Dialektik: Dieses Bildungsideal arbeite einer autoritären Rechten gegenwärtig nicht entgegen, sondern mache diese stark, weil sie destruktives Hinterfragen und Misstrauen voraussetze: „Wenn eine Großzahl der Bürger alles hinterfragt und schließlich nichts und niemandem mehr traut, haben Extremisten freie Bahn.“[18] Vor diesem Hintergrund wendet er sich dagegen, dass in der Schule „Fakten hinterfragt, Begriffe dekonstruiert und Grundwerte problematisiert werden.“[19] Vielmehr plädiert er für eine dezidiert affirmative „Pädagogik des Vertrauens“[20], die Loyalität gegenüber den Institutionen der liberalen Demokratie fördern solle. Der Politikwissenschaftler, der für einen inklusiven Nationalismus eintritt und Identitätspolitik ablehnt, vertritt also die These, dass Bildung heute nicht kritischer, sondern weniger kritisch, affirmativ gegenüber dem (politischen) Status quo sein sollte. Allerdings konkretisiert er nur sehr vage, was er sich genau unter einer „Pädagogik des Vertrauens“ vorstellt.[21] Einzig an der „Aufgabe der deutschen Pädagogen […], einen moderaten, freiheitsliebenden Patriotismus zu stiften“, um die „Identifikation mit dem eigenen Land“ zu stärken, veranschaulicht er seine Überlegungen.[22] Insofern es ihm um „Legitimation […] der Demokratie“ geht, scheint er es aber – in den eigentlich kritisch gemeinten Worten der Politikdidaktikerin Anja Besand – so zu sehen, dass Lehrkräfte „in ihrem Unterricht die Leistungsfähigkeit des politischen Systems […] betonen, öffentlich rechtliche Medien […] preisen und ein hohes Lied über Europa […]singen“ sollten.[23]
Die Hermeneutik des Verdachts
hinter Verschwörungserzählungen
Die Stärke von Mounks Argumentation liegt in der Problemdiagnose: Der eingangs skizzierte Vertrauensverlust in demokratische Institutionen und Medien existiert und ist für Deutschland empirisch gut belegt: In den letzten drei Jahren nahm die Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform und das Vertrauen in die demokratischen Institutionen tatsächlich ab.[24] Und wenn Mounk nun einen Zusammenhang zwischen dem Vertrauensverlust, einer Zunahme an Verschwörungserzählungen und einer grundlegenden Gesellschaftskritik herstellt, ist das durchaus plausibel – wie ich an einem Beispiel aus dem aktuellen Trump-Wahlkampf erläutern möchte: Die republikanische US-Politikerin Marjorie Taylor Greene machte die Demokratische Partei für den Hurricane „Helene“ verantwortlich. Die Demokraten, so Greene, hätten den Hurricane durch Wettermanipulation gezielt verursacht, um die Bürger:innen in den betroffenen Gegenden, die vermeintlich vorwiegend republikanisch wählten, am Wählen zu behindern.[25] Für eine Person, die den demokratischen Institutionen und Wissenschaften vertraut, ist diese Behauptung Ausdruck eines absurden Realitätsverlusts, u. a. weil Faktenchecks durch Expert:innen ergeben, dass die geotechnische Verursachung von Hurricanes nicht möglich ist. Allerdings erwähnen diese Expert:innen auch, dass mittlerweile Technologien wie „Cloud Seeding“ existieren, um es regnen bzw. schneien zu lassen. Nun ist es so, dass die allermeisten Menschen sich kein völlig eigenständiges Urteil darüber bilden können, ob a) eine solche Wettermanipulation wirklich möglich ist und b) einer politischen Partei ein solches Handeln zuzutrauen ist. Sie müssen Vermittlungsinstanzen vertrauen, z.B. Medien bzw. Expert:innen. Wenn aber ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber solchen Instanzen besteht, kann Greenes Argumentationsstrategie effektiv wirken.
Darüber hinaus besitzen Verschwörungserzählungen und grundlegende Kritik in der sozialkonstruktivistischen Tradition einige Strukturparallelen.[26] Beispielsweise basieren beide auf einer Hermeneutik des Verdachts gegenüber der ‚Oberfläche‘ sozialer Plausibilitätsstrukturen: Die Devise lautet: „Nichts ist wie es scheint“.[27] Diese Zusammenhänge analysierte Bruno Latour bereits Anfang der 2000er Jahre – und zwar in einer Art Selbstkritik, da er sich explizit als Vertreter grundlegender Kritik positioniert:
“Maybe I am taking conspiracy theories too seriously, but it worries me to detect, in those mad mixtures of knee-jerk disbelief, punctilious demands for proofs, and free use of powerful explanation from the social neverland many of the weapons of social critique. Of course conspiracy theories are an absurd deformation of our own arguments, but, like weapons smuggled through a fuzzy border to the wrong party, these are our weapons nonetheless. In spite of all the deformations, it is easy to recognize, still burnt in the steel, our trademark: Made in Criticalland.”[28]
Latours Diagnose lässt sich an Greenes Verschwörungserzählung veranschaulichen, die sich in einer bestimmten Hinsicht als Radikalisierung sozialkonstruktivistischer Gesellschaftskritik im Sinne Latours verstehen lässt, welche Kritische Theorie und Poststrukturalismus miteinander verbindet. Eine solche Kritik zielt darauf ab, scheinbar natürliche Verhältnisse – z.B. Geschlechter- oder Klassenverhältnisse – als sozial konstruiert und damit veränderbar zu begreifen. Allerdings gibt es eine Grenzziehung gegenüber naturwissenschaftlich bestimmten natürlichen Zusammenhängen wie dem Wetter: „Was sich nicht ändern lässt, kann man nicht kritisieren – das Wetter kann man schlecht finden, aber nicht zum Gegenstand einer sinnvollen Kritik machen.“[29] Mit Latour lässt sich Greenes Verschwörungserzählung so deuten, dass die sozialkonstruktivistische Kritik hier als politische Waffe radikalisiert wird, um Wahlkampf zu betreiben. Und das ist nur konsequent, weil auch die sozialkonstruktivistische Kritik die Grenzziehung zwischen Kultur und Natur als sozial konstruiert begreift und Greene diese Grenzziehung – im Hinblick auf ‚Cloud Seeding‘ sogar ein Stückweit naturwissenschaftlich gedeckt – weiter verschiebt. Was folgt jetzt aber aus dieser Beobachtung?
