Das im Beitrag „Prophetische Rhetorik“ von Lukas Pallitsch vertretene Prophetieverständnis ist enggeführt, so Egbert Ballhorn in folgendem Leserbrief.
In seinem Beitrag rückt der Literaturwissenschaftler und Theologe Lukas Pallitsch den österreichischen Bundeskanzler Kurz aufgrund dessen Rede in die Nähe biblischer Propheten. Eine solche Parallelisierung ist politisch möglicherweise nicht ganz unproblematisch, und sie beruht bibeltheologisch auf einem enggeführten Prophetenbild.
Prophetische Rhetorik. „Mit aller Deutlichkeit aussprechen, was da auf uns zukommt“
Die biblischen Propheten haben sich schwer getan mit der Macht und den Mächtigen. Propheten wurden von keiner Autorität gewählt oder ins Amt gebracht, sondern hatten das Amt der Kontrolle auszuüben: dem Volk und den Königen die Maßstäbe Gottes und seiner Tora entgegenzuhalten. Wenn ein Bundeskanzler im Besitz von Staatsgewalt ist und ihm gleichzeitig eine prophetische Funktion zugesprochen wird, so werden auf nicht unproblematische Weise zwei Ämter vermischt, die die Bibel entschieden auseinanderhält.
Staatsgewalt ist keine Prophetie.
Zudem: der kräftige Ton und die Lautstärke an sich machen noch nicht das Moment des Prophetischen aus. Es geht um Inhaltliches: Propheten sind nicht Abgesandte der Zukunft, sondern Menschen, denen (oft ohne ihren Willen und von ihnen als Zumutung und Last empfunden) die Erkenntnis der Maßstäbe Gottes und seiner Tora gegeben wurden. Von diesem Punkt aus haben sie zu schauen, ob der Staat und seine Glieder nicht das Wesentliche übersehen haben: die Gerechtigkeit, die Fürsorge für Arme und Schwache. Politische Zeitdiagnostik allein ist noch keine prophetische Rede.
Politische Zeitdiagnostik allein ist noch keine prophetische Rede.
Aus biblischer Sicht erwachsen Katastrophen aus einer Gottvergessenheit, durch die dem Gemeinwesen die Solidarität mit den Bedürftigen abhandenkommt. Das müssen Prophetinnen und Propheten ins Gedächtnis rufen. Auch Hoffnung wecken dürfen sie, denn sie wissen, dass Gott sich seinem Volk immer wieder zuwenden wird. Die Wiederherstellung wirtschaftlichen Lebens ist zwar ein sinnvolles staatliches Ziel, aber an sich noch keine messianische Perspektive mit Erlösungsdimension. Vielmehr bleibt die Frage virulent: Welche Art von Gesellschaft wollen wir leben? Nach welchen Maßstäben wollen wir wirtschaften? Was sind die Ziele des Wirtschaftens? Wie können wir die Welt so bewohnen, dass wir sie nicht für kommende Generationen zerstören? Wie steht es um unsere Solidarität mit den Leidenden und Schwachen, über alle Staatsgrenzen hinweg?
Die Stunde der Prophetinnen und Propheten muss noch kommen.
Autor: Egbert Ballhorn, Professor für Exegese und Theologie des Alten Testaments an der TU Dortmund, Vorsitzender des Katholischen Bibelwerks e.V.