Imperiale Kriege, Landkonflikte, koloniale Glaubensmuster: Stefan Silber fasst zentrale Erkenntnisse seiner neuen und brandaktuellen Einführung in Postkoloniale Theologien zusammen.
Kolonialwarenläden gibt es wohl nur noch im Museum. Aber Kolonialwaren gibt es noch: Immer noch kaufen wir Kaffee und Tee, Mangos und Bananen, Baumwolle und Seide aus Ländern, die früher Kolonien waren. Diese Kontinuität ist Teil der „Kolonialität“. Mit diesem Begriff bezeichnete der peruanische Soziologe Aníbal Quijano die Fortdauer kolonialer Herrschaft im kulturellen Gedächtnis und in den politischen und wirtschaftlichen Strukturen, auch Jahrzehnte und Jahrhunderte nach der formellen Unabhängigkeit. Quijano machte diese Kolonialität insbesondere am fortbestehenden Rassismus der globalen Arbeitsteilung fest; andere Autor:innen verwiesen darüber hinaus auf die Macht der Kolonialität in den Genderbeziehungen, in der Wissenschaft und in zahlreichen anderen gesellschaftlichen Bereichen. Sie prägt außerdem nicht nur die Gegenwart der ehemaligen Kolonialgebiete, sondern auch Europas und der vielfältigen globalen Beziehungen.
Im Kolonialismus diente die Theologie der Legitimation von Eroberung, Unterwerfung und Ausbeutung
Kolonialität gibt es auch in der Theologie. Denn im Kolonialismus diente die Theologie unter anderem der Legitimation von Eroberung, Unterwerfung und Ausbeutung, indem diese zur unvermeidlichen Begleiterscheinung der Christianisierung oder sogar zu ihrer unumgänglichen Voraussetzung erklärt wurden. Umgekehrt hielt auch eurozentrisches und rassistisches Denken Einzug in viele theologische Disziplinen und prägt sie bis heute. Sigrid Rettenbacher hat dies in ihrer Dissertation überzeugend für den Bereich der Religionstheologie aufgezeigt, Simon Wiesgickl seinerseits für die Exegese[1].
Joseph Schmidlin, der Begründer der deutschsprachigen Missionswissenschaft, konnte so vor etwas über 100 Jahren formulieren: „Die Mission ist es, die unsere Kolonien geistig erobert und innerlich assimiliert […] die seelische Unterwürfigkeit und Anhänglichkeit der Eingeborenen bringt die Mission zustande.“[2]
„Post-koloniale“ Studien als immer komplexer fragende Wissenschaft der Transformationen und Kontinuitäten des „Post“-Kolonialzeitalters
Solche Haltungen prägen globale Beziehungen bis heute, sowohl auf Seiten der ehemals Kolonisierten als auch im Denken der früheren Kolonialmächte. Nach den Unabhängigkeitsprozessen in Afrika und Asien entstanden vor allem in den ehemals französischen und britischen Kolonien Wissenschaftszweige, die sich der Frage widmeten, inwiefern die Unabhängigkeit zu kulturellen Veränderungen geführt hat – und warum in vieler Hinsicht nicht. So entstanden die „post-kolonialen“ Studien, zunächst vor allem in den Geschichts- und Literaturwissenschaften, als eine immer komplexer fragende Wissenschaft der Transformationen und Kontinuitäten des „Post“-Kolonialzeitalters.[3]
Seit etwa zwanzig Jahren decken auch postkoloniale Theologien – besonders im englisch- und französischsprachigen Raum – Verwicklungen zwischen Theologie und Kolonialismus auf. Sie kritisieren gewohnte Interpretationen biblischer Texte und traditioneller Glaubensaussagen, sie verweisen auf historisches Unrecht, das durch koloniale Theologien legitimiert wurde und auf gegenwärtige Ungerechtigkeiten und Hegemonien, die ihre Wurzeln in der Theologie der Kolonialzeit besitzen. Sie zeigen, dass die theologische Kolonialität Auswirkungen in so unterschiedlichen Bereichen wie Genderbeziehungen, Landbesitz, Rassismus, Entwicklungshilfe, Kirchengeschichtsschreibung und interreligiöser Dialog nach sich zieht. Neben dem Aufdecken von kultureller und diskursiver sowie politischer und wirtschaftlicher Kolonialität in der Theologie greifen sie Prozesse des antikolonialen Widerstands bis in die Gegenwart auf und stärken theologische Alternativen auf inhaltlicher und methodischer Ebene.
„Als der weiße Mann in unser Land kam, hatte er die Bibel und wir hatten das Land. Der weiße Mann sagte zu uns: ‚Lasset uns beten.‘ Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land, und wir hatten die Bibel.“
Ein Beispiel: Musa Dube, feministische Bibelwissenschaftlerin aus Botswana, verweist mit einer kleinen Geschichte auf den engen Zusammenhang von Mission und Landraub: „Als der weiße Mann in unser Land kam, hatte er die Bibel und wir hatten das Land. Der weiße Mann sagte zu uns: ‚Lasset uns beten.‘ Nach dem Gebet hatte der weiße Mann das Land, und wir hatten die Bibel.“[4] Die Methoden des Landraubs konnten dabei sehr unterschiedlich sein und vom Vertrauens- und Vertragsbruch über die scheinbar legale Enteignung bis hin zur gewaltsamen Vertreibung und Inbesitznahme reichen. Auch Missionar:innen förderten, legitimierten oder praktizierten sogar selbst dieses Vorgehen.