Pädagogik der Kritik versus
Pädagogik des Vertrauens?
Bei einer genauen Lektüre von Mounks Text fällt auf, dass seine klare Gegenüberstellung einer „Pädagogik der Kritik“ und einer „Pädagogik des Vertrauens“ rhetorischer Natur ist, weil auch Mounk das Einüben von Kritik nicht aus dem Lehrplan streichen möchte. An vereinzelten Stellen wird das deutlich, wenn er schreibt: „Eine demokratische Gesellschaft kann und darf in der Schule nicht Gehirnwäsche betreiben – oder Schüler gar zu blindem Gehorsam anstiften.“[30] Auch schreibt er, dass „die junge Generation zu mündigen Bürgern zu erziehen“ wäre, die selbständig denken und den demokratischen Prozess „kritisch begleiten“ können.[31] Vor diesem Hintergrund spricht er sogar mit John Stuart Mill davon, dass „Denkfähigkeit und Loyalität nicht miteinander in Konflikt stehen“ müssen, wenn „die kritische[] Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlichen Konsens“ einer bestimmten Zeit es den Einzelnen erlaube, „ihre eigenen Annahmen und Wertschätzungen auf eine solidere Basis zu setzen.“[32]
Damit wirft Mounk aber eigentlich die Frage auf, wie das Verhältnis von Kritik, Nonkonformität und Widerstand einerseits und Anpassung, Einfügung und Unterordnung andererseits zu bestimmen sowie beide Seiten zu gewichten sind. Diese Frage behandelt aber auch grundlegend kritische Bildung in der Tradition von Adorno und Metz – wie nun gezeigt wird. Und sie leugnet nicht, dass eine solche Verhältnisbestimmung nötig ist, sie nimmt nur eine andere als Mounk vor.
2. Verteidigung des Ansatzes eines grundlegend kritischen Religionsunterrichts
Theodor W. Adornos Denken ist ein zentraler Bezugspunkt für Johann Baptist Metz‘ Theologie, für einen grundlegend kritischen (Religions-)Unterricht und für Mounks Kritik, sodass sich die folgende Verteidigung exemplarisch auf Adornos Ansatz bezieht. Dazu wird erläutert, was unter einem grundlegend kritischen Ansatz zu verstehen ist und inwiefern dieser – im Horizont empirischer Sozialforschung – gegenüber Mounks Entwurf zu bevorzugen ist. Dabei ist erst einmal zu analysieren, wie der demokratische Vertrauensverlaust empirisch erklärt wird. Mounk – immerhin ein Politikwissenschaftler, der eine empirieferne und „wohlwollende Armsesselpädagogik“[33] problematisiert – analysiert diesen Zusammenhang überhaupt nicht und setzt einfach voraus, dass eine „Pädagogik des Vertrauens“ auch Vertrauen bewirke, es also einen unmittelbaren pädagogischen Zusammenhang zwischen Intention und Wirkung gibt. Diese Annahme zeugt von erziehungshistorischer und empirischer Unkenntnis.[34]
Erziehungsideal
der mündigen Menschen
Um Adornos Verständnis einer kritischen Bildung in Abgrenzung zu Mounk zu erläutern, eignet sich eine Passage aus einem Gespräch von Adorno mit Hellmut Becker, das mit „Erziehung wozu?“ betiteltet ist. Diese ermöglicht es nämlich, einige Schein-Argumente Mounks zu entkräften und klarzustellen, was eine grundlegend kritische Bildung meint. Mindestens zwei Erkenntnisse gewähren Adornos Aussagen:
„eine Demokratie, die […] ihrem Begriff gemäß arbeiten soll, verlangt mündige Menschen. […] Wer innerhalb der Demokratie Erziehungsideale verficht, die gegen Mündigkeit, also gegen die selbstständige bewußte Entscheidung jedes einzelnen Menschen, gerichtet sind, der ist antidemokratisch, auch wenn er seine Wunschvorstellungen im formalen Rahmen der Demokratie propagiert. Die Tendenzen, von außen her Ideale zu präsentieren, die nicht aus dem mündigen Bewußtsein selber entspringen, oder besser vielleicht: vor ihm sich ausweisen, diese Tendenzen sind stets noch kollektivistisch-reaktionär. […]. Mündigkeit bedeutet in gewisser Weise soviel wie Bewußtmachung, Rationalität. Rationalität ist aber immer wesentlich auch Realitätsprüfung, und diese involviert regelmäßig ein Moment der Anpassung. Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn sie dabei stehen bleibt und nichts anderes als ‚well adjusted people‘ produziert, wodurch sich der bestehende Zustand, und zwar gerade in seinem Schlechten, erst recht durchsetzt.“[35]
Mündigkeit und Kritikfähigkeit
- Mounks „Pädagogik des Vertrauens“ will die Zustimmung zu demokratischen Institutionen stärken und zwar – so muss ergänzt werden –, unabhängig von den Erfahrungen, Überzeugungen und Entscheidungen der Einzelnen. Mit Adorno tritt hier ein deutlicher Selbstwiderspruch zutage: Eine Pädagogik, die unmittelbar auf demokratische Zustimmung zielt, wird selbstwidersprüchlich, weil ihre Form autoritär („kollektivistisch-reaktionär“) und nicht demokratisch ist: Sie präsentiert „von außen her Ideale […], die nicht aus dem mündigen Bewußtsein selber entspringen“ – wie es in der zitierten Passage heißt. Mit der Politikdidaktikerin Sabine Achour, die in der aktuellen Bielefelder „Mitte-Studie“[36] pädagogische Konsequenzen aus dem demokratischen Vertrauensverlust – ohne expliziten Bezug zu Adorno oder Mounk – diskutiert, lässt sich diese Auffassung problematisieren: Ihre These ist, dass eine „Pädagogik des Vertrauens“ nichtintendierte Nebeneffekte besitzt, die sie als eine zweifelhafte, wenig zielführende und reflexhaften Reaktion der Politik ausweisen würden. Eine extremismuspräventive und affirmative Pädagogik adressiere Jugendliche als „Objekte staatlicher Maßnahmen“ und als potenzielle Gefährder:innen, ohne den Effekt der selbsterfüllenden Prophezeiung zu berücksichtigen.[37] Diese könne wirken, weil eine „Pädagogik des Vertrauens“ eine formale „Anschlussfähigkeit für autoritäre und fundamentalistische Politikangebote“ besitze und politische bzw. soziale Herausforderungen individualisiere – oder gar ausblende. Unterricht müsse diese jedoch – etwa „soziale Ungleichheiten, […] Teilhabebarrieren, schlechte Ausstattungen in Schulen und Jugendarbeit“[38] auch auf einer strukturellen Ebene thematisieren und bearbeiten.
