Kirchen in der Innenstadt stellen allein durch ihre Präsenz einen Gegenpol zur von wirtschaftlichen Gesetzlichkeiten geprägten Umgebung dar. Über die Rolle von Kirche und Kirchenräumen im Kontext der Wirtschaftslogik. Von Andreas Rosar.
Was macht ein Wohnhaus zu einem Wohnhaus? Was macht ein Geschäftshaus zu einem Geschäftshaus? Die Worte sprechen für sich. Was aber macht eine Kirche zu einer Kirche?
Wir sind es gewohnt, Gebäude an ihren Zwecken zu messen. Ein Wohnhaus dient dem Wohnen, im Geschäftshaus werden Geschäfte gemacht, die Kirche besucht man zu Gebet und Gottesdienst.
Was darüber hinaus fehlt, wenn ein Kirchenbau verstummt, verschlossen bleibt oder ganz verschwindet, erleben Menschen an jenen Orten, an denen Kirchen geschlossen, umgewidmet, veräußert oder gar abgerissen werden. Welche Bedeutung etwas hatte, ermisst man meist erst in seiner ganzen Tiefe, wenn es unwiederbringlich verloren ist.
Wir sind es gewohnt, Gebäude an ihren Zwecken zu messen.
Schlagzeilen gemacht hat in der jüngeren Vergangenheit insbesondere der Abriss der Lambertuskirche im niederrheinischen Immerath, die zusammen mit dem ganzen dazugehörigen Dorf den kommerziellen Interessen des Braunkohletagebaus Platz machen musste. Der Verlust von Heimat und damit von Verwurzelung in einer Landschaft und einem gesellschaftlichen Gefüge liegt in diesem besonders krassen Fall auf der Hand. Der Kirchenbau wurde hier für die Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes zum Symbol ihres Widerstandes gegen einen übermächtigen Konzern, dessen wirtschaftliche Interessen stärker gewichtet werden als der Wunsch der Menschen nach Beheimatung.
Weit über ein Jahrhundert stand die Silhouette des für die Größe des Dorfes überproportional großen Gotteshauses nicht nur für die Bedeutung von Kirche und Glaube für die Menschen vor Ort, sondern auch für den Einfluss kirchlicher Macht auf die Gesellschaft. Tempi passati. Eindeutiger und unmissverständlicher als im Fall Immerath lässt es sich kaum auf den Punkt bringen, wie sich das Machtgefüge in unserer Gegenwart verschoben hat.
Verlust von Heimat und damit von Verwurzelung
Ganz so schlimm trifft es Luzern nicht. Die Stadt am Vierwaldstätter See wird weder dem Erdboden gleichgemacht noch ihrer zahlreichen Kirchen beraubt. Allerdings ist der älteste Sakralbau der Stadt dem Gefüge der Altstadt für eine gewisse Zeit entzogen. Die Peterskapelle, die Kirche im Herzen der Altstadt, wird nach über fünf Jahrzehnten erstmals wieder saniert und so für die Zukunft fit gemacht. Nun ist der Bau für über ein Jahr geschlossen. Zeit, innezuhalten und zu fragen, was fehlt.
Über viele Jahrhunderte war die Peterskapelle am Ausgang der weltbekannten «Kapellbrücke» die Kirche der einfachen Leute, die in der Stadt wohnten und arbeiteten. In gewisser Weise ist sie das bis heute – allerdings hat sich das Umfeld stark geändert. Einfache Menschen finden kaum noch bezahlbaren Wohnraum in der Altstadt, die zugleich immer stärker von Handel, Dienstleistung und Kommerz in Beschlag genommen wird. Uhren- und Schmuckhändler wechseln sich mit Restaurants ab, um die zahlreichen teils betuchten Touristinnen und Touristen, vornehmlich aus dem asiatischen und russischen Raum, zum Einkauf zu bewegen. Auch hier dominieren wirtschaftliche Interessen das gesellschaftliche Leben stärker denn je, geben den Puls der Stadt vor, weniger brutal zwar wie in Immerath, aber dafür sehr konstant und effizient.
innehalten und fragen, was fehlt
Durch die renovierungsbedingte Schließung der kleinen Kirche fehlt im konsequent von Geschäftshäusern durchzogenen Kontext der Altstadt nun der offene Raum, der ohne Gegenleistung betreten werden darf, ohne Eintritt zu zahlen, ohne den Druck, etwas kaufen, konsumieren oder leisten zu müssen.
