Digitalisierung 4.0 prägt alle Lebensbereiche. In Religion oder Spiritualität werden die Möglichkeiten des Digitalen allerdings noch sehr vorsichtig genutzt. Das wird sich ändern, berichtet Arnd Bünker am ersten April. «Prayer 4.0» könnte eine spirituelle Revolution auslösen.
Wie beten, wenn man abends todmüde ins Bett fällt? Welcher spirituelle Anstoss passt zum Chillen auf der Couch? Welche spirituelle Übung hilft in Stressphasen oder bei der Bahnfahrt? Prayer 4.0 gibt Antworten – am ersten April.
Wie beten? … Prayer 4.0 hilft.
Pastoralsoziologie und Religionssoziologie sind eindeutig: Die Kirchen verlieren ihre spirituelle Leadership in hohem Tempo. Längst macht christliche Frömmigkeit nur noch einen kleinen Teil im spirituellen Segment der Buchhandlungen aus. Die Kundschaft ist in Fragen der Weltanschauung, der Lebenshilfe und der Transzendenzbewältigung längst flexibel geworden. Es gilt: „Der Kunde ist König“. Selbst kirchennahe Menschen gehen spirituell längst eigene Wege.
Selbst kirchennahe Menschen gehen spirituell längst eigene Wege.
In den Bistümern Basel und St. Gallen möchte man diesem Prozess der geistlichen Entfremdung nicht länger zusehen. Nach umfangreichen Vorabklärungen pastoralsoziologischer, pastoralpsychologischer und theologischer Art, wurde im Januar 2016 der Beschluss zu einer nachhaltigen Verstärkung der spirituellen Angebotsqualität gefällt. Der Projektleiter, der Kommunikationsverantwortliche des Bistums Basel, Hansruedi Huber, war zu diesem Zeitpunkt erst ein knappes Jahr im Dienst des Bistums. «Ich wollte mehr Innovation für die Kirche – vor allem im Kerngeschäft, der Spiritualität. Zwar liess das Alltagsgeschäft nicht immer so viel Raum, wie ich es mir gewünscht hätte, aber 2016 konnten wir die Bischöfe von Basel und St. Gallen gewinnen. Sie haben die Chancen erkannt und gespürt, dass sich für das Projekt ein günstiges Zeitfenster öffnete.»
Huber bezieht sich mit dieser Aussage darauf, dass sich Ende 2015 sowohl in technologischer als auch in finanzieller Hinsicht neue Handlungsoptionen ergeben hatten. Einerseits stand den Bistümern überraschend ein äusserst grosszügiges Legat zur Verfügung, so dass ein technologisch aufwendiges Projekt gestartet werden konnte. Andererseits signalisierte ein grosses Schweizer Technologieunternehmen Bereitschaft zur Unterstützung.
Finanzielle und technologische Ressourcen
Ein komplexes Projekt konnte gestartet werden: Während insbesondere im Gesundheits- und Sportbereich längst eine Vielzahl von Apps zum individuellen Gebrauch zur Verfügung steht, führen spirituelle Themen bislang noch ein Nischendasein in der digitalisierten Welt. Mit Prayer 4.0 werden nun verschiedene bestehende Anwendungen zusammengeführt und dadurch für spirituelle Dienstleistungen fruchtbar gemacht. Dabei handelt es sich einerseits um bereits erprobte Wellness-, Fitness- und Gesundheits-Apps, andererseits um andere gängige App-Dienste, z.B. Geo-Information, Wetter-Apps, Verkehrsinfos usw. Die Kombination dieser Funktionen – ihre digitale Interaktion führt zur Bezeichnung 4.0 – erlaubt schliesslich die automatische Auswahl situationsspezifischer spiritueller Angebote.
Im Unterschied zu bisherigen Spiritualitäts-Apps wie Stundenbuch-App oder Losungs-App bietet Prayer 4.0 also nicht nur eine Vielzahl von Anregungen, Texten und Impulsen. Vielmehr erkennt Prayer 4.0 individuelle spirituelle Bedürfnisse in Echtzeit, die aus persönlichen Daten der UserInnen abgeleitet werden. Prayer 4.0 erlernt dazu bei jedem User/jeder Userin individuelle Zusammenhänge psycho-physischer Befindlichkeiten und bietet daraufhin gezielte spirituelle Impulse und Übungen an. Prayer 4.0 bietet also individuelle spirituelle Begleitung auf der Grundlage jeweils userbezogener Daten und entsprechender Algorithmen.
Prayer 4.0 erkennt individuelle spirituelle Bedürfnisse in Echtzeit.
Eine bessere handelsübliche Smartwatch genügt bereits, um aus Daten zu Bewegung, Herzfrequenz, Atemtonus (u.a. Stimmresonanz-Analyse), Körpertemperatur und Umweltinformationen (Abgleich von Ort-Zeit-Informationen) sowie neuroenergetischen Impulsmessungen ein spirituelles Bedürfnisscreening zu erstellen. Um die Passgenauigkeit für jeden User/jede Userin zu erhöhen, wird empfohlen, die App zunächst vier Wochen lang zu Messzwecken und Algorithmus-Erprobungen zu nutzen. In dieser Zeit werden die UserInnen alle fünf Tage zu einem automatisierten «Interview» gebeten, um die gemessene spirituelle Befindlichkeit und die subjektiv empfundene spirituelle Empfindlichkeit der UserInnen abzugleichen und die Algorithmen entsprechend anzupassen. Erst nach einer ausreichenden «Kennenlern-Phase» stellt die App dann spirituelle Impulse «just in time» bereit.
«Wir waren uns bei der Konzeption der App lange nicht sicher, ob hier nicht ethische Standards verletzt werden. Schliesslich hat Prayer 4.0 mehr intime Kenntnis über die User-Persönlichkeit als sie ein klassischer Beichtvater je hatte», sagt Sabine Rüthemann, die das Projekt für das Bistum St. Gallen betreut. «Um die ethischen Fragestellungen zweifelsfrei und im Sinne der aktuellen Regeln zum Persönlichkeitsschutz in der Kirche beantworten zu können, haben wir eine Ethikberatung beigezogen.» Sabine Rüthemann spielt hier auf ein Gutachten des Moraltheologen Prof. Dr. Daniel Bogner, Universität Fribourg, an.
Ethische Standards? Persönlichkeitsschutz?
Für Daniel Bogner sind vor allem zwei ethische Klärungen zu beachten. «Zunächst geht es um die Wahrung der spirituellen Freiheit der UserInnen von Prayer 4.0. Es galt Lösungen zu finden, damit Prayer 4.0 weder lediglich Stimmungslagen der UserInnen spirituell reproduziert noch solche Stimmungslagen spirituell manipuliert. Zusammen mit Prof. Dr. Simon Peng-Keller, Professur Spiritual Care der Universität Zürich, und mit ExpertInnen der ETH-Zürich konnten wir einen balanced-dynamic-score-Algorithmus modellieren, der sicherstellt, dass den UserInnen in jeder Lebenslage und Stimmung unterschiedliche spirituelle Inputs zur Verfügung gestellt werden. Die UserInnen werden also nicht einfach spirituell fremdgesteuert, sondern in ihrer freien spirituellen Entwicklung unterstützt.»
UserInnen werden nicht spirituell fremdgesteuert, sondern in ihrer freien spirituellen Entwicklung unterstützt.
Die zweite Klärung, die Bogner beschäftigte, bestand darin, die Datensicherheit zu gewährleisten. «Im Prinzip ist es wie beim Beichtgeheimnis bzw. wie beim so genannten Forum Internum. Während hier der Geheimnisschutz interpersonal gewährleistet werden muss, geht es bei Prayer 4.0 um die Gewährleistung von Datensicherheit. Da es keinen ‘Beichtvater’ gibt, sondern lediglich eine personendatenbasierte Rückkopplung an die User-Persönlichkeit, sind diese Daten persönlichkeitsrechtlich höchst sensibel. Auch wenn es technisch gesehen keinen absoluten Schutz gibt, so konnte doch ein extrem hohes Mass an Schutz sichergestellt werden. Zudem wurde – in Anerkennung des ständigen technologischen Fortschritts – eine Datensicherheitskommission eingerichtet, die den Auftrag hat, die Datensicherung ständig zu evaluieren und zu optimieren. Als von den Projekt-Auftraggebenden eingesetzter Präsident der Datensicherheitskommission habe ich für mich sogar das Recht ausgehandelt, bei kleinsten Zweifeln an der Datensicherheit das Herunterfahren der gesamten App anordnen zu können.»
Bei Zweifeln an der Datensicherheit: Abschalten.
Noch ist Prayer 4.0 in den letzten Zügen der Erprobungsphase. Erste Rückmeldungen und Evaluationen geben Anlass zu Optimismus. Die App, die gratis zur Verfügung gestellt werden soll, könnte ein Erfolg werden und den Niedergang des spirituellen Reichweitenverlustes der katholischen Kirche umkehren. Vom erwarteten Erfolg sind selbst die MacherInnen überrascht, die sich ursprünglich viel bescheidenere Vorstellungen gemacht hatten.
«Wir diskutieren, ob wir die App konfessionsübergreifend anbieten sollen. Unsere reformierten Gesprächspartner sind interessiert, aber sie diskutieren noch gnadentheologische Vorbehalte», so Hansruedi Huber. «Katholischerseits konnten wir diese Fragen bereits lösen. Die Gnade setzt ja schliesslich die Natur voraus. Und Prayer 4.0 tut eigentlich nichts anderes, als die Natur des Menschen ganz individuell aus der Nähe zu vermessen und dann Vorschläge für spirituelle Schritte anzubieten. Wir wären froh, wenn wir uns ökumenisch auf den Weg machen könnten. Aber auch, wenn die App wie geplant noch vor Pfingsten online geht, können die ökumenischen Partner wie auch weitere katholische Bistümer jederzeit aufspringen. Die Digitalwelt kennt ohnehin keine Bistums- oder Konfessionsgrenzen mehr.»
Theologische Fragen und ökumenisches Potenzial
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Prayer 4.0 mehr verändert als nur eine kleine Ausweitung der spirituellen Angebotspalette der katholischen Kirche in der Schweiz.
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Arnd Bünker, Tit.Prof. Dr. theol., ist Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts und Mitglied der Redaktion von feinschwarz.net sowie Aprilscherzbeauftragter des Jahres 2019.
Bild: jeremy-bishop-unsplash