Achours Problematisierung lässt sich auch im Horizont der „Leipziger Autoritarismusstudie“ plausibilisieren, die den demokratischen Vertrauensverlust vorwiegend auf politische und nicht auf pädagogische Ursachen zurückführt: Er beruht auf dem langfristigen Fehlen von Erfahrungen der politischen Leistungsfähigkeit des demokratischen Systems und der politischen Selbstwirksamkeit durch Partizipationsmöglichkeiten (über Wahlen hinaus). Diese Erfahrungen hängen zum Teil auch mit sozialstruktureller Unterprivilegierung wie sozialer Ungleichheit oder Einsamkeit zusammen, durch die politikferne Milieus weiter vom politischen Prozess abgekoppelt werden.[39] Pädagogisch können solche Erfahrungen begleitet und bearbeitet, aber nicht gelöst werden. Eine „Pädagogik des Vertrauens“ übergeht nun aber systematisch diese Erfahrungen. Mounks Lösungsansatz muss so als wenig effektive und autoritäre Bevormundung von Menschen kritisiert werden. Allerdings bleibt seine Problemdiagnose relevant: Ist kritische Bildung nicht die noch schlechtere Alternative?
- Adorno skizziert in der zitierten Passage, was er unter einer grundlegend kritischen Bildung versteht, nämlich eine Art von subjektiver Prüfung sozialer Relevanz- und Plausibilitätsvorstellungen. Externe Ideale müssen sich vor dem individuellen Bewusstsein „ausweisen“. Seines Erachtens gibt es keinen alternativen Weg für eine Demokratie als sich in kritischen Reflexionen und Diskussionen in je neuen Kontexten und für je neue Personen immer wieder (gebrochen) als rational darzustellen. Damit geht es Adorno in der Tat darum, dass die Schüler:innen lernen, „gesellschaftliche Normen kritisch [zu] hinterfragen“, aber eben gerade nicht darum – wie Mounk es reformuliert –, diese Normen prinzipiell „negativ [zu] bewerten“.[40] Diesem Fehlschluss kann Mounk nur erliegen, weil er übersieht, dass eine grundlegend kritische Bildung – mit Adorno und Metz – u. a. in der Tradition von Kant und Marx/Freud steht: Einerseits hält Adorno mit Mündigkeit und Kritikfähigkeit an der regulativen Idee von Rationalität fest; andererseits macht sich Adorno keine Illusionen über die fundamentalen Hindernisse, Rationalität praktisch zu erreichen. Die Hindernisse werden dabei sowohl in irrationalen Strukturen der Umwelt als auch in irrationalen Verarbeitungsweisen der Subjekte gesehen. Kritikfähigkeit und Mündigkeit ließen sich dann nur darüber realisieren, dass objektive Anforderungen reflexiv bearbeitet – und nicht negiert werden. Damit geht es um das subjektive Durcharbeiten objektiver Anpassungszwänge, die Adorno weder leugnet noch prinzipiell delegitimiert. Deshalb ist subjektive Plausibilitätsprüfung bei Adorno auch nicht der absolutistische Richterspruch eines maßstablosen, souveränen und willkürlich urteilenden Subjekts. Ein solches problematisiert Adorno gerade als „der stur auf dem Eigeninteresse beharrende individuierte, sich selbst gewissermaßen als letztes Ziel betrachtende Mensch“[41]. Dieser Punkt Adornos ist in der Gegenwart – in einer „Gesellschaft der Singularitäten“[42] – viel stärker hervorzuheben als in einer durch Konformität und Homogenität gekennzeichneten fordistischen Gesellschaft der 1960er und 1970er Jahren, in die hinein Adorno spricht. Mündigkeit heißt dann auch nur „alle hinterfragen alles“[43], wenn dies ebenso bedeutet, dass die Schüler:innen als sozial situierte Personen behandelt werden, deren Prüfung von Sachverhalten gegenläufig auch eine Infragestellung der eigenen Bewertungsmaßstäbe durch die Sachverhalte und die dem Subjekt äußeren Gegebenheiten implizieren muss. Wie diese Infragestellung geschieht, lässt sich im Grunde nicht antizipieren, aber es lassen sich drei gebrochene Formen angeben, in denen diese stattfindet: Als Realität, Rationalität und leiblich-affektive Erfahrung. 1) Bildung darf nicht die Geltung des Realitätsprinzips übersehen, weshalb Bildung immer auch affirmativ sein muss: Die Einzelnen können sich überhaupt nur in den vorgegebenen Umständen orientieren und bewegen, wenn sie zur Anpassung in der Lage sind. 2) Bildung umfasst auch die gebrochene Wahrnehmung des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments – z. B. als wissenschaftliches Wissen oder überzeugende Positionen im kritischen Diskurs. 3) Und Bildung inkludiert einen reflexiven Zugang zu leiblich-affektiven Erfahrungen, die eine Grundlage von Kritik darstellen können.[44] In Realität, Rationalität und Erfahrung begegnen Subjekte bruchstückhaft unbedingten Ansprüchen, die subjektive Maßstäbe begrenzen (können). Wird Kritik in diesem Sinne verstanden, dann läuft sie nicht auf einen relativistischen Skeptizismus hinaus, wie ihn Mounk bemängelt. Kritik in diesem Sinne kennt auch Autoritäten, denen sie gegenüber loyal ist und sich gehorsam zeigt. Nur diese Autoritäten sind deutlich brüchiger und uneindeutiger als menschliche Personen – und sie können nicht vorweggenommen werden, sie müssen ihren Geltungsanspruch vielmehr performativ erweisen. Konsequente Kritik ist damit immer auch Selbstkritik, Kritik der eigenen Denkvoraussetzungen, Maßstäbe und des eigenen Subjektstandorts. Diese Annahmen passen zu den Ergebnissen empirischer Sozialforschung: „Misstrauen ist […] dann demokratiekompatibel, wenn die Misstrauenden gewissermaßen bereit sind, auch den Prämissen ihres Misstrauens selbst hinreichend zu misstrauen.“[45] Wenn Bürger:innen in diesem Verständnis kritisch sind („Critical citizens“), dann gibt es empirische Hinweise darauf, dass sie ein wichtiges Potenzial für die Demokratie darstellen.[46] So heißt es diesbezüglich:
