Gleich doppelt Grund zum Feiern hat das Redaktionsteam von feinschwarz.net: Sowohl die Redaktion als auch das Redaktionsmitglied Julia Enxing werden mit dem Herbert Haag Preis 2023 ausgezeichnet. Zu diesem außergewöhnlichen Anlass dokumentieren wir die Medienmitteilung sowie die Dankesworte von Rainer Bucher – stellvertretend für die feinschwarz-Redaktion – und die Festrede von Julia Enxing.
Nehmen wir uns (nicht zu) ernst?
Zur Relevanz einer Theologie, die mit G*tt im Rücken der Welt ins Gesicht schaut
Sehr geehrter Präsident der Herbert Haag Stiftung, Herr Dr. Noti, sehr geehrte Kollegin Fischer, liebe Ute, sehr geehrter Herr Keune, sehr geehrte Frau Gamma,
Die Relevanz-Frage
Die Frage nach der Relevanz von Theologie zu stellen, klingt nach einer Alles- oder Nichts-Frage. Es ist keine ganz risikoarme Frage, könnte die Antwort doch auch lauten: Sie hat keine Relevanz (mehr). Weg mit ihr. Weg mit einer Theologie, einer G*ttes-Rede, die einen G*tt bezeugen möchte, den wir nicht mehr erfahren, den die Kirchen verraten und der sich im Strudel unserer vermeintlich autonomen Leben als mehr als überflüssig erweist. … Keine Theologie mehr nötig, erst recht nicht an Universitäten, Märchenstunde ist etwas von gestern. Hier sind wir also angelangt, wenn eine Kirche mit Gen-Defekt – wie Bischof Wilmer es sagt[1] – einen rein maskulinen und dabei seltsam homophoben G*tt bezeugt. Lasst mich mit dieser Kirche in Ruhe. Lasst mich mit diesem Vatergott in Ruhe. Wirklich?
Die Frage nach der Relevanz zu stellen, birgt aber auch eine Chance: Nämlich jene, die Relevanz der Theologie auszuleuchten. Ist man von der Relevanz G*ttes überzeugt, stellt sich die Herausforderung, so von diesem G*tt zu reden, diesen G*tt so zu bezeugen, dass die geglaubte und gehoffte Relevanz sich auch in einer relevanten Theologie auszudrücken vermag. „Relevant“ leitet sich vom Lateinischen „relevans“ ab, was so viel heißt wie „in die Höhe heben“. Vielleicht geht es genau darum, den eigenen Blick, das eigene Herz und den eigenen Geist zu heben und in diesem performativen Prozess jene Aufrichtung zu erfahren, die nur von oben kommen kann; jene Erhabenheit von Würde und Liebe zu erfahren, die nur in der Logik eines Ineinanders von Immanenz und Transzendenz überhaupt möglich ist. Möglich. Eine Möglichkeit, keine Sicherheit, keine zwangsläufige Wirklichkeit, eine Möglichkeit. Theologie kann diese Möglichkeit eröffnen. Dies heißt aber auch, dass sich Theologie daran messen lassen muss, ob sie Räume (seien es Denkräume, Glaubensräume oder Räume im architektonischen Sinne) eröffnet, die es ermöglichen, sich selbst und den Nächsten als bejaht und würdig zu erfahren. Zum Nächsten zähle ich hier nicht nur den nächsten Menschen, sondern alle Geschöpfe. Welche Ressourcen hält Theologie bereit, die Kraft der Veränderung dieser Welt hin zu einem Reich des Friedens und der Gerechtigkeit tatsächlich denkbar, erhoffbar und erfahrbar zu machen?
Theologie und Kirche. Manchmal werde ich gefragt, was diese beiden eigentlich noch miteinander zu tun haben. Ich verstehe unter Theologie die wissenschaftliche Reflexion der Vollzüge von Kirche und der Rede von G*tt. Im Idealfall sind beide aneinander interessiert, trauen einander zu, dass man sich etwas zu sagen und zu zeigen hat. Theologie als Wissenschaft kann allerdings nicht anders, als eine kritische Wissenschaft zu sein. Sie ist geradezu damit beauftragt, von einer reinen Affirmation abzusehen und einen Beitrag zu einem echten Fortschritt zu leisten. Bei Michael Seewald heißt es: „Damit geht eine kritische Distanz gegenüber der Glaubenslehre, ihren institutionellen Trägern und amtlichen Bewahrern einher. Das Verhältnis zwischen der Theologenschaft und der hierarchisch verfassten Kirche ist notwendigerweise spannungsvoll und konfliktbeladen. Wäre es das nicht, müsste sich die Theologie fragen, ob sie ihrer Aufgabe noch gerecht wird. Damit klingt aber schon an, dass die christliche Theologie gerade in ihrer Kirchenkritik auch einen kirchlichen Auftrag erfüllt.“[2]
Die Reflexion der kirchlichen Vollzüge und der Rede von G*tt … hier treffen sich Theologie und Kirche also. Hier ist die Kreuzung, an der sie sich in ihrem Anliegen, diesen G*tt der Zukunft und der Hoffnung zu bezeugen, verstärken, oder gegenseitig verhindern. Hier ist die Kreuzung, in der die Vorfahrt geachtet oder genommen wird, in der es zum Unfall oder gar Totalschaden kommt, in der man sich ganz ohne Ampel, aber auf Augenhöhe und mit Blickkontakt darüber verständigt, wer in welche Richtung weiterfährt, wo es langgeht. Und auch wenn es mir in gewisser Weise zuwider ist, hier ein Beispiel aus dem Straßenverkehr aufzugreifen, so hilft das Bild womöglich: Viel zu häufig nehme ich es so wahr, dass der Laster Kirche, wenig wendig und schwer beladen, mitten auf der Kreuzung steht und den gesamten Verkehr lahmlegt und blockiert. Statt gemeinsam weiterzufahren, wenn auch auf unterschiedlichen Wegen, vielleicht muss der ein oder die andere noch eben einen Abstecher machen, einen Umweg in Kauf nehmen, erstmal schauen, ob das die richtige Abzweigung war, aber mit dem Willen, einander auf den Wegen nicht im Wege zu stehen, sondern Wege zu ermöglichen. Letztendlich leben wir in postparadiesischen, aber präeschatischen Zeiten. Irgendwo zwischen Eden und Eschaton pilgern, laufen, rennen, krabbeln oder schwurbeln wir umher. Wir sind Suchende. Als Suchende sind wir von G*tt aber immer schon Gefundene. Wir haben eine Ahnung davon, was wir suchen, weil es uns verheißen und versprochen wurde: Das Friedensreich ist eine Verheißung, Heilung eine Sehnsucht, Zufriedenheit und Vollkommenheit eine Vision und das gute Leben für alle unsere Hoffnung. Wir wissen um die Unvollkommenheit der Welt und dennoch wollen wir uns nicht vertrösten lassen. Wenn das Reich G*ttes angebrochen ist, dann muss der Anbruch spürbar sein, in Theologie, in Kirche. Auch wenn Kirche selbst ein Geheimnis ist. Tomáš Halík hat es in seinem Eröffnungsvortrag beim Kontinentaltreffen der Weltsynode in Prag im Februar 2023 so ausgedrückt: „Die Kirche ist ein Geheimnis; wir wissen, wo die Kirche ist, aber wir wissen nicht, wo sie nicht ist.“[3] Obwohl ich noch über Halíks Aussage, wir wüssten, wo die Kirche sei, nachdenke – ich weiß glaub ich nicht so recht, wo Kirche ist –, stimme ich ihm auf jeden Fall dahingehend zu, dass wir nicht sagen können, wo Kirche nicht ist. Halík macht es als Aufgabe von Kirche aus, die „Sehnsucht […] in den Herzen der Menschen stets präsent zu halten und gleichzeitig der Versuchung zu widerstehen, irgendeine Form der Kirche, irgendeinen Zustand der Gesellschaft, irgendeinen Stand der religiösen, philosophischen oder wissenschaftlichen Erkenntnis als endgültig und vollkommen anzusehen.“[4]
