Prophetische Rede wird stets in Krisenzeiten virulent. Lukas Pallitsch über prophetische Rhetorik und die Parallele bei aktuellen Ansprachen des österreichischen Bundeskanzlers.
Wer sich mit der Zukunft befasst, blickt ins Ungewisse. Dennoch lassen sich unbekannte Möglichkeiten einkalkulieren. Prognostischen Disziplinen wie Wirtschaft, Demografie und Virologie berechnen mithilfe statistischer Auswertungen mögliche Entwicklungen. Auf diese Weise werden mehr oder weniger stabile Zukunftsmodelle entworfen. Je stabiler die Modelle sind, umso wahrscheinlicher treffen die Szenarien ein. Spektren des Künftigen entwerfen Verlaufskurven, die Auswirkungen auf die Gegenwart und damit Einfluss auf das Leben der Einzelnen nehmen.
Gegenwärtiges angesichts einer drohenden Zukunft
Doch so sehr sich das Leben von der Zukunft her bestimmen lässt, geleitet und gelebt wird es in der Gegenwart. Daher treten täglich Politiker zur Hauptsendezeit, mittlerweile in mehrstündlichen Takten, vor laufende Kameras und versetzen in kalmierender Tonlage das Volk in Starre. Angesichts der äußerst prekären Lage wird eine Redeweise beschworen, die Wissen, Macht und Politik aufs Innigste verschränkt. All das erinnert an jenen prophetischen Redegestus, der die Möglichkeit bietet, Gegenwärtiges angesichts einer drohenden Zukunft zu legitimieren.
So auch jüngst der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (Link: orf.at https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-Spezial-zur-Coronavirus-Situation/13889652/ZIB-Spezial-zur-Coronavirus-Situation/14044725/Bundeskanzler-Sebastian-Kurz-ueber-die-CoV-Krise/14661838): „Es ist nicht meine Aufgabe, irgendetwas zu beschönigen. […] Diese Krankheit bringt Leid und für viele Menschen den Tod.“[1] (Sebastian Kurz, 14.3.) Wenn der Kanzler hier einen prophetischen Ton anschlägt, dann unter der erklärten Prämisse, dass er angesichts noch drastischerer Szenarien höchst Eindringliches zu verkünden hat.
Bild von der Zukunft, das von gegenwärtigem Handeln abhängt
Schon zu biblischer Zeit galten Prophetinnen und Propheten als hochgradig paradoxe Figuren. Schließlich stehen sie vor der unangenehmen Aufgabe, eine Botschaft zu verkünden, die niemand hören möchte. Hinzu kommt, dass biblische Propheten ein Bild von der Zukunft entwerfen, das von gegenwärtigem Handeln abhängt: Schenkt ihnen das Volk Glauben und kehrt um, ist die Katastrophe womöglich noch abzuwenden. Andernfalls war die Warnung gänzlich umsonst.
Prophetinnen und Propheten reden von etwas, was sie bereits kommen sahen. Außerdem hebt prophetisches Sprechen mit einer rhetorischen Emphase an. Einmal aufmerksam geworden auf diese Rhetorik, wird man eine Parallele zum Wortlaut gegenwärtiger Rede erkennen, die sich auf italienische und chinesische Szenarien stützt: „Und in Italien sehen wir, wie das abläuft. Da müssen sich Angehörige von ihren sterbenden Mitmenschen per Telefon verabschieden. Da müssen Ärzte entscheiden, wen sie behandeln, weil es nicht genug Kapazitäten gibt; und daher, ja, ich werde mit aller Deutlichkeit aussprechen, was da auf uns zukommt.“ (Sebastian Kurz, ebd.) Indem apokalyptische Züge vergangener Ereignisse beschworen werden, scheint Künftiges durch rechtes Handeln in der Gegenwart noch abwendbar.