„Seit Mitte der 1990er Jahre hat sich die empirische Sozialforschung von der Vorstellung, politische Kritik sei eine Gefahr für die Demokratie, weitgehend verabschiedet. Die Mehrzahl der heutigen Autoren interpretiert Kritik weniger als Krisenindikator oder als Bedrohung, sondern als Ressource für demokratische Weiterentwicklung und als kreatives Potenzial […]. Durch kritische Bürger würden Regierungen gezwungen, ausführlich Rechenschaft über ihre Tätigkeit abzulegen und auf die Interessen und Bedürfnisse der Bürger einzugehen, und damit zur Stärkung des Systemvertrauens und zur internen Effektivität beitragen.“[47]
Sozialwissenschaftlich lässt sich – auch im Kontext von Forschung zu pädagogischen Maßnahmen im Umgang mit Verschwörungserzählungen – die Auffassung plausibilisieren, dass eine grundlegend kritische Bildung auch heute demokratieförderlich ist, wenn sie es ermöglicht, fundamentales Misstrauen in reflektierte Kritik zu transformieren – und diese zu äußern.[48] Dazu gehört, dass
- das Realitätsprinzip anerkannt wird und Umwelterfordernisse als faktisch vorgegebener Kontext nicht geleugnet werden;
- Rationalität durch die argumentative Auseinandersetzung mit wissenschaftlichem Wissen, kritische Selbstreflexion und kontroverser Austausch mit Perspektivenwechseln gefördert wird;
- grundlegendste Werte der Demokratie (z.B. Menschenwürde, Pluralismus) nicht infragestellt bzw. sogar gestärkt werden;
- fundamentale Weltdeutungsannahmen expliziert und kritisch diskutiert werden, z. B. anthropologische, geschichtsphilosophische und sozialontologische Annahmen;
- Ordnungen fundamentaler Weltdeutungsannahmen im Hinblick auf die mit ihnen korrespondierenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse kritisch befragt werden;
- Möglichkeiten der Partizipation am demokratischen Prozess und politischen Artikulation von Kritik kennengelernt und ggf. sogar ausprobiert werden.[49]
Bildung, die an diesen sechs Merkmalen orientiert ist, lässt sich (4–6) als grundlegend kritisch bezeichnen, ohne dass sie maßstablos, relativistisch oder rein skeptizistisch wäre (1–3). Vor diesem Hintergrund stellt sich nun aber die zentrale Frage, wie es konkret gelingen kann, im Kontext einer grundlegend kritischen Bildung ein begründetes Urteil auszubilden und sich dabei in ein reflexives Verhältnis zu Umwelteinflüssen zu setzen, ohne diese zu leugnen.
3. Verkehrserziehung als Lackmustest für eine grundlegend kritische Bildung im Religionsunterricht
Theodor Filthaut ist ein heute kaum noch bekannter katholischer Pastoraltheologe und Religionspädagoge, der sich als einer der ersten systematisch dem Thema eines demokratieförderlichen Religionsunterrichts gewidmet hat. Er vertritt die These, dass der Religionsunterricht aus einem christlichen Weltdeutungshorizont und motiviert durch den Glauben die Schüler:innen zu mündigen Staatsbürger:innen erziehen und sie kritisch machen solle „gegenüber antidemokratischen Ressentiments“[50]. Sein Werk „Politische Erziehung aus dem Glauben“ (1965) gilt als früher Grundstein für einen Religionsunterricht im Horizont politischer Theologie.[51] Ein Indiz für dessen Bedeutung ist auch, dass es ins Spanische übersetzt und im spanischsprachigen Raum diskutiert wurde.[52] Filthaut kritisiert den damaligen Religionsunterricht der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre – in Übereinstimmung mit späteren Analysen[53] – als autoritär, insofern die Methoden nicht dialogisch und seine Inhalte auf die religiös legitimierte Unterordnung gegenüber religiösen und weltlichen Autoritäten ausgerichtet waren. Dies lässt sich an einem Beispiel aus einem Grundschulbuch von 1963 veranschaulichen, das Hubertus Halbfas in seiner berühmten „Fundamentalkatechetik“ anführt: „Merksatz: […] Gott will, daß wir unseren Eltern und Vorgesetzten gehorchen und ihnen Freude machen.“[54]
Kurz nachdem Filthaut diese Kritik am religionspädagogischen Obrigkeit-Untertan-Modell formulierte, verstarb er, sodass er nicht mehr auf die Problematisierung seines Ansatzes durch den evangelischen Religionspädagogen Folkert Rickers reagieren konnte, der ein weiterer wichtiger Proponent einer politischen Religionspädagogik war. In der Gegenüberstellung von Filthauts und Rickers Position spiegelt sich nun in gewisser Weise die vorher skizzierte Auseinandersetzung darüber wider, in welchem Verhältnis Affirmation und Kritik zueinanderstehen sollten. Während Filthaut idealtypisch für eine religiös motivierte Pädagogik des demokratischen Vertrauens steht, fordert Rickers eine religiöse Bildung, die – gerade als demokratische – grundlegend kritisch sein sollte.
Anpassung an
Regeln des Zusammenlebens?
Rickers moniert, dass Filthauts Vorstellung einer religiös motivierten Demokratieerziehung letztlich unkritisch sei, weil die Schüler:innen lernen sollten, sich an die demokratischen Regeln des Zusammenlebens anzupassen, sich in diese einzuordnen.[55] Dabei werde das „demokratische System weithin identifiziert […] mit der gesellschaftlichen Realität der Bundesrepublik Deutschland“ – damit sei religiöse Bildung affirmativ gegenüber dem Status quo.[56] Rickers wirft Filthaut also vor, den Ansatz der autoritären Unterordnung nicht konsequent genug infrage zu stellen und ihn ‚nur‘ auf demokratische Autoritäten zu übertragen (z. B. Politiker:innen im Bundestag). Anders formuliert: Er unterstellt Filthaut – analog zum Adorno-Zitat (2) –, im formalen Rahmen der Demokratie antidemokratisch oder zumindest nicht eindeutig demokratisch zu sein. Als Beleg dafür führt er die Aussage Filthauts an, dass die „moderne demokratische und arbeitsteilige Massengesellschaft […] nur funktionieren [kann], wenn ihre Glieder es verstehen, sich einzuordnen und einzufügen. […] Die Einordnung in den modernen Straßenverkehr, zumal an einer Signalanlage, ist dafür ein treffliches didaktisches Anschauungsmittel.“[57] Ist diese Kritik – damals wie heute – haltbar?
Ja und Nein – lässt sich im Hinblick auf die angesprochene Verkehrserziehung antworten! Sie ist nicht haltbar, weil sich Schüler:innen selbstverständlich an die Verkehrsregeln anpassen müssen, um sich unversehrt fortzubewegen und zurechtzufinden. Die Fähigkeit, sich an die Verkehrsregeln anpassen zu können, ist ein Schritt zu ihrer Mündigkeit und Selbstständigkeit. Das „Verhalten in der Welt“ ist „nicht ohne Anpassungen an sie denkbar“[58]. Und die Realität, an die sich – auch in entwicklungspsychologischen Modellen von Piaget bis Kohlberg – anzupassen ist, ist mit Adorno immer eine Realität, in der sich irrationale und rationale Momente miteinander verschränken. Rationale Elemente sind hier etwa die Notwendigkeit von Regeln und Absprachen im Sozialen, die Menschen benötigen, um miteinander umgehen und sich aufeinander einlassen zu können. Rational sind auch vielfältige Elemente zur Gefahrenvermeidung, z.B. Vorfahrtsregeln oder Lichtzeichen. In der Anpassung an sie, im Erlernen der Regeln und ihrer Anwendung (mit dem Ziel der Gefahrenvermeidung), werden Kinder in einem Bereich gesellschaftsfähig: Sie lernen vorhandene Strukturen zu nutzen und eine Persönlichkeit zu entwickeln, die sich in Gemeinschaftsstrukturen einordnet. Um diese Orientierung zu ermöglichen, bedarf es aber Unterordnung, Anpassung und womöglich sogar Zwang.
Vekehrsunterricht nach
preußischem Vorbild?
Rickers Kritik ist – gleichzeitig! – plausibel, weil das von Filthaut angelegte Modell von Verkehrserziehung (als individueller Gefahrenvermeidung durch Regelanwendung) historisch tatsächlich dem preußischen (und nationalsozialistisch adaptierten) Obrigkeit-Untertan-Modell entspringt: Die Einzelnen – die Kleinsten – haben sich in die bestehende Verkehrsordnung einzufügen und erwerben dadurch eine Charaktererziehung.[59] An dieser Stelle überträgt Filthaut tatsächlich, trotz seiner Kritik am Religionsunterricht in diesem Modell, unbewusst ein vor- bzw. nicht-demokratisches Verständnis von Anpassung auf den Religionsunterricht. Rickers Kritik erscheint heute vermutlich so unplausibel, weil im Bereich der Verkehrserziehung immer noch vielfach diesem preußischen Modell gefolgt wird – wie aktuelle Forschung etwa mit Blick auf Lehrpläne oder die Vorstellungen von Lehrkräften zeigt.[60] Wenn es aber demokratischer Bildung nicht bereits so früh im Leben und an einem alltagspraktisch so grundlegenden Gegenstand wie der Verkehrserziehung gelingt, die soziale Welt nicht als zweite Natur, sondern als gestaltbare zu begreifen, dann besteht die Gefahr, dass Anpassung „zum Verlust der Individualität in einem gleichmachenden Konformismus“[61] führt – und Mündigkeit verunmöglicht wird. Zudem impliziert dieses Modell der Verkehrserziehung, dass politische und soziale Herausforderungen pädagogisiert und individualisiert werden, obwohl Kinder diese Probleme nicht oder nur teilweise selbst lösen können.[62] Aus diesem Grund benötigt es heute – ergänzend zu Verkehrserziehung und nicht substituierend – eine an kritischer Reflexion, Mündigkeit und Gestaltbarkeit ausgerichtete „Mobilitätsbildung“ wie sie etwa im Kontext des sog. Berliner Modells entwickelt wird.[63] Diese zeigt, dass auch die Verkehrsordnung in einer Demokratie als gestaltbarer Raum verstanden werden kann, deren Regeln nur teilweise rational sind, immer auch mit Machtverhältnissen zusammenhängen und sich verändern lassen. Rickers Kritik bleibt also aktuell, insofern auch gegenwärtig die Gefahr besteht – viele Curricula ordnen Verkehrserziehung etwa unter den Punkt religiöse Werteerziehung ein – dass Religion und Theologie (z.B. Nächstenliebe und Dekalog bei Filthaut) mindestens implizit und partiell dazu verwendet werden, eine affirmative Einfügung der Einzelnen in die Gesellschaft zu garantieren.