Viele Luzernerinnen und Luzerner vermissen diesen Raum, dessen Türen den ganzen Tag geöffnet waren. In Zeiten sinkender Gottesdienstbesuche und steigender Kirchenaustritte bot die Peterskapelle ein stilles, leicht zu übersehendes, aber starkes Kontrastbild zum Schwinden der gesellschaftlichen Relevanz von Kirche: Es gab nur wenige Momente am Tag, zu denen niemand sich in die über die Jahre vom Kerzenruß grau gewordenen Wände zurückgezogen hatte. Oft saßen, standen, knieten mehrere Personen zur gleichen Zeit, beteten still, manche auch deutlich vernehmbar, zündeten Kerzen an oder ruhten sich einfach einige Augenblicke aus.
der offene Raum, der ohne Gegenleistung betreten werden darf
Damit kommt eine wesentliche, aber oft übersehene Dimension des sakralen Raumes im urbanen Kontext zum Tragen: Kirche als ein Ort, an dem die Regeln des Marktes nicht gelten, ja mehr noch, der den Regeln des Marktes komplett enthoben ist. In der Logik des Marktes ist ein Kirchenraum in bester Innenstadtlage verlorener Raum – verlorene Quadratmeter, die keine Mieteinnahmen generieren, verlorene Quadratmeter, an denen keine Waren umgesetzt werden können.
Genau in dieser scheinbaren Nutzlosigkeit zeigt sich die eigentliche Bedeutung eines Kirchenraumes im Kontext einer Innenstadt – Raum, der Freiheit schenkt. Freiheit, einen Moment auszusteigen aus den Zwängen und Pflichten des Alltags. Freiheit zur Begegnung mit sich selbst. Freiheit zur Begegnung mit anderen, mit Gott. Freiheit, anders zu denken, als der Rhythmus des Alltags es vorgibt. Der Kirchenraum wird so zu einem Raum, der über sich selbst hinausweist und in seiner Freiheit von äußerer Verzweckung die Logik der ihn umgebenden Stadt in Frage stellt.
Genau in dieser scheinbaren Nutzlosigkeit zeigt sich die eigentliche Bedeutung eines Kirchenraumes im Kontext einer Innenstadt.
Damit ist eine Kirche unabhängig von ihrer Nutzung stets auch ein steinernes prophetisches Zeugnis des Glaubens inmitten einer Stadt – eines Glaubens, der das rein Messbare, Nützliche, Zweckhafte in Frage stellt und den oft kurzsichtigen Blick aus den engen Gassenfluchten der Geschäftszeilen in die Weite des Himmels lenkt. Ein Glaube, der inmitten der Arbeits- und Konsumwelt davon erzählt, dass ein Mensch mehr ist als das, was er tut oder besitzt. Mehr denn je künden sakrale Bauten im vom Kapital geprägten profanen Stadtgefüge von der Gleichheit aller Menschen, unabhängig von äußeren Kriterien wie Herkunft oder Finanzkraft. Räume, die durch ihre bloße Präsenz und ihre offenen Türen jeder und jedem eine Auszeit aus der Kurzsichtigkeit und Geschäftigkeit des Alltags bieten – gratis, ohne Forderung nach einer Gegenleistung, ohne Ansehen der Person. Gerade so sind Kirchen zugleich stilles und doch beredtes Zeugnis der Gnade Gottes, die per se jedem Menschen gilt.
Vielleicht geben sie den Zweifelnden und Suchenden, den Nichtglaubenden und den Glaubenden auf diese schlichte Weise ein stärkeres Zeugnis von der Gegenwart Gottes in der Welt als es manche noch so kraftvolle Predigt vermag.
Immenrath existiert nicht mehr. Für die Bevölkerung wurde in der Nähe eine neue Siedlung errichtet. Mitten drin wieder eine Lambertuskirche. Viel kleiner und schlichter zwar. Aber präsent und für alle offen.
Ein Glaube, der inmitten der Arbeits- und Konsumwelt davon erzählt, dass ein Mensch mehr ist als das, was er tut oder besitzt.
In Luzern hat das Team der Citypastoral den Spieß einmal umgedreht und für die Renovationsphase das ehemalige Warenlager eines leerstehenden Geschäftshauses gekapert. Zwecklos gewordener Raum mitten in der Altstadt erhält in Zusammenarbeit mit jungen Künstlern der Luzerner Kunsthochschule einen neuen Sinn als provisorische Kapelle und reflektiert so für eine kurze Zeit die Semiotik eines sakralen Raumes an ungewohntem Ort.
Bis dieser Raum wieder den Gesetzen des Marktes unterworfen und dem Neubau eines Geschäfts- und Miethauses weichen wird.
Aber dann wird die Peterskapelle wieder Tag für Tag offen sein und meist still, aber unübersehbar einen Kontrapunkt zur durchökonomisierten Innenstadt bilden. Ein Ort, an dem Gott und Welt sich begegnen.
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Andreas Rosar studierte Philosophie, Theologie und Germanistik in Mainz und Rom. Als Regisseur inszeniert er Opern an verschiedenen Theatern und Festivals in Deutschland und der Schweiz. Seit 2016 arbeitet er zudem im Team Citypastoral der Katholischen Kirche Stadt Luzern.
Bilder: Citypastoral Luzern.
Zum Angebot in der provisorischen Kapelle vgl. „Zwölf nach Zwölf“.
Zum Themenumfeld siehe auch: