Bietet die Politik mit Trump und Co nur noch hohle Phrasen? Und was hat Kirche zu sagen, wenn nicht nur in den Köpfen, sondern auch an Staatsgrenzen Mauern errichtet werden? Christian Henkel untersucht die Rolle christlicher Politikarbeit in postfaktischen Zeiten.
Council Bluffs, eine Kleinstadt irgendwo im Mittleren Westen der USA. Einer ihrer berühmten Söhne ist der Vater des republikanischen Senators John McCain. In den republikanischen Vorwahlen im Februar hat Iowa für den evangelikalen Ted Cruz gestimmt, in Council Bluffs dagegen gewann Donald Trump. Mit deutlichem Vorsprung. Am Abend dieses 28. Septembers steht der Kandidat selbstbewusst auf der Bühne des Mid America Centers, perfekt ausgeleuchtet, und versichert sich seiner gläubigen Unterstützerinnen und Unterstützer:
Trump hält ein Schild in die Höhe, ‚Christian Conservatives for Trump‘
„Aber heute sind hier unsere ‚Christlichen Konservativen für Trump‘. Also die sind heute im Saal. Los geht’s! [Er reckt beide Daumen nach oben. Jubel, Applaus.] So wollen wir das. Das ist wunderbar.“ Trump hält ein Schild in die Höhe, ‚Christian Conservatives for Trump‘, dann folgt ein abrupter Themenwechsel: „Ich möchte euch danken. Und bevor wir beginnen, habe ich eine besondere Freundin heute hier, die ihre wunderbare Tochter an einen illegalen Einwanderer verloren hat. […] Michelle, komm bitte herauf.“ Eine Frau betritt die Bühne, der Präsidentschaftskandidat richtet ihr das Mikrofon, dann stellt er sich, gut sichtbar, mit verschränkten Armen in den Halbschatten am Bühnenrand und Michelle beginnt zu sprechen: „Danke, dass Sie heute alle für Mister Trump hergekommen sind. Hillary nannte mich ‚bedauernswert‘ und ‚unverbesserlich‘. Sie ist keine Freundin der Frauen. Das möchte ich Ihnen hier sagen. Die Obama-Clinton Politik hat den Mann freigelassen, der meine Tochter getötet hat, nachdem er an der Grenze aufgetaucht ist. Und dann, nachdem er meine Tochter umgebracht hatte, haben sie ihn wieder freigelassen. Wo ist er jetzt? Keiner weiß das. Donald Trump ist der einzige Mensch, der sich um uns gekümmert hat, als niemand sonst wollte und konnte. [Jemand aus dem Publikum ruft: „Baut eine Mauer!”] Wenn Hillary gewinnt, wie viele Mädchen werden noch sterben? Wie viele Frauen werden noch durch die Hand ihrer Politik sterben? Ich danke Ihnen allen. Ich danke Ihnen, Mister Trump.“ 1 Michelle verlässt die Bühne, sie umarmt Trump. Tosender Applaus. Eine Stimme aus dem Publikum ruft: „Baut eine Mauer!”
Eine Stimme aus dem Publikum ruft: „Baut eine Mauer!”
Wer als Theologin oder Theologee den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf verfolgt, den beschäftigen solche Szenen. Die Emotionen im Rampenlicht, die ‚Christian Conservatives for Trump‘-Schilder, die 11 Millionen Menschen, die ohne Dokumente in den Vereinigten Staaten leben und die lange Liste gescheiterter Gesetzesinitiativen zur Reform des US-Einwanderungsrechts. Und die Fragen: Wie ist die Stimmung in meiner eigenen Kirche, wie in meinem Land? Wohin wird sich der politische Diskurs um die Einwanderung in Deutschland entwickeln? Und was ist die Rolle der Kirche und der Theologie darin?
Sind das unsere einizgen Wahlmöglichkeiten: der Pathos des Privaten oder öffentlicher theologischer Blödsinn?