4. Ausblick
An dieser Stelle bleibt das Forschungsdesiderat festzuhalten, wie ein theologisch gehaltvoller Religionsunterricht das Spannungsfeld zwischen Affirmation und Kritik konkret bearbeiten kann. Dabei wäre es besonders wichtig, die in diesem Artikel fokussierte konzeptionelle Ebene der Argumentation zu verlassen, weil sich erst auf der Ebene der Unterrichtspraxis – wie auch historische Analysen verdeutlichen – das Problem der konkreten Verhältnisbestimmung von Affirmation und Kritik bearbeiten lässt. Um dieses Ziel zu erreichen, wären ein entwicklungspsychologisch fundiertes Spiralcurriculum und konkrete Unterrichtsmaterialien für den Religionsunterricht zu entwickeln, bei denen auch neuere Forschung zu Verschwörungserzählungen und Mobilitätsbildung zu berücksichtigt wäre. Mindestens drei Schritte wären hierbei zu gehen:
- Es wäre wertvoll, die reale Praxis im Religionsunterricht anhand von Curricula- und Material-Analysen sowie Lehrkräfte- und Unterrichtsforschung im Hinblick auf das Verhältnis von Affirmation und Kritik zu analysieren. Dabei wäre zu prüfen, wie jeweils das Verhältnis von Affirmation (z. B. Verkehrserziehung) und Kritik (z. B. Mobilitätsbildung) justiert wird – und ob diese Verhältnisbestimmung pädagogisch und theologisch sinnvoll ist.
- Vermutlich ist besonders unklar, wie Kritik (z. B. im Kontext der Verkehrserziehung) konkret ausbuchstabiert werden kann. Aufbauend auf dem ersten Schritt ließen sich hierzu Best-practice-Beispiele rekonstruieren, um Orientierungspunkte für ein kritisch-politisches Modell religiöser Bildung auf der Höhe der Gegenwart zu entwickeln. Ein m.E. gelungenes Unterrichtsbeispiel aus dem Bereich der Mobilitätsbildung verdeutlicht das Potenzial hierfür: „Zeitlich begrenzte Fahrverbote vor Schulen? Ein Beispiel für Mitbestimmung“[64]. Anhand einer kontroversen Situation wird hierbei niedrigschwellig und früh kritische Reflexivität und anhand einer Auseinandersetzung mit Formen politischer Aktionen (z.B. Petitionen) auch die Handlungskompetenz geschult – und somit aufzeigt, dass und wie Demokratie mit Blick auf Verkehrsregeln menschengemacht und mitgestaltbar ist.
- Unklar bleibt die Rolle von Religion und Theologie in diesem Zusammenhang.[65] Hier bieten sich zwei Zugänge an, die näher auszubuchstabieren und miteinander ins Verhältnis zu setzen wären: a) ein historisch-vergleichender Zugang, der das Verhältnis von Religion bzw. religiöser Bildung und staatlichen Ordnungen in den Blick nimmt – und zwar einerseits im Hinblick auf die Legitimation nicht-demokratischer Herrschaft sowie andererseits hinsichtlich soziomoralischer Ressourcen von Religion zur gemeinschaftlichen Gestaltung der Demokratie. b) ein politisch-theologischer Zugang: Dieser basiert auf der Annahme, dass jeder Staat immer auch eine implizite Theologie voraussetzt, eine Ordnung der Dinge, die etwa auch in Verkehrsregeln und ihrer Durchsetzung mit dem staatlichen Gewaltmonopol deutlich wird. Das Konzept theopolitischer Imagination bei William T. Cavanaugh, das neuerdings im Kontext der Demokratietheorie aufgegriffen wird, setzt etwa voraus, dass auch dem „säkularen liberalen Nationalstaat […] ein bestimmtes theopolitisches Programm zugrunde“[66] liegt, das sich im Unterricht analysieren und diskutieren ließe.
Ein zukünftiger Auftrag für politische Religionspädagogik wäre es, diese drei Punkte noch konkreter zu bearbeiten. Dazu wäre es produktiv, verschiedene aktuelle Fallbeispiele (z. B. Verschwörungserzählungen) und klassische Unterrichtsprinzipien (z. B. Verkehrserziehung) durchzuarbeiten, um das Verhältnis von Affirmation und Kritik kontextspezifisch auszubuchstabieren.
___
[1] Für Hinweise und Rückmeldungen danke ich Gregor Taxacher.
[2] Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg im Breisgau 1974, 71–112.
[3] Vgl. Jan-Hendrik Herbst, Die politische Dimension des Religionsunterrichts. Religionspädagogische Reflexionen, interdisziplinäre Impulse und praktische Perspektiven, Paderborn 2022, 224–229.
[4] Der Religionsunterricht in der Schule, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg im Breisgau 1974, 113–152, 135.
[5] Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft: Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1980, 79.
[6] Diesbezüglich findet sich die historisch wirkmächtige Deutung, dass solche postmaterialistischen Werte sich durch soziale Modernisierung und sozioökonomisches Wachstum langfristig im Zuge einer ‚stillen Revolution‘ durchsetzen. Vgl. z. B. früh: Ronald Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles Among Western Publics, New Jersey 1977.
[7] Vgl. Herbst, politische Dimension, 240–243.
[8] Vgl. z. B. Bernhard Grümme, Religionsunterricht und Politik. Bestandsaufnahme – Grundsatzüberlegungen – Perspektiven für eine politische Dimension des Religionsunterrichts. Stuttgart 2009, 63–100.
[9] Erich Feifel, Was ist der Synodenbeschluß zum Religionsunterricht nach zwanzig Jahren noch wert?, in: Münchener Theologische Zeitschrift, 47 (1996) 2, 99–114, 101. Vgl. Herbst, politische Dimension, 229.