Erschwerend kommt hinzu, dass es in der Vorstellungswelt vieler indigener Völker gar keinen Landbesitz im europäischen Sinn gibt. Denn dieser hängt an einer bestimmten kulturellen Vorstellung davon, was Land ist. Die westlichen Vorstellungen, man könne Land mit Grenzen durchziehen, aufteilen oder verkaufen, es zur Ware oder zu einem Rechtstitel machen, Menschen daraus vertreiben und anderswo ansiedeln, kollidieren mit unterschiedlichen indigenen Vorstellungen vom Land, in denen dieses als heilig betrachtet wird, als unveräußerliches Erbe der Vorfahren, als Familienmitglied, als Dialogpartner oder als Netz von Pilgerpfaden. Indigene Kulturen pflegen häufig ein sehr enges spirituelles Vertrauensverhältnis zu einem ganz konkreten Territorium und finden die westliche Konzeption des Landes als einer Ware oder eines Rechtstitels völlig unverständlich.
Indigene Kulturen pflegen ein sehr enges spirituelles Vertrauensverhältnis zu einem ganz konkreten Territorium
Dieses spirituelle Verhältnis der Menschen zum Land wurde von Missionar:innen in der Vergangenheit häufig als „animistisch“ verurteilt. Landraub konnte so zum zivilisatorischen Projekt stilisiert werden, und bis in die Gegenwart können solche konträren Landkonzeptionen Prozesse der Rückgabe gestohlenen Landes erschweren. Dabei ließe sich eine spirituelle Beziehung des Menschen zu seinem Land durchaus biblisch begründen, worauf der Religionswissenschaftler Ezra Chitano aus Zimbabwe hinweist: In der Erzählung von Nabots Weinberg (1 Kön 21,1-19) steht ein Konflikt im Mittelpunkt, in dem ein Bauer überzeugt ist, dass sein Erbteil nicht zur Ware gemacht und weggegeben werden kann. Der König, der dies nicht respektiert, wird vom Propheten verurteilt.[5] Die Bibel stellt also nicht nur ein Mittel der Enteignung von Land in der Vergangenheit dar, sondern wird in der Gegenwart auch als wichtiges Instrument entkolonisierender Theologie verwendet.
Abschied vom theologischen Kolonialwarenladen
Eine Theologie, die sich der eigenen Kolonialität stellt und bereit ist, die Perspektiven zu wechseln, kann sich also auch am Prozess der Entkolonisierung und Befreiung beteiligen. Dazu ist ein breiter, internationaler Lernprozess vonnöten, der ökumenische und interdisziplinäre Offenheit einschließt. Denn die Entkolonisierung der Theologie findet derzeit auf allen Kontinenten statt – und jeweils in sehr unterschiedlicher Weise. Sie bedient sich – dies ist der komplexen Herrschaftsstruktur des Kolonialismus geschuldet – vielfältiger interdisziplinärer Dialogpartnerschaften, da auch die postkolonialen Studien außerhalb der Theologie sich immer weiterentwickeln. Der Motor für diese vielfältigen Prozesse liegt außerhalb Europas. Europäische Theologien sind gut beraten, sich dieser kritischen Auseinandersetzung bald zu stellen.
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Text: Stefan Silber vertritt die Professur für Dogmatik an der Universität Vechta. Vor kurzem ist von ihm erschienen: Postkoloniale Theologien. Eine Einführung (UTB 5669), Tübingen: Narr Francke Attempto 2021
Bild: Dieter Ludwig Scharnagl auf Pixabay
[1] Vgl. Sigrid Rettenbacher, Außerhalb der Ekklesiologie keine Religionstheologie. Eine postkoloniale Theologie der Religionen (Beiträge zu einer Theologie der Religionen 15), TVZ/Zürich 2019; Simon Wiesgickl, Das Alte Testament als deutsche Kolonie: Die Neuerfindung des Alten Testaments um 1800. (Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament 214), Stuttgart: Kohlhammer 2018.
[2] Joseph Schmidlin, Die katholischen Missionen in den deutschen Schutzgebieten, Münster: Aschendorff 1913, 278. Reprint Bad Griesbach: BoD 2021.
[3] Zur Einführung in diese Geschichte: Ina Kerner, Postkoloniale Theorien. Zur Einführung, Hamburg: Junius 2012; María do Mar Castro Varela / Nikita Dhawan, Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, 3. Auflage (UTB 5362), Bielefeld: transcript 2020.
[4] Musa W. Dube, Postcolonial Feminist Interpretation of the Bible, St. Louis: Chalice Press 2000, 3.
[5] Ezra Chitano, The Bible as a Resource for Development in Africa. Ten Considerations for Liberating Readings, in: ders. / Masiiwa Ragies Gunda / Lovemore Togarasei (Hg.), Religion and Development in Africa, Bamberg: University of Bamberg Press 2020, 399-415.