Die Verbindung von politischen Debatten mit Fragen der Architektur betrachtet Wolfgang Beck aus Anlass einer Ausstellung zur Protestarchitektur im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main.
Schon der Begriff „Protestarchitektur“ lässt aufhorchen. Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt widmet damit seine Aufmerksamkeit einem markanten Phänomen gesellschaftlicher Debatten. Wenn Menschen mit ihren Protesten dauerhaft zusammenbleiben und zu einer 24-Stunden-Präsenz an einem öffentlichen Ort übergehen, erhöht das nicht nur die Aufmerksamkeit für ihre Anliegen. Es verhindert, dass Protestbewegungen aufgeteilt und damit in ihrer Dynamik geschwächt werden können. Das temporäre Zusammenbleiben verhindert zudem, dass andere Akteur:innen Fakten schaffen können. Deshalb ist es gerade auch im Umfeld von Diktaturen eine Machtprobe.
Anarchisches Bauen
Politische Proteste können neben den in demokratischen Gesellschaften fest etablierten Demonstrationen verschiedene weitere Formen annehmen. Doch während klassische Varianten des politischen Protestes, wie Flugblätter, längst digitalen Formaten gewichen sind, gewinnt das kreative und in gewisser Hinsicht anarchische Bauen im 21. Jahrhundert an Bedeutung. Ein Teil seiner Faszination mag darin begründet sein, dass diese Protestform bislang nicht in das behördliche Reglement angemeldeter Demonstrationszüge eingefügt ist. Schon in den Revolutionsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts spielt der Bau von Barrikaden in den Straßen der Städte eine zentrale Rolle. Mit ihnen wird in den öffentlichen Raum eingegriffen und eine Gestalt der politischen Auseinandersetzung gesucht, die auf größere Dauer angelegt ist.
Spontanes Zelten
und anspruchsvolle Ingenieurleistungen
Wenn Menschen auf zentralen Plätzen mit Zelten campieren, wie in den Protestbewegungen gegen das Südafrikanische Apartheidsregime in den 1990er Jahren, auf dem Maidan in Kiew oder im Gezi-Park in Istanbul, folgt dies in der Regel dem spontanen Bemühen um stärkere Verbundenheit einer Gruppe und ihrer dauerhaften Präsenz im öffentlichen Raum. Diese dauerhafte Sichtbarkeit einer Protestform ist zugleich mit einem besonders großen persönlichen Engagement verbunden und betont die Dringlichkeit der Anliegen. Meist bilden sich in den Camps ausdifferenzierte Organisationsstrukturen zur Versorgung der Teilnehmenden.
An ihnen lassen sich städtebauliche Prozesse und die Entwicklung sozialer Bewegungen studieren. Die jüngeren Beispiele von Baumhäusern in Frankfurt-Fechenheim oder von ganzen Baumhaus-Siedlungen beim Kampf gegen den Braunkohletagebau in der Region Aachen und den Schutz des Hambacher Forstes bei dem kleinen Ort Lützerath zeigen, dass Protestarchitektur mit anspruchsvollen Ingenieurleistungen verbunden sein kann. Erste bundesrepublikanische Höhepunkte dieses Teils demokratischer Kultur bildeten sich in den Wendlandprotesten gegen das Atommülllager von Gorleben („Freie Republik Wendland“) oder im Protest um die Aufbereitungsanlage von Atommüll im Bayerischen Wackersdorf.
An überraschenden Orten diskutieren.
Die Frankfurter Ausstellung des Architekturmuseums zeigt mit einem Aufgreifen dieser Bewegungen, dass Architekturen und Gesellschaftsdebatten nicht getrennt voneinander zu bedenken, sondern in dem komplexen Geflecht einer Dynamik öffentlicher Debatten ineinander verwoben sind. Gerade in den Debatten um die Klimakrise wird sichtbar, dass private Lebensvollzüge gesellschaftliche Fragen berühren. Die zentralen Gesellschaftsfragen sind deshalb nicht nur parlamentarisch, medial und journalistisch, sondern in unerwarteten Formen und an überraschenden Orten zu diskutieren. Da ist es naheliegend, mit einem Architekturmuseum frühere und gegenwärtige Protestbewegungen in ihren Strukturen zu analysieren und damit auch zu würdigen.
Jenseits der Ästhetiken suburbaner Neubaugebiete
Das Deutsche Architekturmuseum, das wegen Umbau- und Renovierungsarbeiten derzeit in einer Übergangsadresse untergebracht ist, nutzt dieses Provisorium als Chance: Wohl nie war das Museum so nah an den drängenden, aktuellen Gesellschaftsfragen wie in dieser Ausstellung. Das ist gerade deshalb erfreulich, weil die Gegenwartsarchitektur in Deutschland zur Zeit vor allem durch starke Vereinheitlichung geprägt ist und architektonische Kreativität auf wenige, herausgehobene Projekte begrenzt scheint. Mit dem Blick auf die Protestarchitektur rücken Dynamiken des Wohnens und Lebens in den Fokus, die ungewohnt sind und nicht den Ästhetiken suburbaner Neubaugebiete entsprechen. Sie sind auch eine Anfrage an eine architektonische Praxis, die ihre Standards an den Interessen finanzstarker Milieus ausrichtet und aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen allenfalls auf die Frage nach energiesparenden Bautechniken beschränkt.