[10] Beispielhaft genannt werden können hier die Unterscheidung von schulischem Religionsunterricht und außerschulischer Katechese und eine konvergenztheoretische Verhältnisbestimmung von Pädagogik und Theologie. Damit begründete der Synodenbeschluss fundamentale Orientierungen der (europäischen) Religionspädagogik und historische Pfadabhängigkeiten, die sich in der Präsenz des Beschlusses in aktuellen Bischofspapieren und Lehrplänen zeigt. Als aktueller Überblick eignet sich: Burkard Porzelt, Glauben korrelativ kommunizieren. Annäherungen an das religionspädagogische Korrelationsprinzip, Bad Heilbrunn 2023.
[11] Vgl. Flavio Pajer, Escuela y Religión en Europa. Un camino de cincuenta años [1960-2010]. Übersetzt von Emilio Alberich u.a., Madrid 2012, 40.
[12] Vgl. Thomas Punnapadam, Justice as spirituality. The challenge posed by the synodal document Justice in the world, Bangalore 1991, 219–226. Für internationale religionspädagogische Ansätze: Vgl. z. B. Jan-Hendrik Herbst (Hg.), Eine Summe politischer Religionspädagogik? Johannes A. van der Vens „Kritische Godsdiensdidactiek“ in vergleichender Perspektive, Paderborn 2024.
[13] Für religionspädagogische Perspektiven vgl. z. B. Herbst, politische Dimension, 95–113.
[14] Vgl. z. B. Thomas Schlag, Horizonte demokratischer Bildung. Evangelische Religionspädagogik in politischer Perspektive, Freiburg im Breisgau 2010, 63, 74 und 79–80. David Salomon, Konsens und Dissens. Von Beutelsbach nach Heppenheim?, in: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bonn 2016, 285–293, 291.
[15] Yascha Mounk, Rechtspopulismus: Anti. Autoritär, in: ZEIT, 29 (13. Juli 2017), online: https://www.zeit.de/2017/29/rechtspopulismus-bildung-neue-rechte 1. Yascha Mounk ist auch im ZEIT-Herausgeberrat; er lässt sein Amt allerdings aufgrund von Vergewaltigungsvorwürfen, die Mounk abstreitet, bis zu ihrer Klärung ruhen. Probst Beitrag folgte in der ZEIT, 30 (20. Juli 2017). Für eine weniger scharfe, aber den Grundlinien von Mounk prinzipiell folgende Kritik vgl. auch Johannes Drerup, Nicht werten? Demokratieerziehung in Zeiten des Krieges. In: PädagogikUnterricht, 42 (2022) 2/3, 4–7.
[16] Mounk, Rechtspopulismus.
[17] Für eine stärker internationale bzw. am US-Kontext ausgerichtete Kritik: Vgl. Yasha Mounk, The people vs. democracy: why our freedom is in danger and how to save it, Cambridge, Massachusetts 2018, 237–252.
[18] Mounk, Rechtspopulismus.
[19] Mounk, Rechtspopulismus.
[20] Mounk, Rechtspopulismus.
[21] Die historischen Ungenauigkeiten und Stereotype in Mounks Argumentation, die etwa kritische Pädagogik, anti-autoritäre Erziehung und „1968“ betreffen, werden hier nicht näher behandelt.
[22] Mounk, Rechtspopulismus.
[23] Anja Besand, Politische Bildung unter Druck. Zum Umgang mit Rechtspopulismus in der Institution Schule, in: APuZ, 70 (2020) 14/15, 4–9, 9. Mit seiner Auffassung widerspricht Mounk damit dem Mainstream der deutschsprachigen Politikdidaktik.
[24] Vgl. z. B. die Bielefelder Mitte-Studie von 2023 und die Leipziger Autoritarismus-Studie von 2024.
[25] Vgl. Julia Musto, NOAA issues statement to confirm it doesn’t control the weather after MTG and others spouted conspiracy theories, in: Independent (24. Oktober 2024), online: https://www.independent.co.uk/news/science/marjorie-taylor-greene-noaa-weather-lies-b2634435.html 2.
[26] Ausführlicher: Vgl. Jan-Hendrik Herbst, Ist die ideologiekritische Religionspädagogik am Ende? Die Problemorientierte Konzeption der religionspädagogischen Reformdekade um 1968 auf dem Prüfstand, in: David Käbisch/Johannes Wischmeyer (Hg.): Wind of change? „1968“ und „1989“ in der ost- und westdeutschen Religionspädagogik, Leipzig 2021, 123–140.
[27] Michael Butter, „Nichts ist wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien, Bonn 2018.
[28] Bruno Latour, Why Has Critique Run out of Steam? From Matters of Fact to Matters of Concern, in: Critical Inquiry, 30 (2004), 225–248, 230.
[29] Rahel Jaeggi/Robin Celikates, Sozialphilosophie. Eine Einführung, München 2017, 111.
[30] Mounk, Rechtspopulismus.
[31] Mounk, Rechtspopulismus.
[32] Mounk, Rechtspopulismus.
[33] Mounk, Rechtspopulismus.
[34] Mounk missachtet nämlich, dass Pädagogik ein „Technologiedefizit“ (Niklas Luhmann) besitzt und sich kontraintentionale Effekte einstellen können. Aus diesem Grund ist Erziehung mit Kant auch eine der herausforderndsten menschlichen Künste. Vgl. Axel Honneth, Erziehung und demokratische Öffentlichkeit. Ein vernachlässigtes Kapitel der politischen Philosophie, in: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 15 (2012), 429−442, 429.
[35] Theodor W. Adorno: Erziehung – wozu?, in: ders., Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt am Main 1970, 105–119, 107–109.
[36] Sabine Achour, Politische Bildung für eine (nicht) distanzierte Mitte, in: Andreas Zick et al. (Hg.), Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Bonn 2023, 355–377.
[37] Achour, Politische Bildung, 358–359.
[38] Achour, Politische Bildung, 358–359.
[39] Vgl. Oliver Decker et al. (Hg.), Vereint im Ressentiment: Autoritäre Dynamiken und rechtsextreme Einstellungen. Leipziger Autoritarismus Studie 2024, Gießen 2024, 183–184. Andreas Zick et al. (Hg.), Die distanzierte Mitte. Rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2022/23, Bonn 2023, 349–350.