Wenn Theologie und Kirche in Europa eine Zukunft haben wollen, so mein Eindruck, dann ist genau jetzt ein „window of opportunity“, dem Triumphalismus in den eigenen Reihen (den man ohnehin nur mit einer großen Portion Weltfremdheit aufrechterhalten kann), auf nimmer Wiedersehen zu sagen und eine demütige, geerdete und bescheidene Haltung einzunehmen. Theologie und Kirche sitzen zu häufig dem Irrtum der Verwechslung auf: Sie meinen, den Triumph über Hass, Tod und Ungerechtigkeit im eigenen Triumphalismus und im eigenen Hochmut demonstrieren zu können. Dabei verstehen sie nicht: Sie bezeugen den Retter, sie sind es nicht selbst. Sie bezeugen die Heiligkeit, sie sind es nicht selbst. Halík sagt „Wir sind nicht Besitzer der Wahrheit, sondern Liebhaber der Wahrheit und Liebhaber des einzigen, der sagen darf: Ich bin die Wahrheit.“[5] Diese Wahrheits-, Gerechtigkeits-, Friedens-Liebhaberei, sie ist es, die deutlich werden muss. Indem Theologie und Kirche es schafft, das Überzeugtsein von ihrer eigenen Botschaft glaubhaft zu leben, wird sie eine glaubwürdige Kirche sein. Eine Kirche, die es würdig ist, dass man ihr glaubt. Indem Kirche selbst offen für Verwandlung, Umkehr, Veränderung, Reform ist, wird man ihr glauben, dass sie von dem Evangelium der Umkehr überzeugt ist. Indem Kirche eine hohe eigene Veränderungsbereitschaft lebt, wird man ihr glauben, dass sie eine Verwandlung für die Welt will und gutheißt.[6]
Die Hoffnung auf Veränderung kann im Narrativ einer demütigen Theologie jedoch nicht auf einen omnipotenten G*tt verweisen, der mit seiner (!) starken Hand ins Weltgeschehen eingreift. Eine Hoffnung für diese Welt zu haben bedeutet für mich, nicht auf einen allmächtigen G*tt zu setzen – zumindest nicht im herkömmlichen Sinn des Wortes –, sondern auf einen all-liebenden. Ich kann dem Neologismus des Theologen Tom Oord, nicht von Omnipotenz, sondern von Amipotenz zu sprechen, viel abgewinnen. Die Freundschaft und Liebe G*ttes für die Welt sind es, weshalb G*tt sie nicht alleinlässt.[7] Ist nicht genau das Bundestheologie? Das Versprechen G*ttes, der Welt die Freundschaft nicht aufzukündigen? Auf Zerstörung zu verzichten?
Nehmen wir uns (nicht zu) ernst?
Die katholisch-fromme, leicht ängstliche und keinesfalls allzu radikale Variante von „Fridays for Future“ und „Last Generation“ lautet – sie kennen sie alle: Laudato si. Die Umweltenzyklika von Papst Franziskus. Was 2015 noch als fortschrittlich und sogar erschütternd wahrgenommen wurde und innerkirchlich noch immer „aufbereitet“ und „aufgearbeitet“, für den eigenen Diskurs „fruchtbar gemacht“ und „erschlossen“ werden muss (ich greife mir hier an die eigene Nase), wurde von jenen, die wir in den Kirchen unserer Lande und den Hörsälen unserer katholisch-theologischen Fakultäten und Institute immer mehr vermissen – den jungen Menschen – in unmissverständliche und nicht mehr so sanfte Botschaften übersetzt: Wir leben auf Kosten anderer, wir beuten schamlos aus, vernutzen, machen Untertan. „Macht Euch die Erde untertan!“ (Gen 1,28) Der US-amerikanische Theologe John Cobb soll einmal gesagt haben „‘Macht Euch die Erde untertan?‘ Ja, das ist das einzige biblische Gebot, das wir zu 100% erfüllt haben“.
