Alles so schön religiös hier. Doch Pop ist nicht allein wegen seiner religiösen Referenzen aufschlussreich für die Theologie. Sechs pop-theoretische Versuche von Christian Henkel und Teresa Schweighofer.
Null – das Klischee
Die Hifi-Anlage im Musikraum des städtischen Gymnasiums strahlt den Charme der frühen 90er aus, als Jugendliche noch von Hifi-Türmen aus dem Quelle-Katalog träumten. Immerhin gibt es einen CD Spieler. Es wird Janis Joplin gegeben, dann Bob Dylan. Protestsongs. “Genau wie Jesus auch,” sagt der Musiklehrer. Als ob es bei diesem Ritual noch ausdeutende Worte gebraucht hätte. Ein Hand schnellt nach oben: “Können wir auch mal unsere Musik spielen? Was von Taylor Swift oder Justin Bieber?” “Ja klar,” lautet die Antwort – einziges Problem: Es gibt keinen Bluetooth-Lautsprecher.
Eins – Massenware
Als Andy Warhol seine seriell gemalten Campbell’s Dosen 1962 präsentiert, stellt die Galerie gegenüber die echten Suppendosen zum Sonderpreis in ihr Schaufenster und behauptet: Hier gibt’s die Suppe günstiger. Und die kann man sogar essen.
Dabei geht es gar nicht um das Echte in der Welt der Massenproduktion, sondern um das Verhältnis des Einzelnen zur Masse. Die Pop-Art versucht es über Aneignung: Ich male eine Suppendose, damit sie mir gehört. Das ist keine Kritik an der Massenproduktion. Die hat es erst möglich gemacht, Menschen mit günstiger Suppe, mit schönen Bauhaus-Möbeln (IKEA) oder guter Musik (Spotify) zu versorgen. Es bleibt aber eine Sehnsucht, trotzdem etwas Einzigartiges zu besitzen, jemand einzigartiges zu sein, als Individuum aus der Masse herauszuragen.
Zwei – Herzschmerz
Und kaum etwas ist so individuell wie das Leiden an der unerfüllten Liebe. Paradoxerweise. Denn die Vorstellung von dem, was gelungene Liebe ist, ist hochgradig normiert. Die bürgerliche Idealvorstellung – boy meets girl, Liebe, Hochzeit, Reihenhäuschen – lässt wenig Platz für andere Lebensentwürfe. Jedenfalls in der Welt des Pop.
Aber genau dazu können sich KünstlerInnen wieder in Beziehung setzen, indem sie die Bilder, die in der Popkultur omnipräsent sind – und darum nicht nur klassisch, sondern schon wieder kitschig wirken – aufbrechen und verfremden. An einem normierten Bild kann man sich schließlich auch abarbeiten.
Drei – Mischmasch
Pop bedeutet nämlich nicht nur die Produktion stereotyper Bilder, Pop bedeutet auch die Rekombination von Bildern. “Aus dem Zusammenhang gerissen und falsch zitiert” ist der Kern des popkulturellen Aneignungsprozesses. Sampling nennt man dieses Zitieren von musikalisch-kulturellen Gemeinplätzen in der Musik. Hip-Hop hat es zu einer wahren Meisterschaft gebracht, aus alten Soulplatten neue Musik zu schaffen. Unzählige Songs entstanden so aus dem berühmten Amen-Drumsolo der Winstons. Das klingt schon weit weniger abgehoben als der Diskurs über die Warhol’schen Suppendosen in den bürgerlichen Kunstzeitschriften.
Vier – Exzess
Überhaupt die Bürgerlichkeit. Was als Protest gegen die Spießigkeit der Eltern begann, ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Da hören die Kinder wieder begeistert und ironiebefreit die Stones-Platten ihrer Eltern. Der Pop frisst seinen eigenen Protest.
Freilich gibt es noch immer Ausbrüche, schon allein, weil sich Pop aus den Lebenserfahrungen derer bedient, die am Rande der Gesellschaft stehen. Wenn Kate Tempest über die Londoner working poor und die Spirale von Gewalt und Vernachlässigung dichtet, dann ist das Pop. An den Rändern, immer der Gefahr ausgesetzt, von den Selektionsmechanismen der Musik- und Kulturindustrie mundtot gemacht zu werden, aber existent. Und es ist nicht allein Sozialfolklore oder Glorifizierung, sondern die Aneignung eines Terrains. “Reclaim the streets” als Gegenmodell zur broken-window-theory.
Fünf – Berlin
Womit wir beim Raum des Pop angelangt sind. Genuin städtisch, selbst wenn HörerInnen und InterpretInnen vom platten Land kommen. In der Stadt treffen Kulturen auf engstem Raum aufeinander, schützt kein Vorgarten und Jägerzaun vor dem unbekannten Lärm, den Farben, dem Geruch des Anderen. Und gleichzeitig ist kein Raum so umkämpft und von Privatisierung bedroht. Graffiti ist ein Versuch, öffentliche und auch private Räume zu besetzen. Urban art nennen das heute findige GaleristInnen und machen den Protest eines Banksy zum gut verkäuflichen Allgemeinplatz. In solchen Vermarktungsstrategien war die Popkultur immer besonders gut.
Sechs – 16
Und Marketing braucht es, denn es wartet eine Kundschaft ohne deren Kaufkraft Pop nicht überlebt. Diese Kundschaft ist jung, oder hält sich für jung, oder ist zumindest bereit, für etwas Geld auszugeben, das Jugendlichkeit verhandelt. Pop fürchtet sich vor dem Älterwerden und erneuert sich ständig.
Bleibt die Frage, ob Pop wirklich ewige Jugend ist – bis hin zur kultivierten Infantilität. Und ob das einzig Beständige im Pop der Wandel ist. Ein Wandel, der auch vor der Stereoanlage des Musiklehrers nicht Halt macht. Denn sein Dylan-Zitat versteht heute keiner mehr.
Einhundert – eine Analysekategorie
Pop ist ein Zitatesteinbruch und manchmal auch ein Endlager für Worte, die keineN mehr treffen – egal wie sehr das Herz an der handsignierten Dylan-LP oder am verknickten Backstreet Boys Poster aus dem Kinderzimmer hängt. Aber Pop ist auch ein System zur Verarbeitung der Welt, mit einer eigenen Semantik und einem eigenen System an Verweisen. Das muss man lesen lernen. Dann erschließt sich einem ein neuer Blick auf die Welt und die Versuche des Menschen, mit der Komplexität der Gegenwart klar zu kommen.
Pop ist also Kontingenzbewältigung und damit – und nicht seiner religiösen Zitate wegen – für TheologInnen hörens- und sehenswert.
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Der Text entstand im Kontext eines Seminars zu Popkultur und Theologie an der Universität Tübingen unter Mitwirkung von Mareike Antoni, Lisa Koeder, Judith Lurweg, Linda Maier, Theresa Mayer, Raphael Schwörer und Claudia Wülbeck.
Teresa Schweighofer ist wiss. Assistenin am Lehrstuhl für Praktische Theologie/Tübingen. Christian Henkel ist wiss. Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie/Tübingen.
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