[40] Mounk, Rechtspopulismus.
[41] Adorno, Erziehung – wozu?, 109.
[42] Andreas Reckwitz, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2019.
[43] Mounk, Rechtspopulismus.
[44] Vgl. z. B. Aletta Diefenbach/Veronika Zink, Perspektiven einer kritischen Emotionssoziologie, in: dies. (Hg.), Emotions- und Affektsoziologie. Berlin 2024, 351–366.
[45] Jan Batzer/Danny Michelsen, Misstrauen als ambivalente Ressource liberaler Demokratien: Perspektiven der Demokratietheorie und der politischen Bildung, in: Andreas Beelmann/Danny Michelsen (Hg.), Rechtsextremismus, Demokratiebildung, gesellschaftliche Integration. Wiesbaden 2022, 265–284.
[46] Vgl. z. B. Pippa Norris, Critical citizens. Global support for democratic government. Oxford 1999. Pippa Norris, Democratic deficit. Critical citizens revisited. Cambridge 2011. Brigitte Geißel, Kritische Bürger – Gefahr oder Ressource für die Demokratie?, Frankfurt am Main 2011.
[47] Joachim Detjen et al., Politikkompetenz – ein Modell. Schwalbach am Taunus 2012, 97.
[48] Vgl. z. B. Butter, Nichts ist, bes. 229–231. Batzer/Michelsen, Misstrauen.
[49] Vgl. z. B. Alexander Wohnig, Zum Stellenwert der politischen Aktion in der politischen Bildung, in: ders. (Hrsg.), Politische Bildung als politisches Engagement. Überzeugungen entwickeln – sich einmischen – Flagge zeigen. Frankfurt am Main 2021, 152–165.
[50] Theodor Filthaut, Politische Erziehung aus dem Glauben, in: ders. (Hg.), Politische Erziehung aus dem Glauben. Unter Mitarbeit von Franz Kamphaus, Gerhard Mücher und Wolfgang Offele, Mainz 1965, 9–34, 28.
[51] Vgl. z. B. Judith Könemann/Norbert Mette, Warum religiöse Bildung politisch sein muss – Einleitung, in: dies. (Hg.), Bildung und Gerechtigkeit. Warum religiöse Bildung politisch sein muss, Ostfildern 2013, 11–20, 14. Sinnbildlich dafür steht, dass die Festschrift für Filthaut „Die neue Gemeinde“ (Mainz 1967) von Adolf Exeler unter Mitarbeit von Walter Dirks und Johann Baptist Metz herausgegeben wurde.
[52] Teodoro Filthaut, Fe y educación cívica. Madrid 1968. Vgl. z. B. Miguel Ángel Fiorito, Pastoral, Catequesis, in: Stromata 26 (1970) 1/2, 148–153.
[53] Überblickshaft vgl. Herbst, politische Dimension, 245–247.
[54] Nach: Hubertus Halbfas, Fundamentalkatechetik. Sprache und Erfahrung im Religionsunterricht. Düsseldorf 1968, 135.
[55] Vgl. Folkert Rickers, Religion, in: Wolfgang Sander (Hg.), Politische Bildung in den Fächern der Schule. Beiträge zur politischen Bildung als Unterrichtsprinzip, Stuttgart 1985, 96–115, 98–101. Folkert Rickers, Politische Bildung im Religionsunterricht und der Kapitalismus, in: KERYKS 9, 145–172, 150–153. Die Kritik bezieht sich auf Filthaut, Politische Erziehung, 28–30.
[56] Rickers, Religion, 99.
[57] Filthaut, Politische Erziehung, 28. Differenzierter hat Filthaut sich später geäußert. Vgl. Herbst 2022, 270–272.
[58] Hellmut Becker nach Adorno, Erziehung – wozu?, 109.
[59] Vgl. Kai Nowak, Verfachlichung ohne Fach. Die Debatte um den schulischen Ort von Verkehrserziehung in (West-)Deutschland 1925–1975, in: Josefine Wähler et al., Fachunterrichtsgeschichten. Studien zur Geschichte der Praxis des Fachunterrichts, Bad Heilbrunn 2024, 115–135, 117–120. Gesine Kulcke, Medienkritik in der Kindheitspädagogik im digitalen Zeitalter, in: Horst Niesyto/Heinz Moser (Hg.), Medienkritik im digitalen Zeitalter, München 2018, 179–191, 179–181.
[60] Vgl. z. B. Gesine Bade, Lehrkräfte im Sachunterricht zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Unterschätzte Potentiale Politischer Bildung in der Grundschule. Frankfurt am Main 2024, 80, 103 und 151–152. Besonders hervorzuheben ist hier Forschung im Kontext des Projekts „Mobilitätsbildung – Entwicklung und Umsetzung von Lehr- und Lernansätzen zur Förderung des Umweltverbundes bei Kindern und Jugendlichen und der Qualifikation von (zukünftigen) Lehrkräften und Erzieherinnen“.
[61] Hellmut Becker nach Adorno, Erziehung – wozu?, 109.
[62] Vgl. z. B. Lotte Miehle/Verena Röll, Das verkehrssichere Kind gibt es nicht, in: Veloplan 23 (2023) 1, 58–62.
[63] Vgl. Jurik Stiller et al., Berliner Modell zur Mobilitätsbildung. Ein interdisziplinäres Modell. Berlin 2023, online: https://edoc.hu-berlin.de/handle/18452/27160 2.
[64] Stefan Schmid-Heher/Georg Lauss, Zeitlich begrenzte Fahrverbote vor Schulen? Ein Beispiel für politische Mitbestimmung, in: Informationen zur Politischen Bildung, 42 (2017), 63–69.
[65] Vgl. Kuratorium für Verkehrssicherheit (Hg.), Unterrichtsprinzip Verkehrserziehung – Beiträge für den Religionsunterricht und angrenzende Gebiete, Wien 1995.
[66] Stephan Tautz, Radikale Sakramentalität. William T. Cavanaughs politische Theologie der Eucharistie im Gespräch mit radikaldemokratischer Theorie der Macht, Münster 2022, 18.