Eine architektonische Mitverantwortung für Gegenwartsfragen.
Der aktuelle Wohnraummangel scheint flankiert von einer Architektur, die sich in gesellschaftlichen Gegenwartsfragen als nicht zuständig empfindet. Kreative Architekturen und Stadtplanungen des 21. Jahrhunderts werden in der Suche nach gesellschaftlicher Partizipation und der Integration von Menschen unterschiedlicher Wirtschaftskraft und Milieuprägung nach Wegen zu suchen haben, Prozesse der Separation aufzuhalten. In ihnen zeigt sich, dass das Wohnen in vielen Städten für untere Einkommensgruppen zunehmend unbezahlbar wird, der Traum vom selbst erarbeiteten Wohneigentum illusorisch ist und neue Stadtteile den Charme reiner Spekulationsobjekte an sich tragen (vgl. das Frankfurter Europaviertel).
Die Botschaft der Protestarchitekturen ist freilich nicht, dass hier ein Zukunftsmuster für das Wohnen breiter Gesellschaftsschichten abgebildet wird. Durchaus wird aber erkennbar, dass die konkrete Ausgestaltung des Wohnens und die Formen des Zusammenlebens mit gesellschaftlichen Zukunftsfragen – eigentlich – eng verbunden sind. Könnte es sein, dass die Verantwortlichen der Gegenwartsarchitektur derzeit wenig Bewusstsein für eine gesellschaftliche Mitverantwortung erkennen lassen? Dagegen könnte die Würdigung der Protestarchitektur als hilfreicher Impuls wirken. Denn in ihr finden akute Gegenwartsfragen mit Formen des Gemeinschaftslebens zusammen. Sie ist Bestandteil kreativer und immer wieder auch harter Auseinandersetzungen.
Kirchturm als Protestarchitektur?
An dieser Stelle sei mit einem Seitenblick auf eine prägnante Leerstelle der Protestarchitektur verwiesen: religiöse oder gar kirchliche Elemente scheinen in ihr nicht vorzukommen, obwohl zumindest die Anti-Atomkraft-Bewegung von kirchlichen Gruppierungen mitgestaltet wurde und sogar eigene Gebetsformen hervorgebracht hat. Vielleicht wäre diese Leerstelle im Rahmen „gemeinwohlorientierter Pastoral“[i] als Anregung dafür wahrzunehmen, Kirchengebäude und Sakralräume in einer politisch-theologischen Lesart zu würdigen. Ihre Nutzung im Rahmen des Kirchenasyls steht etwa für eine Tradition ganz eigener Art von Protestarchitektur. Hier ließe sich eine politisch-theologische „Sakralraumtransformation“[ii] entwickeln, die eine bloß binnenkirchliche Bestimmung von Kirchen als Liturgie- und Erinnerungsorte übersteigt und eine Ausrichtung auf den öffentlichen Raum säkularer Gesellschaften[iii] ermöglicht.
Das unterschätzte
Protestmobiliar:
Der Strohsack
Ein kleines Detail der Protest-Kultur sei besonders hervorgehoben: Es ist der Gemüse- bzw. Strohsack, der in unwegbarem Gelände als Sitzgelegenheit von Protestierenden verwendet wird. Strohsäcke lassen sich als „Protestmobiliar“ begreifen. Und für Menschen, die mit politischen Protesten weniger vertraut sind, hält der Strohsack in der Frankfurter Ausstellung einen Erkenntnisgewinn bereit: Er eignet sich in den harten Auseinandersetzungen mit Polizeikräften auch dafür, als Schutz verwendet zu werden. Er vermag den Einsatz von Schlagstöcken abzuschwächen. Deshalb wurde er im Rahmen von Demonstrationen verboten. Der Strohsack gilt daher als „passive Bewaffnung“! Wer bislang das Gefährdungspotenzial solcher „Waffen“ aus Stroh unterschätzt hat, erfährt hier, dass nicht erst im Sitzstreik das Sitzen politisch ist.
___
Die Ausstellung „Protest/Architektur“ wird im Deutschen Architekturmuseum (DAM) in Frankfurt am Main bis zum 14. Januar 2024 gezeigt. Vom 14. Februar bis zum 25. August 2024 wird sie anschließend im Museum für Angewandte Kunst in Wien gezeigt.
Wolfgang Beck ist Professor für Pastoraltheologie und Homiletik an der PTH Sankt Georgen, Frankfurt/M. und Redaktionsmitglied von feinschwarz.net.
Foto: PTH Sankt Georgen
[i] Beck, Wolfgang, Gemeinwohlorientierte Pastoral. Projekt einer radikalen Entgrenzung als christliche Selbstfindung, in: Bucher, Rainer / Krockauer, Rainer / Pock, Johann (Hg.), Theologie als Werkstatt. Offene Baustellen einer praktischen Theologie, Wien 2023, 141-152, 147.
[ii] Gerhards, Albert, Die Zukunft der Kirchengebäude. Zu einem Forschungsprojekt „Sakralraumtransformation“, in: Liturgisches Jahrbuch 72 (2022), 3-16, 12.
[iii] Vgl. Gigl, Maximilian, Sakralbauten. Bedeutung und Funktion in säkularer Gesellschaft, Freiburg i.B. 2020, 239.
Titelfoto: Straßenpflaster vor der Ausstellung „Protestarchitektur“ / W. Beck