Doch, was kann eine Theologie im Zeitalter des Anthropozäns leisten? Welche Perspektive kann sie anbieten, können wir Theolog:innen mit unseren Begriffen und „Stories“ einholen, die ein rein säkularer Nachhaltigkeitsdiskurs, eine Umweltethik und Rede vom Artenschutz nicht leisten kann? Gibt es einen theologischen Mehrwert in der Stimmenvielfalt und dem Stimmengewirr im Angesicht eines brennenden Planeten? Ist gar ein Szenario denkbar, in dem Theologie und Kirche den Naturwissenschaften nicht hinterherhecheln und deren Erkenntnisse irgendwie in ihre Rede von der Schöpfung reinzuwurschteln versuchen, sondern auf dem Boden dieser Kenntnisse, im Wissen um sie und im engen Dialog mit ihnen, eine weitere, geschätzte und gehörte Stimme sind? Ich plädiere dafür, die eigene Hilflosigkeit im Klima-Diskurs hinter sich zu lassen und sich selbst als Theologie ernst zu nehmen. Ich plädiere dafür, an die eigene Botschaft zu glauben: Mit G*tt im Rücken der Welt ins Gesicht zu schauen. Ich möchte einige Visionen entwickeln, was dies bedeuten könnte und wo ich ein Potenzial von Theologie sehe:
Mit G*tt im Rücken der Welt ins Gesicht schauen
Dem jüdisch-christlichen Verständnis nach sind wir im Bilde G*ttes geschaffen. Imago Dei. G*tt hat ein Bild von uns und wir sind Bilder G*ttes. Jüngere theologische Lesarten wie jene von Markus Mühling machen darauf aufmerksam, dass es zu kurz greift, den Imago Dei-Gedanken nur auf uns Menschen zu übertragen. Das, was hier ausgesagt wird, ist eine Relatio, eine Beziehung. Im Bilde G*ttes geschaffen zu sein, heißt, als Beziehungswesen in diese Welt gesetzt zu sein und sich in ihr als ein solches zu entfalten.[8] Imago Dei zu sein, ist also gerade keine theologische Grundlage für einen human exceptionalism oder eine human/white/male/… supremacy, sondern Ausdruck von Beziehung. Das ist unsere Konstitution und Bestimmung: Beziehungswesen zu sein. Diesem Bewusstsein ist immer auch ein kritisches Moment eingeschrieben: Jenes, sich über die Bezüge klar zu sein, auch über die epistemologischen und ontologischen Prämissen aus denen heraus wir denken und handeln, was auch bedeutet, die „Hierarchien und konstitutiven Ausschlüsse“[9] zu reflektieren, die diese produzieren.
Teil dieses Beziehungsgeschehens und unserer Beziehungswirklichkeit sind alle Geschöpfe: Indem wir mit allen Geschöpfen in Beziehung stehen (und diese mit uns), werden wir zu Mit-Geschöpfen, zu Partner:innen G*ttes im Schöpfungsplan. Wir sind – auch für G*tt – ernstzunehmende Mitgestaltende dieses Lebens. Beziehungsfähig zu sein bedeutet auch, dieses Potenzial auszuschöpfen, solidarisch zu sein. Und: Es bedeutet, auch die dunkle Seite ernst zu nehmen: Als Beziehungswesen sind wir immer auch verwundbar, wir sind Verletzte und Verletzende. Wir sind aufeinander angewiesen und voneinander abhängig. Diese Abhängigkeit darf aber nicht wegtheologisiert werden, es gilt, sie nicht zu transzendieren – es sei denn, „transzendieren“ wird als „radikale Öffnung“ verstanden –, sondern zu gestalten, zu ent-decken, sichtbar zu machen und in den eigenen Deutungshorizont und unsere Erzählungen der Welt