Vor einem Jahr, am 01. Juli 2017 veränderte sich für etliche Frauen, Männer und Transgender die gesetzliche Grundlage ihrer Tätigkeit in Deutschland. Das neue Prostituiertenschutzgesetz trat in Kraft. Es soll für mehr Transparenz und Rechtsschutz im Prostitutionsgewerbe sorgen. Nachdenkliches zum ersten Jahrestag von Adrian Giele.
Um das Thema Prostitution kommt man, wenn man in Hamburg lebt oder auch nur als aufmerksame*r Besucher*in der Stadt die Sehenswürdigkeiten und berüchtigten Plätze aufsucht, nicht herum: Reeperbahn, Hans-Albers-Platz und sogar die ausschließlich für Männer zugängliche Herbertstraße sind Ausflugsziele des nationalen und internationalen Tourismus. Der Ruf von der hier stattfindenden Straßenprostitution trägt zum anrüchig-abenteuerlichen Charme der Hansestadt im Tourismusmarketing bei.
Was sich in Hamburg auf der Partymeile allzu leicht einzufügen scheint, kann man in jeder größeren Stadt des Landes eher in der Peripherie, meist an „verdrängten“ Orten finden: an Straßenzügen oder in Großbordellen in Gewerbegebieten, in „Massagestudios“ und „Wellnessoasen“, in kleinen Wohnungen oder Wohnwagen mit roter Beleuchtung in den Fenstern.
Prostitution: ein facettenreiches Wortungetüm, mit dem sich zu viele Komposita bilden lassen.
Prostitution. Was als ein scheinbarer Terminus technicus daherkommt, stellt sich als facettenreiches, komplexes Wortungetüm heraus, mit dem sich zu viele Komposita bilden lassen, die allesamt grausame Realitäten bezeichnen: von der Armutsprostitution über Beschaffungsprostitution bis zur Zwangsprostitution. Im gesellschaftlichen Diskurs finden sich breite Debatten darüber, ob es sie gibt, die freiwillige, moralisch vertretbare Prostitution – fernab und getrennt von all den leidvollen anderen Wirklichkeiten. Die Schwierigkeiten spiegeln sich schon in den unterschiedlichen Selbstbeschreibungen und Reflexionen von Frauen, die in der Prostitution tätig waren, wieder.
Gibt es sie, die freiwillige, moralisch vertretbare Prostitution? Zwei Sichtweisen:
Zwei pointierte Sichtweisen sollen hier zu Wort kommen. Die eine stammt von Rachel Moran. In ihrem lesenswerten, erschütternden Erfahrungsbericht ihrer 7 Jahre in der Prostitution kommt sie zum Schluss: „Die Wahrheit lautet, dass Prostitution die Kommerzialisierung sexuellen Missbrauchs ist.“[1] Jeder Form des Sich-Prostituierens sei auch notwendig das Prostituiert-Werden eigen.
Anders blickt Ilan Stephani in Artikeln, Interviews sowie in ihrem Buch auf ihre Erfahrungen zurück. Prostitution ist für sie zum einen ein Job[2], zum anderen aber auch ein Spiegel, der die Wahrheit über eine patriarchale Gesellschaft zeigt: „Die Prostitution stellt die richtigen Fragen, wenn man ihr zuhört. Und dafür liebe ich sie.“[3] Prostitution wird für sie zum Ort der Lernerfahrung über Geschlechterbeziehungen und Rollenverständnisse, zum persönlichen Empowerment für die eigene Sexualität.
Rachel Moran und Ilan Stephani bieten zwei sehr unterschiedliche Selbstbeschreibungen und Perspektiven auf Prostitution an. Die Frage nach der Freiwilligkeit und dem Grund der Prostitution ist im gesellschaftlichen Diskurs hart umkämpft und wird so zur entscheidenden Frage.
Als katholischer Theologe und Mann frage ich mich: Wie ist aus einer christlichen Position heraus mit dem Thema umzugehen?
Ich, als katholischer Theologe und Mann, frage mich: Wie ist aus einer christlichen Position heraus mit dem Thema umzugehen? Der schnellste und einfachste Weg dürfte ein Verweis auf kirchliche Sexualmoralvorstellungen sein. Folge: Wir finden uns außerhalb des Diskurses wieder. Den Selbstbeschreibungen der betroffenen Menschen und ihren Lebenswelten werden wir damit wohl kaum gerecht. Allein der Gedanke an die kirchliche Ablehnung von Kondomen wirkt hier nur lächerlich und zynisch.
Eine andere Antwort hat vor ca. 38 Jahren Otto Oberforster auf St. Pauli gefunden. 1934 in Österreich geboren, in der Katholischen Arbeiterjugend groß geworden, kam er 1974, eine Arbeit als Maschinenschlosser bei der Schiffswerft Blohm&Voss beginnend, nach Hamburg. Auf seinem Arbeitsweg sah er morgens Frauen in bitterer Kälte auf der Straße stehen und teilte spontan seinen warmen Frühstückstee mit ihnen. Aus der einmaligen Praxis wurden für Otto Oberforster eine Lebensform und ein Ausdruck christlichen Engagements an den Orten legaler Straßenprostitution in ganz Hamburg.
Teestube Sarah – für viele Frauen eine willkommene Auszeit: Tee, Kakao, Kondome, Süßigkeiten und ein offenes Ohr.