Man ist versucht, die alten Texte der Bischofskonferenzen wieder herauszusuchen. Strangers No Longer der US-amerikanischen und mexikanischen Bischöfe aus dem Jahr 2003 oder das Gemeinsame Wort zu Migration und Flucht von DBK und EKD von 1997. Da steht man nun mit einer Analyse der Situation, mit einem klaren Bekenntnis zu den Menschen, die auf der Flucht vor wirtschaftlicher Not und auf der Suche nach einem besseren Leben kamen, und mit konkreten Handlungsempfehlungen: Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Krankenversicherung einzugliedern und letztlich einen Weg in die Staatsbürgerschaft für die Mehrheit der undokumentiert im Land Lebenden zu eröffnen. Man fühlt sich hilflos und unweigerlich erinnert an den theologisch geschärften und deshalb schonungslosen Blick David Tracys auf die amerikanische Politik in den 1980ern: „Denken Sie an das verstörende Zeugnis, das unser gegenwärtiges amerikanisches Spektakel abgibt: Ein populäres und privatistisches Evangelium der Selbstverwirklichung trifft auf ein trügerisch ‚öffentliches‘ Evangelium der ‚Moral Majority‘. Sind das unsere einzige Wahlmöglichkeiten: der Pathos des Privaten oder mit Zwang operierender theologischer Blödsinn?“
Nicht nur mit Bibelstellen werben, sondern auch Mehrheiten organisieren.
Oder man könnte Stephen Sparrow 2 von der jesuitischen Kino Border Initiative besuchen, der in der staubigen Grenzstadt Nogales kleine Gruppen interessierter Freiwilliger, von Schulen, Vereinen und Kirchengemeinden, durch die lebensfeindliche Wüste zwischen den USA und Mexiko führt. Wer ihm begegnet, hört ein Plädoyer dafür, wie wichtig das persönliche Gespräch zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Einwanderinnen und Einwandern ist. Stephen berichtet, mit welchem Respekt seine Gäste den Frauen und Männern begegnen, die ihr Leben beim Grenzübertritt aufs Spiel setzen, um mit schlecht bezahlten, oft gefährlichen Jobs in den Vereinigten Staaten ihre Familie in Mexiko zu ernähren. Man könnte auch Jeff Lakeman in seinem klimatisierten Büro bei der US-Bischofskonferenz in Washington treffen und sich von ihm berichten lassen, wie schwierig es ist Politik zu machen, wo Abgeordnete durch die aufgeheizte Stimmung in ihren Wahlbezirken immer mehr zu Getriebenen werden. Jeff unterstreicht gern, dass es nicht nur darauf ankommt, mit den Bibelstellen zur Aufnahme und Annahme des Fremden zu werben, sondern auch klar zu zeigen, wie eine maßvolle Reform des Einwanderungsrechts Mehrheiten finden kann. Überhaupt ist aus seiner Sicht das Maßvolle, Zurückhaltende, Gräben Überbrückende eine herausragende Tugend im immer lauter werdenden politischen Betrieb.
Zurück in Deutschland könnte man in einem Berliner Büro, unweit des Regierungsviertels, mit Thomas Becker sprechen. Er kann aus seiner Beratungserfahrung beim Jesuiten Flüchtlingsdienst berichten, was es für Menschen bedeutet, keine durchsetzbaren Rechte zu haben. Letztlich scheitern viele Reformen im Alltag, etwa weil Behörden schlecht informiert sind oder die Betroffenen unentdeckt bleiben möchten. Abschließend ein Besuch in Bonn beim Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Johannes Grünberg, der als Theologe über das Selbstverständnis der Kirche als Anwältin der Schwächsten in einer immer stärker sich abschottenden Gesellschaft nachdenkt. Grünberg ist überzeugt, dass die Kirche im Einwanderungsdiskurs viel bewirken kann, mit ihren karitativen Organisationen und in den Gemeinden vor Ort. Nicht zuletzt die Erfahrung im Kontakt mit den Betroffenen macht die Kirche zu einer begehrten Gesprächspartnerin für die Politik.
Ein Appell an einen christlichen Wertekonsens wird nicht reichen.
Wer den Frauen und Männern in der Politikarbeit zuhört, stellt fest, dass das Nachdenken über die Rolle der Kirche im Einwanderungsdiskurs eine vielstimmige Antwort verlangt. Die Frage nach der Zukunft einer Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung, die Ängste und Ressentiments in der Bevölkerung, die politischen Notwendigkeiten, Entscheidungen zu treffen und Farbe zu bekennen werden nicht mit dem Deklamieren von Bibelversen oder dem Apell an einen christlichen Wertekonsens zu beantworten sein. Wäre es so einfach, David Tracy hätte Recht und wir lebten in Zeiten allseits hohler Phrasen. Es steht außer Frage, dass Theologie klar benennen muss, was ihre Grundüberzeugungen für den Umgang mit den Fremden sind. Was aus diesen Überzeugungen im Alltag erwächst – in der Basisarbeit an der US-mexikanischen Grenze, im Hintergrundgespräch mit Ministerialbeamten in Washington und Berlin oder bei der Vorbereitung einer bischöflichen Ansprache in Bonn – ist aber schwerlich aus dem akademischen Lehnstuhl zu beantworten.
Politikarbeit auch immer eine gemeinsame Suche nach dem Kompromiss, ein Mittragen schwieriger Entscheidungen…
Abgeordnete brauchen Mehrheiten, Ministerialbeamte erörtern juristische Details, Kirchengemeinden fragen, was die evangelische Gastfreundschaft mit ihrem Alltag zu tun hat. Die Anforderungen ändern sich je nach Situation. Darauf zu reagieren, sich auf die Gesprächspartnerinnen und -partner einzustellen, ihre Sprache zu treffen, sie mit christlichen Werteüberzeugungen und konkreten Forderungen zu verweben ist eine stetige bricolage-Arbeit. Diese Arbeit wird von Frauen und Männern mit unterschiedlichen beruflichen Hintergründen gemacht, von erfahrenen Juristinnen genauso wie von jungen Sozialarbeitern, von nachdenklichen Theologinnen ebenso wie von rebellischen Ordensmännern. Deshalb hat kirchliche Politikarbeit viele Gesichter, nicht allein die in offiziellen Ansprachen und bischöflichen Verlautbarungen sichtbaren. Und entgegen dem Bild, das Pressemitteilungen und Fernsehreden zeichnen, ist Politikarbeit auch immer eine gemeinsame Suche nach dem Kompromiss, dem Mittragen schwieriger Entscheidungen, bis hin zur Frage nach der Schuld angesichts der Schicksale der Betroffenen.
Politikarbeit dreht sich aber nicht allein um die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, sondern auch um die Frage, wie der gesellschaftliche Diskurs langfristig gestaltet werden kann. Kirchliches Engagement darin bedeutet zuerst, denjenigen eine Stimme zu geben, die von politischen Diskursen ausgeschlossen sind. Langfristig muss es darüber hinaus gelingen, alle Mitglieder einer Gesellschaft in ein offenes und ehrliches Gespräch miteinander zu bringen, in dem auch Ängste und Wünsche einen Platz haben. Die Rolle der Kirche ist es dann, aus ihren eigenen Sinnstiftungsressourcen heraus im gesellschaftlichen Diskurs die Frage nach dem guten und gerechten Leben wachzuhalten und Grenzen zu benennen, außerhalb derer der Diskurs lebensfeindlich wird.
Bernie Sanders hat etwas Kauziges, aber er findet klare Worte.
Bernie Sanders, inzwischen aus dem Rennen um die US-Präsidentschaft ausgeschieden, erinnert daran, wie wichtig eine aufrichtige Debatte über die Einwanderung ist und wie sehr sie die Frage nach dem Wertekonsens einer Nation berührt – die Anlehnung an Lyndon B. Johnsons ‚Great Society’ ist deutlich. Seine Ansprache unterscheidet sich im Ton gänzlich von der Donald Trumps. Zu Thanksgiving im November 2015 spricht er über seine Pläne für eine Einwanderungsreform und darüber, wie die amerikanische Gesellschaft über das Thema diskutieren könnte. Das Video ist einfach produziert, der Ton hallt, Sanders steht schlecht beleuchtet vor einer grauen Wand, im Sakko. Ein alter Mann, er hat etwas Kauziges, aber er findet klare Worte:
„Wenn wir zu dieser Zeit des Jahres zusammenkommen, um Dank zu sagen für unsere Familien, Freundinnen und Freunde, sollten wir darüber nachdenken, dass nicht alle Familien zusammen sein können und dass Millionen von Familien durch unser kaputtes Einwanderungssystem auseinandergerissen wurden. Wenn wir Dank sagen, können wir weder die Millionen aufstrebender Amerikanerinnen und Amerikaner vergessen, die weiterhin im Schatten unserer großartigen Nation leben, noch die Notwendigkeit, eine Politik zu machen, die sie zusammenführt. Als Sohn eines Einwanderers kann ich Ihnen sagen, dass ihre Geschichte, meine Geschichte, Ihrer aller Geschichte, unsere Geschichte die Geschichte Amerikas ist. […] Lassen Sie uns nicht bloß fordern, dass Einwanderinnen und Einwanderer sich integrieren. Lassen Sie uns zusammenstehen, damit das möglich wird. […] Wenn wir zusammenstehen gibt es nichts, gar nichts, überhaupt nichts, das wir nicht erreichen können.“
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Christian Henkel ist wiss. Assistent am Lehrstuhl für Dogmatik, Dogmengeschichte und Ökumenische Theologie an der Universität Tübingen und Doktorand am ICS Münster.
Bild: Christian Henkel