zu integrieren und so vielleicht auch zu heilen. Nur was sein darf, kann sich verändern. Nach absoluter Autarkie zu streben, bedeutet einen konstitutionellen Teil unseres Geschöpf-Seins zu negieren oder sich gar aktiv gegen unseren Lebensruf zu wehren. Natürlich sind Beziehungen nicht per se positiv. Im Gegenteil, womöglich sind sie per se erst einmal herausfordernd, manche sind desaströs, lebensfeindlich, tötend. Natürlich ist es nicht per se romantisch, Geschöpf zu sein und aufgerufen zu sein, das Leben zu spenden. Der Grazer Ethiker Kurt Remele betont: „Sich dessen bewusst zu sein, kann vor perfektionistischen Zwängen und selbstgerechter Arroganz bewahren. Vorläufigkeit darf aber, wie Metz betont, nicht mit Beliebigkeit verwechselt werden! Was wir tun und wie wir handeln, ob wir Schmerz und Leid, Freiheit und Gerechtigkeit vergrößern oder reduzieren, macht einen Unterschied. Es macht im Hinblick auf Gott einen Unterschied, im Hinblick auf die Mitmenschen und im Hinblick auf die Tiere.“[10] Wir leben immer auf Kosten anderer. Leben kostet Leben. Hier gibt es kein Entkommen. „We are in this together“[11], so heißt es bei der feministischen Philosophin Rosi Braidotti. Geformt aus Erde, aus Humus, mit G*ttes Lebensatem durchhaucht, so bewohnen wir diesen Planeten als gemeinsames Habitat. „We are after all variations on a common matter.“[12] Es scheint absurd, dass einige Theolog:innen derzeit mühsame Kämpfe führen müssen, um der Theologie die biologisch-evolutive Erkenntnis nahezubringen, dass der Mensch schon biologisch nicht über allem steht, sondern „Leben inmitten von Leben ist, das leben will“[13]. Selbe Basis, selber Lebenshunger, selbes Schicksal der Verwundbarkeit, der Sterblichkeit, der Kompostierbarkeit.
Theologisch dürfte uns dies doch längst klar sein, dass wir alle aus demselben Material sind, uns viel mehr verbindet als uns trennt und jene Idee, den Menschen (statt des Sabbats) als „Krone der Schöpfung“ zu verstehen, ein rein-menschliches Wunschdenken ist.
Doch, wo Leben unnötig Leben kostet, wo Leben willkürlich über das Leben anderer entscheidet, wird die Würde des Geschöpfs missachtet. Hier wird gerade nicht anerkannt, dass wir niemandem gehören außer G*tt allein. Hier wird die Fundamentaltheologie, die Schöpfungstheologie zur Ethik und die Ethik zum Aktivismus, denn Theologie muss – aufgrund ihres eigenen Überzeugtseins von der Würde der Geschöpfe und um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen – anwaltlich und politisch werden. Sie muss zur Anwältin des unterdrückten und ausgegrenzten, ausgebeuteten, stigmatisierten und gequälten Lebens werden. Sie darf nicht zusehen, wenn Menschen und Tiere versklavt werden, sie darf auch selbst nicht versklaven. Sie darf nicht zusehen, wo die Wahrheit um des Images wegen verschleiert wird und darf dies vor allem auch nicht selbst tun. Sonst geht es immer weiter mit dem „Clusterfuck“.[14] Sie darf nicht zusehen, wenn Küken geschreddert, Urwälder abgeholzt, Tiere geschlachtet, eingesperrt und ausgestellt werden und sie darf erst recht nicht mitmachen beim Ausbeuten, Abholzen und Ausschlachten.
Die biblische Erzählung der bewussten Erschaffung allen Lebens (nicht des Lebens, sondern jeden Lebens) eröffnet uns die Perspektive, jedes Geschöpf – sei es Mensch oder Tier – als Individuum wahrzunehmen. Nicht als Art. Art ist, wie Spezies, eine vom Menschen (zum Zwecke der Verteilung von Lebens-Wertigkeiten) erschaffene Kategorie. Jedes Lebewesen, jedes Geschöpf ist ein eigenes Individuum, hat eine eigene Geschichte, womöglich eine eigene Familie, einen eigenen Lebensort, eigene Energien, einen eigenen Lebens- und Überlebenswillen. Theologie hat das Potenzial, Anwältin dessen zu sein, was in unseren (säkularen) Begriffen nicht aufgeht; sie kann ein Weltverständnis aus der Perspektive eines bestimmten Narrativs anbieten, das nur die G*tt-bezogene Rede ermöglicht. Und sie ist eine große Geschichtenerzählerin, die Theologie und Kirche. Ist das schlimm? Ist das verwerflich? Brauchen wir wirklich noch die g*ttlichen Geschichten? Die Geschichte von G*tt in der Geschichte? Ich behaupte: Wir brauchen sie. Wir brauchen sie nicht mehr denn je, aber wir brauchen sie und die Überzeugten dürften eigentlich nicht anders können, als sie immer wieder neu zu erzählen. Theologie ist also immer auch die Suche nach Narrativen, die in dieser Zeit tragen. Der Schweizer Theologe Ralph Kunz spricht von der „Arbeit an einem tragfähigen Narrativ“ und antwortet auf die Frage, warum dies so wichtig sei: „Weil wir in Geschichten verstrickt sind und wir uns an Storys halten. Ich rede von der Arbeit mit Storys, weil sie das Rohmaterial der Theologie bilden. Was uns interpretiert, muss von uns interpretiert werden.“[15] Eines ist wichtig: Nicht wir sind der Inhalt der Geschichten, sondern G*tt. Als Suchende sind wir bereits von G*tt Gefundene. Es muss uns um G*tt gehen, nicht um uns. Von der Wirklichkeit einer kontinuierlichen Offenbarung und einer creatio continua auszugehen, heißt auch, sie immer wieder neu zu kontextualisieren und zu erzählen. Weil wir dazu aufgerufen sind: „Seid immer bereit, allen, die euch danach fragen, zu erklären, welche Hoffnung in euch lebt.“ (1 Petr 3,15 – BigS). Doch das ist ja genau die große Herausforderung: Die Hoffnung am Leben zu halten und dann auch noch von ihr zu erzählen, dafür zu sorgen, dass, wie es Ralph Kunz formuliert, „die Realutopie der Heilsgeschichte genug Überzeugungskraft [hat, J.E.], um dem unheimlichen Sog der Realdystopie zu entkommen?“[16]
Eine Person, deren Theologie und Spiritualität, deren theopolitische Leidenschaft und Mut mir immer wieder helfen, dem „Sog der Realdystopie“ des Anthropozäns zu entkommen und die Kraft der „Realutopie der Heilsgeschichte“ zu erfahren, ist, einige von Ihnen und euch wissen darum: Dorothee Sölle. Und so möchte ich diese Festrede mit dem wohl bekanntesten Text von Dorothee Sölle, ihrem „Credo“[17], beenden; jedoch nicht, ohne mich nochmals bei allen Beteiligten und Entscheidungsträger:innen für die Überreichung des Herbert Haag Preises und die darin zum Ausdruck gebrachte Wertschätzung meines bisherigen und die Ermutigung für meinen künftigen theologischen Weg von Herzen zu bedanken. Ganz besonders danke ich Dir, liebe Ute, für die mich so sehr ehrende Laudatio.
ich glaube an gott
der die welt nicht fertig geschaffen hat
wie ein ding das immer so bleiben muss
der nicht nach ewigen gesetzen regiert
die unabänderlich gelten
nicht nach natürlichen ordnungen
von armen und reichen
sachverständigen und uninformierten
herrschenden und ausgelieferten
ich glaube an gott
der den widerspruch des lebendigen will
und die veränderung aller zustände
durch unsere arbeit
durch unsere politik
ich glaube an jesus christus
der recht hatte als er
„ein einzelner der nichts machen kann“
genau wie wir
an der veränderung aller zustände arbeitete
und darüber zugrunde ging
an ihm messend erkenne ich
wie unsere intelligenz verkrüppelt
unsere fantasie erstickt
unsere anstrengung vertan ist
weil wir nicht leben wie er lebte
jeden tag habe ich angst
dass er umsonst gestorben ist
weil er in unseren kirchen verscharrt ist
weil wir seine revolution verraten haben
in gehorsam und angst
vor den behörden
ich glaube an jesus christus
der aufersteht in unser leben
dass wir frei werden
von vorurteilen und anmaßung
von angst und hass
und seine revolution weitertreiben
auf sein reich hin
ich glaube an den geist
der mit jesus in die welt gekommen ist
an die gemeinschaft aller völker
und unsere verantwortung für das
was aus unserer erde wird
ein tal voll jammer hunger und gewalt
oder die stadt gottes
ich glaube an den gerechten frieden
der herstellbar ist
an die möglichkeit eines sinnvollen lebens
für alle menschen
an die zukunft dieser welt gottes
amen.
Prof. Dr. Julia Enxing
[1] „Machtmissbrauch steckt in der DNA der Kirche“, katholisch.de, 14.12.2018, online unter: https://www.katholisch.de/artikel/19895-wilmer-machtmissbrauch-steckt-in-dna-der-kirche – „Wilmer steht zur Aussage über Machtmissbrauch und DNA der Kirche“, katholisch.de, 15.04.2019, online unter: https://www.katholisch.de/artikel/21367-wilmer-steht-zur-aussage-ueber-machtmissbrauch-und-dna-der-kirche
[2] Michael Seewald: Einführung in die Systematische Theologie, Darmstadt 2018, S. 17.
[3] Tomáš Halík: Das Abenteuer, Christus zu suchen, in: CiG 7, Jg. 75, 12. Februar 2023, S. 3–4, hier S. 3.
[4] Tomáš Halík: Das Abenteuer, Christus zu suchen, in: CiG 7, Jg. 75, 12. Februar 2023, S. 3–4, hier S. 3.
[5] Tomáš Halík: Das Abenteuer, Christus zu suchen, in: CiG 7, Jg. 75, 12. Februar 2023, S. 3–4, hier S. 3.
[6] Vgl. Tomáš Halík: Das Abenteuer, Christus zu suchen, in: CiG 7, Jg. 75, 12. Februar 2023, S. 3–4, hier S. 4.
[7] Vgl. https://thomasjayoord.com/index.php/blog/archives/the-death-of-omnipotence (zuletzt abgerufen am 16.03.2023, 12:28 Uhr).
[8] Vgl. Markus Mühling: Menschen und Tiere – geschaffen im Bild Gottes, in: Ulrich Beuttler/Hansjörg Hemminger/Markus Mühling/Martin Rothgangel (Hgg.): Geschaffen nach ihrer Art. Was unterscheidet Tiere und Menschen?, 129–144.
[9] Franca Spies: Braucht die Theologie eine posthumanistische Wende?, in: Theologie und Glaube 113/2 (2023) 115–119, S. 116.
[10] Kurt Remele: Die Würde des Tieres ist unantastbar. Eine neue christliche Tierethik, Kevelaer 2019, 67–68.
[11] Rosi Braidotti: Posthuman Knowledge, Polity Press, Cambridge/UK & Medford/USA 2019, S. 9.
[12] Rosi Braidotti: Posthuman Knowledge, Polity Press, Cambridge/UK & Medford/USA 2019, S. 44–45.
[13] Albert Schweitzer: Die Ehrfurcht vor dem Leben. Grundtexte aus 5 Jahrzehnten. 5. unver. Aufl. München 1988, S. 21.
[14] https://www.kath.ch/newsd/doris-reisinger-ich-habe-jegliches-vertrauen-in-die-katholische-kirche-verloren/ (zuletzt abgerufen am 14.03.2023, 8:16 Uhr).
[15] Ralph Kunz: Vor uns die Sintflut? Warum wir doch nicht untergehen. Eine theologische Sichtung von Hoffnungstorys für schwimmende Erdlinge, 2023 (unveröffentlicht). – Vgl. Dietrich Ritschl: „Story“ als Rohmaterial der Theologie, München 1976.
[16] Ralph Kunz: Vor uns die Sintflut? Warum wir doch nicht untergehen. Eine theologische Sichtung von Hoffnungstorys für schwimmende Erdlinge, 2023 (unveröffentlicht).
[17] Dorothee Sölle: Meditationen und Gebrauchstexte, Berlin 1969, S. 24.