Mangelnde Sicherheit nicht überspielen
Ihr spezifisches Profil gewinnt prophetische Rede durch die Gegenüberstellung. So ist Israels Prophetie zum einen entscheidend dadurch bestimmt, dass sie über keine Heilsgewissheit verfügt. Mangelnde Sicherheit wird durch provozierende Rede (Mi 2,11) überspielt. Zum anderen treten Propheten wie Jeremia in Konflikt mit Heils- oder Falschpropheten: „Sie betören euch nur; sie verkünden Visionen, die aus dem eigenen Herzen stammen“ (Jer 23,16) Für den Heilspropheten Hananja, der die Zukunft nur schönt, findet Jeremia klare Worte: „Der Prophet aber, der Heil weissagt – an der Erfüllung des prophetischen Wortes erkennt man den Propheten.“ (Jer 28,9)
Betont wird der Kontrast zwischen echter und falscher prophetischer Rede, ganz so, wie in der aktuellen Krisensituation beschwichtigt wird: „Nachdem ich auch in den letzten Tagen mit höchsten Verantwortungsträgern in der Politik in der Republik [Kontakt hatte], die noch immer der Meinung sind, man sollte beschwichtigen oder man kann doch die eine oder andere Maßnahme verschieben oder später setzen, sehe ich mich gezwungen, das in aller Deutlichkeit auszusprechen.“ (Sebastian Kurz, ebd.)
Virulenz in Krisenzeiten
Kraft ihrer Funktion sind Prophetinnen und Propheten immer schon geschlagene Figuren. Sie sehen sich gezwungen, etwas sagen zu müssen, was niemand aussprechen und keiner hören will. Vor dem Hintergrund noch diffuserer Krisenerwartungen zählen prophetische Sprechakte zu den wirkmächtigsten Sprachformen, um sich selbst in eine Zwangslage zu reden, von der aus Zukünftiges zugleich aufgegriffen und Gegenwärtiges legitimiert wird.
Prophetische Rede wird stets in Krisenzeiten virulent. Gerade durch sein Auftreten in Momenten der höchsten Gefahr gewinnt der Prophet besondere Relevanz. Es zeigt sich, dass es den Propheten in ihrer Verkündigung nicht primär um das Ausmalen von schreckhaften Visionen geht. Sie rufen diese Bilder deshalb auf, um eindringlich zu warnen. So beschreibt auch Walter Benjamin den Propheten in seiner Schrift Über den Begriff der Geschichte mit sprachbildlicher Präzision: Der Prophet nämlich „verkündet […] nicht Künftiges“, sondern „gibt nur an, was die Glocke geschlagen hat“ (Walter Benjamin, Werke I, 1050).
Klar und drastisch
Auf der Folie dieses Verständnisses klingt der oftmals wiederholte Satz des Bundeskanzlers klar und drastisch zugleich: „Wir können immer nur wieder betonen, was die Realität ist. Die Realität ist das, was wir geschildert haben. Wir haben die begründete Hoffnung, dass die Maßnahmen, die wir setzen, eine Wirkung zeigen. Dass es gelingen kann, die Kurve abzuflachen.“ (Sebastian Kurz, Link: orf.at https://tvthek.orf.at/profile/ZIB-Spezial-zur-Coronavirus-Situation/13889652/ZIB-Spezial-zur-Coronavirus-Situation/14044676)
Letztlich bleibt ihm aber auch zu betonen: „Diese Krise wird für einige auch den Tod bedeuten.“ (Sebastian Kurz, 14.3.) Gleichwie die Propheten Israels zumindest eine dumpfe Hoffnung am Horizont aufschimmern lassen, setzt auch die politisch-prophetische Rhetorik auf einen wirtschaftlichen, (nach-)österlichen Messianismus: „Wenn alle Menschen zusammenhelfen, wenn alle ihren Beitrag leisten, dann kann es uns gelingen, die Ausbreitung [des Virus] deutlich zu verlangsamen und auch unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben nach Ostern wieder auferstehen zu lassen.“ (Sebastian Kurz, 14.3.)
___
Lukas Pallitsch, Literaturwissenschaftler und Theologe, ist Lehrbeauftragter an der Pädagogischen Hochschule Burgenland.
[1] Sebastian Kurz, 14.03.2020, (14:54-24:05)
Beitragsbild: Pixabay
___