Mit wachsender Unterstützer*innenzahl wurde 1980 die Teestube Sarah gegründet, deren Engagierte seither auf die Straßen gehen, Tee, Kakao, Süßigkeiten und Kondome verteilen, mit den Frauen sprechen und ein offenes Ohr haben – für viele Frauen eine willkommene Auszeit und Begegnungsmöglichkeit. Zentrale Bedeutung haben in dem Engagement die Kategorien Würde und Anerkennung durch Präsenz. Das gesellschaftlich konstruierte Bild von „der Prostituierten“ führt allzu oft zur Marginalisierung und Ausgrenzung. Anschaulich wird dies in zahlreichen verächtlichen Blicken, spöttischen Kommentaren und Machogehabe – Szenen, deren Zeuge man auf der belebten Hamburger Partymeile allzu oft wird.
Versuchte Begegnung auf Augenhöhe, in Wertschätzung und Anerkennung, muss sich aber auch vor Viktimisierung schützen. Bevormundung gegen den Willen des/r Betreffenden, selbst aus dem Anliegen, die Würde der Person zu schützen, untergräbt diese.[4] Als Engagierte*r der Teestube ist daher die Wirklichkeitsbeschreibung der Frauen zunächst ernst zu nehmen und eigene Zweifel am Grad der Freiwilligkeit auszuhalten.
Versuchte Begegnung auf Augenhöhe muss sich aber auch vor Viktimisierung schützen.
Das heißt zu lernen, mit offenen Fragen umzugehen. Das Warum von Prostitution ist so zahlreich und so individuell, dass alle Antwortversuche in der Gefahr stehen, Pauschalisierungen zu sein. Mit offenen Fragen umgehen zu lernen, heißt auch, sich selbst im eigenen Engagement anfragen zu lassen: Ist das wirkliche Hilfe? Nützt die angebotene kleine Auszeit? Und wenn ja, wem nutzt diese Unterbrechung eigentlich – den Prostituierten, den Zuhältern, den Freiern, mir selbst? Warum ist es nicht lächerlich, mit einem Rollwagen voller Tee und Naschies durch ein Gewerbe mit Millionenumsatz zu spazieren?
Fragen wie diese begleiten mich im Alltag und in der Vorbereitung abendlicher Rundgänge. Mit dem ersten Gespräch mit einer Frau erübrigen sie sich aber gleich wieder. Was zählt, das ist das Angebot unverzweckter Begegnung, das die Frauen mit Freude, Humor, Dankbarkeit und viel Vertrauen erwidern. Trotz all der guten Begegnungen heißt es auch, die Absurditäten, berichteten Leid- und Unheilerfahrungen mit auszuhalten.
Ein einziger Paragraph richtet sich explizit an Freier.
Und irgendwann treiben mich die Fragen zu dem oft weniger beachteten Gegenüber der in der Prostitution Tätigen: Im eingangs erwähnten Prostituiertenschutzgesetz richtet sich ein einziger Paragraph explizit an diesen Personenkreis und ist so kurz, dass er hier zitiert werden kann: „Kunden und Kundinnen von Prostituierten sowie Prostituierte haben dafür Sorge zu tragen, dass beim Geschlechtsverkehr Kondome verwendet werden.“[5]
Gendergerechte Sprache im Gesetzestext hin oder her – Inanspruchnahme sexueller Dienstleistungen ist ein fast ausschließlich männliches Phänomen. Und plötzlich richten sich die Fragen an mich als Mann, an gesellschaftliche wie kirchliche Männlichkeitsbilder und Frauenbilder, Konstruktionen einer männlichen Sexualität und eines männlichen Triebes, dem Sagbaren und auch Nicht-Sagbaren in Männergruppen, den Kulturen in manchen männerdominierten Büroräumen und Firmen. Eine Fragerichtung, in deren Bedeutung sich Rachel Moran und Ilan Stephani bei aller Unterschiedlichkeit der Perspektiven sicherlich einig wären.
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Adrian Gliele ist kath. Theologe und Promovend in Hamburg. Ehrenamtlich engagiert er sich in der Teestube Sarah: geht in den Abendstunden mit einem offenen Ohr, Kakao und Süßigkeiten auf die Straße.
Bild: pixabay / CC0
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[1] Rachel Moran: Was vom Menschen übrig bleibt. Die Wahrheit über Prostitution. Marburg 2015, S. 161.
[2] https://www.zeit.de/arbeit/2017-11/prostitution-arbeit-sexarbeit-gesellschaft
[3] Ilan Stephani: Lieb und teuer. Was ich im Puff über das Leben gelernt habe. Salzburg 2017, S. 242. Vgl auch https://lila-podcast.de/lila091-sexarbeit-und-sexueller-feminismus-mit-ilan-stephani/.
[4] Zu dieser Einschätzung kommt Percy MacLean, Richter des im Jahr 2000 beendeten Verfahrens um das Café Pssst! in Berlin, das als wegweisend für die Einführung des Prostitutionsgesetzes 2002 und die damit verbundene Entkriminalisierung der Prostitution galt. Vgl. Elisabeth von Drücker; Percy MacLean: Ein Gericht soll möglichst richtige Entscheidungen treffen. Ein Gespräch mit Percy MacLean. In: Elisabeth von Dücker; Museum der Arbeit, Hamburg: Sexarbeit. Prostitution – Lebenswelten und Mythen. Bremen 2005, S. 238–240, S. 240.
[5] § 32 Abs. 1 ProstSchG.
Ebenfalls bei feinschwarz.net erschienen: